Initiiert von der Universität Konstanz gab es eine ungewöhnliche Veranstaltung, in der Studierende aus mehreren Ländern über den Flamenco den Möglichkeiten von Migration nachspürten.
Vom 17. bis 19. Oktober hat die Universität als letzte Veranstaltung ihrer Mitgliedschaft im europäischen Hochschulverbund ERUA und erste im neuen Verbund EUniWell ein ungewöhnliches Experiment gestartet: Studierende aus Paris, Sofia und Konstanz arbeiteten mit der Kultursoziologin Dr. Silvana Karina Figueroa-Dreher und der Flamencotänzerin Christiane ‚La Mona‘ Seitter zusammen und versuchten, in körperlicher Erfahrung und Gespräch dem Reichtum und Bereichernden von Wanderbewegungen und Vermischungen aller Art auf die Spur zu kommen.
„[D]as, was wir als das typisch Eigene betrachten, [ist] aus unzähligen, über Jahrhunderte hinweg vollzogenen Vermischungen mit dem so genannten Fremden entstanden […]. Wenn wir unser Zeitverständnis nur etwas ausdehnen, verwischt sich der Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden.“ (Ilja Trojanow)
Bei den letzten Landtagswahlen, es ist eine Binse, an die aber nicht häufig genug erinnert werden kann, meinten signifikante Zahlen der Wählenden einer Partei, deren Markenkern Fremdenfeindlichkeit ist, ihre Stimme geben zu müssen. Eine weitere Binse ist, dass diese Tendenz aufgeht in einer weltweiten Entwicklung zu weniger Weltoffenheit und mehr Nationalismus.
Universitäten sollten demgegenüber dem freien Austausch von Ideen und Menschen das Wort reden. Sie sollten Orte sein und bleiben, an denen – das ist der ideale, vielleicht utopische Kern von universitas – der zwanglose Zwang des besseren Arguments (Habermas) die zentrale Form des Miteinanders darstellt. Es ist egal, wer Du bist, woher Du kommst und welchen Sportverein Du unterstützt: hier zählt einzig und allein Deine Fähigkeit, Dich Deiner Vernunft im Austausch mit anderen zu bedienen.
Wir sind leibliche Wesen
Die Pointe all dieser Binsen ohne Weisheit ist nun eine doppelte: es geht mitnichten darum, andere von den eigenen Positionen zu überzeugen, sondern gemeinsam in einem Hin- und Herlaufen von Rede und Gegenrede immer bessere, immer mehr Menschen qua Vernünftigkeit überzeugende Positionen zu gewinnen. Mithin: sich auch überzeugen zu lassen.
Nun verfügt freilich diese oft und auch hier beschworene ‚Vernunft‘ selbst über einen nicht-vernunftgesteuerten Anteil: ihre Träger:innen, also die vernunftbegabten Menschen, sind leibliche Wesen, und sie sind emotionale Wesen. Daraus folgt aber nicht, wie Robert Musil festhielt, dass wir mehr Emotion in der Vernunft brauchten – oder mehr Körper -, sondern mehr Vernunft in der Emotion. Damit ist gemeint, dass wir die Mitsteuerung unserer Argumente durch unsere emotionale Gestimmtheit und körperliche Verfasstheit immer mitreflektieren müssen und das, Vorsicht! Noch eine Volte!, nicht nur kognitiv, sondern ebenso emotional wie körperlich. Jedes unserer Argumente ist geprägt durch unser ganzes kognitiv-psychisches-leibliches System, aus dem man keine Komponente herauslösen kann. Es gibt keine körperlose Vernunft, keinen unvernünftigen Körper und keine gefühllose Zone zwischen beiden.
Es wäre also dringend an der Zeit, Lern- und Lehrformate zu finden, die dieser Erkenntnis Raum geben. Das fängt bei der Wahrnehmung eigener Spannungen an – wie gestresst bin ich eigentlich gerade? -, geht über die Integration von Pausen, die reflektierte Wahrnehmung der Gruppensituation über veränderte Raumordnungen bis hin zu einer stärkeren Integration anderer Sinneskanäle als Auge und Ohr sowie anderer Bewegungsmuster als dem 90-minütigen Sitzen [in einer universitären Lehrveranstaltung].
Migration als Bereicherung
Genau hier setzt das Seminar „Dancing Democracy. Migration als Co-Kreation“ an. Eingeladen waren Studierende zweier europäischer Hochschulverbünde und zwei Lehrende mit ganz unterschiedlichen Expertisen: die Soziologin und selbständige Kulturwissenschaftlerin Dr. Silvana Karina Figueroa-Dreher und die Flamencotänzerin Christiane ‚La Mona‘ Seitter. Körperliche und geistige Beweglichkeit sollten in einen unmittelbaren Austausch kommen, von- und miteinander profitieren, sich vielleicht auch ins Wort fallen, einander in bewegter Rede überbieten, um gemeinsam in Resonanz zu kommen.
Ziel war jedoch nicht nur, ein neues Lern-Lehr-Szenario auszutesten, sondern ein Konzept zu finden, das den Inhalt des Workshops – die mit Migration einhergehenden Formen von Vermischung als Bereicherung zu verstehen – bestmöglich unterstützt. Und in dieser Form genau dem gesellschaftlichen Auftrag gerecht zu werden, den Universitäten als Orte freien Austauschs haben.
Immer wenn Menschen sich auf den Weg machen – und das tun sie, seit es sie gibt –, kommt es zu Begegnungen, Berührungen mit dem, was sie nicht kennen und denjenigen, die sie nicht kennen. In diesen Kontaktzonen nisten Neugier und Angst gleichermaßen: sie sind, ganz ohne Wertung, Orte der sozialen und darüber hinaus gesamtsystemischen (etwa ökologischen) Spannung. Es ist ebenso großartig, ungewohnte Speisen zu genießen und neue Geschichten zu hören wie es angsteinflößend ist, nachts in einem schlecht beleumundeten wie beleuchteten Stadtviertel einer Gruppe schwer Alkoholisierter zu begegnen. Beides kommt vor.
Eine Krise kann entstehen, wenn Menschen fürchten, begrenzte Ressourcen mit anderen teilen zu müssen. Das ist allerdings nicht notwendigerweise so, wie jede und jeder bestätigen kann, der in Ländern weitab unserer industrialisierten Wohlstandsgesellschaften unterwegs war, wo klar ist, dass Überleben Teilen bedeutet.
… der stinkt, die schwitzt, der ist zu laut …
Vielleicht ist für die Entstehung der Krise deshalb zusätzlich ein empfundenes soziales Gefälle notwendig: man begreift sich nicht als gleichermaßen bedürftig, sondern in seinem Besitz gefährdet durch die Nöte anderer. Und so kann Fremdenhass entstehen. Skepsis gegenüber allem und jedem, mit dem man nicht vertraut ist. Und dieses Unvertraute artikuliert sich zunächst ganz körperlich und sensorisch als Ablehnung von Nähe: der stinkt, die schwitzt, der ist zu laut, die ist zu aufdringlich.
Es ginge also darum, Zuwandernden nicht als Konkurrenten um immer kleiner werdende Suppentöpfe zu begegnen, sondern ihrer Kreativität, Energie und ihrem Wissen Raum zur Entfaltung zu geben, um auf diese Weise vielleicht größere Suppentöpfe für alle zu schaffen. Vielleicht sogar zu begreifen: dass wir, wie alles andere, was da lebt, einfach nur Teil einer einzigen Suppe namens Erde oder gar Universum sind. Töpfe erübrigen sich dann ganz. Das gelingt, wenn man Vermischung nicht nur zulässt, sondern begrüßt und umarmt, sie feiert als der Weg aus jenem dumpfen Versinken im Immergleichen des ewig vertraut Geglaubten, an das man sich nur deshalb klammert, weil jenseits seiner Grenzen nur noch das Nichts zu drohen scheint und nicht etwa neue Erfahrungen zu entdecken sind. In der Küche weiß man ohnehin, dass ohne Mischungen gar nichts entsteht. In dem, was man mit dem Kampfbegriff ‚Kultur‘ belegt, steht es grad nicht gut um Verbindendes und Anschlussfähiges – die Grenze ist rechts wie links die dominierende architektonische Figur und Figuration der Gegenwart.
„Es war ganz ungewohnt,“ beschrieb eine Teilnehmerin des Workshops dessen Anfang, „dass wir sofort anfingen zu tanzen, ohne uns überhaupt vorzustellen.“ Daraufhin befragt lacht Christiane Seitter, die in Flamencokreisen den Namen „La Mona“ trägt: „Das habe ich schon als ganz junge Tanzlehrerin gelernt, dass man unmittelbar mit der Bewegung anfangen muss.“ Die Teilnehmerin stimmt zu: „Das Tolle daran ist, dass man so gar nichts weiß und sich einfach instinktiv auf das verlässt, was man körperlich spürt. Kommt die mir zu nah? Oder ist sie zu weit weg? Bin ich am Rand oder im Zentrum? Und fühle ich mich da wohl, wo ich bin? Man lässt sich nicht von seinen Gedanken und Vorurteilen leiten.“
… durch die Begriffsarbeit hindurch zu klareren Gestalten …
Tastend kommt die Sprache nach, Begriffe geben den Bewegungen Halt und Raum, machen sie klarer, als sie vielleicht gemeint sind, aber deshalb auch denk- und verhandelbar. Texte, die von Silvana Karina Figueroa-Dreher im Vorfeld und auch zur Nachbereitung und Vertiefung sorgsam zusammengestellt wurden, öffnen sich mittels dieser körperlich erahnten Begriffe. Es entsteht eine Bewegung des Körpers, die sich in der Sprache fortsetzt und Formen in gefügter Forschungsliteratur findet. Umgekehrt findet aber auch die Bewegung durch die Begriffsarbeit hindurch zu klareren Gestalten: es wird schließlich Flamenco getanzt. Dabei betont La Mona, dass sie nicht den Bühnenflamenco zur Grundlage der Arbeit mit den Studierenden genommen hat, sondern die ursprüngliche Form des Kreistanzes, bei der alle mitmachen können und sollen und die eine extrem hohe Fehlertoleranz hat: es geht nicht um tänzerische Perfektion, sondern um die Freude an der Intensität des Zusammenseins.
Aber irgendwann geht’s dann doch einmal um Flamencotanz in hoher Vollendung. Während der erste Seminartag an der Universität stattfindet, ist der zweite und dritte Tag in der Kulturetage in der Stadt. Ein wunderbarer Ort, mittendrin und doch randständig, geführt von Barbara und Peter Evers – ein, wie es auf der Website heißt, „inspirierender Raum, der für einen fairen Preis stundenweise angemietet werden kann“, und dem kann man nur aus ganzem Herzen zustimmen. Konstanz verfügt nur über wenige öffentlich zugängliche Räume, deren Ziel nicht in der Maximierung von Gewinn besteht.
Abends finden sich neben den Workshopteilnehmenden auch noch die Organisatorinnen und Organisatoren sowie zwei professionelle Flamencomusiker – der Gitarrist Frank Ihle und der Sänger David Morán – ein. Es gibt leckere Tapas und Wein vom Bodensee. Im Kreis klatschen die Studentinnen gemeinsam und führen kleine Tanzeinlagen auf. Die bulgarischen Teilnehmerinnen üben mit allen Anwesenden noch einen Reihentanz ihrer Heimat ein und eine koreanische Studentin zeigt einen Tanz aus Korea.
Dann aber kündigt La Mona, inzwischen in leuchtend rotem Flamencokleid und Blume im Haar, eine kleine Reise durch den andalusischen Flamenco an. Tänzerische und musikalische Perfektion werden mit großer Lust an Rhythmen, Bewegung und schierer Lebensfreude, ja, Lebensgier, auf die harten alten Eichenbohlen der Kulturetage gebracht. Das Publikum ist begeistert.
Am nächsten Tag zeigt sich in einer Abschlussrunde, was dieser Workshop bei den Teilnehmerinnen ausgelöst hat. Der Ungewöhnlichkeit des Vorhabens wurde einhellig Erfolg bescheinigt und der Wunsch nach Wiederholung artikuliert. Worte wie „empowerment“ fielen. Der begriffliche Rahmen öffnete sich noch einmal sehr weit: das selbst Erlebte wurde ganz unproblematisch angebunden an die großen Fragen des Migrationsdiskurses und die Meinung war, vielleicht in dieser Runde nicht ganz überraschend, einhellig: wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Mut zur Begegnung mit dem und den Fremden. Auch mit uns selbst als Fremden.
Text & Bilder: Albert Kümmel-Schnur
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