Vor achtzig Jahren ermordete die SS im oberitalienischen Dorf Sant’Anna di Stazzema 560 Menschen. Ein studentisches Ausstellungsprojekt unter dem Titel „ÜberLeben erzählen“ geht der Erinnerungskultur vor Ort nach. Vom 20.11. bis 5.12. ist diese Ausstellung im Stadtpalais in Stuttgart zu sehen.
„Und das liegt hier noch rum.“ Mit diesen Worten, so erzählt es Petra Quintini, habe man im Jahr 2002 dem jungen italienischen Militärstaatsanwalt Marco De Paolis einen Stapel Dokumente übergeben. „Ihm wurde dann klar, dass da eine sehr, sehr große Aufgabe auf ihn zukommt, die von anderen zur Seite gelegt worden war.“ Bei der Aufgabe handelte es sich um die Aufarbeitung des Massakers, das die SS am 12. August 1944 im toskanischen Dorf Sant’Anna di Stazzema verübte. 560 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden auf extrem brutale Art umgebracht: zusammengetrieben, misshandelt, erschossen, lebendig verbrannt. Man muss das so deutlich sagen, um den Schock zu verstehen, den die Entscheidung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2012 nicht nur bei Überlebenden ausgelöst hat, das deutsche Verfahren wegen angeblich „fehlender Heimtücke“ und deshalb bereits verjährten „Totschlags“ einzustellen.
De Paolis recherchiert und erhebt konsequent in drei Prozessen zwischen 2002 und 2005 Anklage und hat damit, so zitiert ihn Petra Quintini, „nur seine Arbeit getan“ – eine Form alltäglichen Heroentums, die man der deutschen Justiz auch gewünscht hätte.
Sehr späte Gerechtigkeit
Für die Überlebenden waren diese Prozesse extrem wichtig. Nicht aus Rache, so erläutert es einer von ihnen im Dokumentarfilm „Das zweite Trauma“ von Jürgen Weber aus dem Jahr 2016, sondern „um der Gerechtigkeit willen“. Gerechtigkeit – das bedeutet wohl an dieser Stelle, gesehen zu werden mit ihrer Geschichte, ihrem Leid, ihrer Trauer, mit all dem ungelebten, unlebbaren Leben.
Petra Quintini hat Sant’Anna di Stazzema zum ersten Mal im Oktober 2012 gemeinsam mit dem Journalisten und Filmemacher Jürgen Weber besucht. Bewegt berichtet sie, wie sie voller Scham, die Nachricht vom gerade in Stuttgart „mit einem hanebüchenen Grund“ eingestellten Verfahren im Rücken, nach Sant’Anna kamen, im Kopf die Sorge, hier als Deutsche völlig fehl am Platz zu sein. „Die Überlebenden haben gesehen, dass wir kommen und haben uns als erstes umarmt und gesagt ‚Danke, dass ihr gekommen seid.‘ Da wurde uns klar, dass es unsere Aufgabe war, junge Menschen aus Deutschland dort hinzubringen. Deswegen bin ich so glücklich, dass wir es seit 2017 schaffen, jedes Jahr ein Friedenscamp für deutsche und italienische Jugendliche in Sant’Anna zu organisieren. Deswegen dachte ich auch, es sei eine gute Idee, ein Projekt mit Studierenden der Universität Konstanz anzustoßen.“
Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Sarah Seidel und Ethnologin Dr. Maria Lidola nahmen die Anregung auf und führten im Sommersemester 2024 zwei aufeinander bezogene Seminare durch. Das literaturwissenschaftliche Seminar trug den Titel „Erinnern und Gedenken. Das Unbeschreibliche erzählen“, das ethnologische „Narrative Ethnographie“. Sie trafen auf großes Interesse: insgesamt 39 Studierende nahmen an den Seminaren teil. 26 von ihnen fuhren vom 10. bis 17. Mai nach Sant’Anna di Stazzema, um mit Überlebenden, ihren Angehörigen und Menschen, die sich vor Ort für die Erinnerungsarbeit engagieren, zu sprechen und Erinnerungsorte zu besuchen.
Nicht abstumpfen
„Erinnerungsprojekte sind einfach wichtig angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen. Man kann ihren Wert gar nicht hoch genug einschätzen“, sagt Sarah Seidel. Maria Lidola ergänzt: „Es war eine einmalige Chance, mit Überlebenden von Gräulentaten des Zweiten Weltkriegs zu sprechen.“ Seidel erläutert: „Die Erzählung einzelner Schicksale ist wichtig, um nicht abzustumpfen angesichts der gegenwärtigen Häufung medialer Berichte von Massakern und Tötungen. Das einzelne Schicksal macht diese Berichte erst emotional erfassbar. Man gibt den Zahlen dadurch eine Geschichte. Deswegen ist es nicht nur wichtig, dass wir mit den Studierenden darüber sprechen, sondern das, was uns erzählt wurde, auch einem größeren Publikum zur Verfügung stellen.“
Von vornherein zielten die Seminare deshalb darauf ab, ihre Ergebnisse in Form einer Ausstellung öffentlich verfügbar zu machen. Es geht darum, sich berühren zu lassen und diese Berührung weiterzugeben. „Die Wirkmächtigkeit und die Wirklichkeit solcher Erfahrungen zu erfahren, war entscheidend. Also nicht nur mit einem distanziert-kritischen Blick, wie er im wissenschaftlichen Umgang mit Erzählungen üblich ist, diesen Erfahrungen zu begegnen, sondern in ihrer ganz konkret lebensgeschichtlichen Bedeutung. Und das geht nur im direkten Gespräch“, betont Maria Lidola. „In der Literaturwissenschaft ist man den Umgang mit mündlich Berichtetem gar nicht gewohnt. Wir arbeiten ja mit Texten“, erläutert Sarah Seidel die Herausforderung, die sich Studierenden der Literaturwissenschaft in diesem Projekt stellte. Für Ethnolog*innen ist das Gespräch wiederum primäres Handwerkszeug. Sie bewegen sich unter Menschen in einem Raum, den sie ihr ‚Feld‘ nennen. Dort geht es gerade darum, die Daten, die sie untersuchen wollen, das Material, das sie benötigen, in teilnehmender Beobachtung und vielen Gesprächen, oft unterstützt durch Audio- und Videoaufnahmen, zusammenzutragen. Die Wissenschaften, die ja beide das Erzählen zu ihrem Kernbestand rechnen, ergänzen sich deshalb methodisch sehr gut, denn es ging ja darum schriftliche und mündliche Quellen auszuwerten.
In der Arbeit an der Erinnerung ist die Sprache jedoch nicht der einzige Kanal. Worüber man nicht reden kann (oder möchte), das zeigt sich – in emotionaler Bewegtheit, in Mimik und Gesten, an den Orten des Geschehens und der Art, sich an ihnen zu bewegen. An der Landschaft, in die dieses Orte eingebettet sind. Kamera und Mikrofon gehören deshalb zu den Begleitern der Studierenden und ihrer Dozentinnen. Der Kameramann Mark Dölling und die Schauspielerin und Sprecherzieherin Julia Katterfeld unterstützen mit ihren Expertisen das Projekt. In der Ausstellung ist der Film das dominante Medium. Bilder sagen, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, nicht mehr als Worte, aber sie können anderes und auch anders zeigen – im Video durch perspektivierende Einstellungen und vor allem den Schnitt, der scheinbar oder tatsächlich Unzusammenhängendes in die Logik einer Sequenz bringt und so aufeinander bezieht.
Unübliches Lernen
„Die Verarbeitung der Inhalte geschah individuell sehr unterschiedlich. Wir konnten beobachten, wie sich Beziehungen, ja, fast Patenschaften zwischen Überlebenden und Studierenden bildeten. Die Seminarteilnehmer:innen waren ja nicht nur für ein Thema, sondern für konkrete Personen zuständig und haben da auch teils enge Bindungen entwickelt.“ „In den Arbeitsgruppen gab es ja auch unterschiedliche Kompetenzen und somit unterschiedliche Formen des Auseinandersetzung. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die für Videoschnitt zuständig waren, sich später, wenn sie wieder Videos schneiden, erinnern werden, mit wem sie da gesprochen haben, für wen sie das gemacht haben. Das ist ein Lernen, wie es sonst weder an der Schule noch an der Universität üblich ist.“
„Wir setzen uns ja sonst sehr distanziert mit geschichtlichen Ereignissen auseinander. Die personalisierte Ebene hingegen macht Geschichte greifbar und nah. Das unmittelbare Erleben ist entscheidend.“ „Wir konnten ja im Mai nur einen Teil der Gruppe mitnehmen. Die anderen haben in Konstanz mit dem Material gearbeitet. Und als sie dann im August nach Sant’Anna kamen, um die Ausstellung aufzubauen, da konnte man zusehen, wie es denen wie Schuppen von den Augen fällt. Das war wie ein fehlendes Puzzleteil, das plötzlich ein Bild entstehen ließ.“ Sarah Seidel betont, wie wichtig es für alle, die sich mit Geschichte beschäftigen, ist, sich direkt an die Orte des Geschehens zu begeben. „Jede Lerninstitution sollte sich bemühen, so einen Rahmen zu bieten.“ Maria Lidola nickt vehement: „Gerade wo wir in gesellschaftliche Bereiche gehen, die es mit Weitergeben von Geschichten, von Lehren, von Anleiten zu tun haben, müssen Lernende erfahren, welchen Unterschied es macht, sich mit Menschen, die aus ihrer Lebensgeschichte erzählen, auseinandersetzen.“ „Sie erfahren dann – von der Theorie herkommend: das ist Wirklichkeit. Das ist mir passiert, das ist mir ganz real passiert. Das ist keine Geschichte, die nur in einem Buch steht.“
Menschen, die aus ihrer Lebensgeschichte erzählen
Wir sitzen in meinem schmalen, etwas chaotischen Büro an der Universität. Die Sonne will nicht recht herauskommen. Jede Atmosphäre zunichtemachendes Neonlicht beleuchtet den runden Tisch, an dem wir sitzen. Für eine Tasse Kaffee war keine Zeit, der Arbeitsalltag drängt. Kurz vor Ende des Gesprächs möchten die beiden Dozentinnen noch eine Geschichte erzählen, eine kleine Episode aus dem Projekt, die seinen emotionalen, moralischen und didaktischen Wert hell erstrahlen lässt:
„Zwei Stunden vor Eröffnung der Ausstellung, wir waren noch mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt, da kam ganz unverhofft eine der Überlebenden vorbei. Am Tag zuvor wollte sie eigentlich gar nicht kommen. Und nun stand sie da mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter. Wir ließen alles fallen und haben dann diesen Moment mit ihr gehabt, mit ihr das Video geschaut, das sie mit ihrer Schwester am Ort des Geschehens zeigt. Sie hatte eine Träne im Auge und sah dann, dass sie auch auf anderen Monitoren im Raum auftaucht. Das nahm sie mit Witz ‚Ach, da bin ich ja auch. Das habt Ihr auch gefilmt.‘ Sie hat uns ganz stark die Hände gedrückt. „In dem Moment verdichtete sich das Gefühl ‚ … so wichtig, dass wir das gemacht haben.‘“
Die Ausstellung „ÜberLeben erzählen“ wird am 20. November um 18:30 Uhr im Stadtpalais in Stuttgart eröffnet. Sie ist dort bis zum 5. Dezember zu sehen.
Öffnungszeiten: Di bis So 10–18 Uhr, Fr bis 21 Uhr, Eintritt frei.
StadtPalais. Museum für Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 2, D-70173 Stuttgart, Besucherservice: 0711/216 258 00.
Weitere Informationen über das Projekt finden Sie auf der Projektwebsite. Eine detaillierte Chronik der Ereignisse lesen Sie hier.
Text und Bilder: Albert Kümmel-Schnur
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