Die reformierte Kirchgemeinde Kurzrickenbach lebt eine Utopie: Raum zu geben für alle. Wirklich alle. Seit 10 Jahren ist das Open Place ein Ort der Gemeinschaft. Ein studentisches Architekturprojekt der HTWG unter Leitung von Prof. Myriam Gautschi hat Ideen entwickelt, diesen Raum auch architektonisch neu zu definieren.
„Du musst immer wieder sagen: Das ist nur provisorisch.“ Mit einem verschmitzten Lächeln fasst Christoph Sigrist, Pfarrer am Großmünster Zürich, seine Erfahrungen im Umgang mit kirchlicher Bürokratie und Obrigkeit zusammen. Was „nur provisorisch“ ist, macht weniger Angst als dauerhafte Veränderung. Ein befreites Lächeln huscht über das Gesicht von Damian Brot, Pfarrer der reformierten Kirchgemeinde Kurzrickenbach. Und alle, die da herumstehen, lachen mit: die Studierenden der HTWG und ihre Professorin, Myriam Gautschi, die Mitarbeiter:innen des Open Place in Kurzrickenbach.
Sie stehen gemeinsam im Großmünster Zürich, versammelt um ein Taufbecken. Es ist Januar. Die Gruppe ist aus Konstanz und Kreuzlingen angereist. Das Treffen ist Teil eines Seminars in der Architektur der HTWG Konstanz. Ziel des Seminars ist es, den Raum der Kirche in Kurzrickenbach an die neuen Nutzungsformen jenseits von Gebet und Gottesdiensten umzuformen. Dauerhaft. „Ach, wir lagern die Kirchenbänke erstmal nur ein“, sagt Damian Brot. „Provisorisch“, ergänzt Myriam Gautschi lachend.
Unter der Orgelempore stapeln sich Bänke
2022 habe ich Damian Brot und das Open Place in Kurzrickenbach kennengelernt. Eine Fotoausstellung lockte mich. In der Kirche standen Stellwände, an die Fotos geheftet waren, daneben Post-its mit Worten und Satzbruchstücken. Im Hintergrund gurgelte eine Kaffeemaschine, eine alte Dame füllt mir Kuchen auf einen Teller. Verwundert blicke ich mich um. Verstreut im Raum stehen Tische. Menschen sitzen dort, trinken Kaffee und Tee, plaudern bei Gebäck. Irgendwo unter der Orgelbühne stapeln sich Bänke.
Was ist hier los?
Ein kleiner Mann in Pullover und Jackett mit dichtem grauen Haar wird mir als Pfarrer Damian Brot vorgestellt. Schnell sind wir im Gespräch und beim ‚Du’. Damian Brot stellt mir seine Vision und ihre Geschichte vor.
Als er, vor mittlerweile über 10 Jahren, nach Kurzrickenbach kam, traf er auf eine ganz normale reformierte Gemeinde, ruhig, gesittet, vielleicht ein wenig dröge. Der neue Pfarrer eröffnete ein Café für Leute, die normalerweise nicht ins Café gehen, weil sie entweder kein Geld haben oder sich dort nicht wohlfühlen. Obdachlose, Süchtige, Asylant:innen, psychisch Kranke, Langzeitarbeitslose. Und alle anderen auch. Das Café erhielt einen Namen, der bis heute Programm ist: Open Place. Keiner wird hier therapiert oder sozialarbeiterisch betreut. Einmal normal sein – was immer das sein mag –, einfach nur Kaffeehausbesucher:in und kein Betreuungsfall: DAS ist hier die Utopie.
Einmal normal sein
Das Open Place entwickelte sich schnell. Ein Food-Waste-Projekt in Kreuzlingen suchte nach einer Möglichkeit, die geretteten Lebensmittel an Bedürftige und Interessierte weiterzugeben. Es wurde im Open Place fündig. Inzwischen wird das Essen – 100 Kisten pro Tag – nicht nur verteilt, sondern mittwochs wird auch in einer extra zu diesem Zweck eingerichteten Küche gekocht. Alle, die mitkochen wollen, sind herzlich eingeladen. „Drei Gänge haben sich als eine ganz günstige Struktur erwiesen“, sagt Benjamin Arntzen, Mitarbeiter im Open Place, „Da finden dann alle ein Gericht, bei dem sie mittun wollen. Und die Gruppenteilung hilft, Streit zu vermeiden.“
Kaum lief das Foodsharing, da kamen andere auf die Idee, dass der, der Essen verteilt, vielleicht auch Kleidung weitergeben möchte. Und, ja! „Ich bestimme hier ja nicht, was gemacht wird“, sagt Damian Brot, „Das entwickelt sich ganz organisch durch die Leute, die herkommen.“ Er stellt mir die Leiterin der Kleiderbörse, Silvia Napo, vor. Auch sie kam als Langzeitarbeitslose regelmäßig ins Café und begann, sich so stark in der Kleiderbörse zu engagieren, dass man eine Möglichkeit suchte und fand, sie tatsächlich dort anzustellen. Auch diese kleinen Wunder gehören zum Open Place.
Achtsamkeit
Irgendjemand begann, ein Malatelier einzurichten. Inzwischen hat eine Kunsttherapeutin, die koreanischstämmige Suki Meng, den Raum neu geordnet und bietet einmal wöchentlich gemeinsames Malen und Zeichnen an. Sie weist einmal durch den Raum: „Das ist zu klein hier, um andere Angebote wie z.B. Töpfern zu integrieren. Sechs Menschen können ganz gut gemeinsam malen. Wir beginnen immer mit einer halbstündigen Teezeremonie.“
„Achtsamkeit“, fügt Dennis Schefer hinzu. Wie Suki Meng gehört auch er zu den Menschen, die im Open Place eine neue Heimat gefunden haben. „Ich habe auf dem Bau gearbeitet“, stellt er sich vor. Gemeinsam mit dem Anstreicher Rolf Leutenegger, dem Schreiner Wolfgang Bloeck und Lenka Roth, die das Offene Atelier Kreuzlingen der Stiftung Mansio leitet, gehört er zu den Mitarbeitenden des Open Place, die am Architekturseminar zur Umgestaltung des Kirchenraumes teilgenommen haben. Woche für Woche haben sie sich im Wintersemester gemeinsam mit 15 Architekturstudierenden der HTWG, ihrer Professorin Myriam Gautschi, Damian Brot und Benjamin Arntzen getroffen, um Ideen zu entwickeln, wie man das offene Angebot des Open Place auch architektonisch unterstützen könne.
„Manchmal ist man ja blöd“
Während der Distanzauflagen und Begegnungseinschränkungen der Coronazeit konnte Damian Brot das Café zunächst nicht weiterführen. Es war zu eng. „Manchmal ist man ja blöd“, Damian Brot schüttelt den Kopf und lacht, „Ich habe erst nach einer Weile gemerkt, dass ich mit der Kirche einen großen Raum zur Verfügung habe.“ Gedacht, gesagt, getan und schon flogen, unterstützt von allerhand helfenden Händen, die Bänke aus der Kirche. Ohne dass es allerdings einen guten neuen Platz für sie gab. Sie mussten halt irgendwie Raum schaffen für Tische und Stühle.
Ich frage „Was macht ihr denn beim Gottesdienst?“ Damian zuckt die Schultern: „Naja, wieder hinräumen halt.“ „Sind die nicht schwer?“ Ein großer Mann mit Brille bleibt kurz an unserem Tisch stehen und bestätigt lebhaft „Doch! Die sind verdammt schwer!“ Hmm. Könnte man da nichts machen?
Genau in dem Moment war die Idee, den Raum architektonisch mit Studierenden umzugestalten, geboren. In Myriam Gautschi fand sich eine Architekturprofessorin der HTWG Konstanz, die nicht nur über viel Erfahrung in der Umgestaltung bereits vorhandener Räume verfügte, sondern auch in der Gestaltung von Sakralräumen. Sie stieg begeistert ein. Der Wissenschaftsverbund Bodensee unterstützte das Projekt großzügig.
Eine Kirche umgestalten
Von vornherein war klar, dass das Seminar nicht an der Hochschule, sondern in dem umzugestaltenden Raum, der Kirche in Kurzrickenbach, stattfinden sollte. Ebenso verstand es sich von selbst, dass einige Mitarbeitende des Open Place am Seminar aktiv teilnehmen und gemeinsam mit den Studierenden Ideen entwickeln sollten. Es ging um einen gemeinsamen Prozess.
Myriam Gautschi betont im Seminar, dass jede und jeder der Anwesenden ihr oder sein ganz spezielles Wissen einbringt. Und so betonen es auch Wolfgang Bloeck und Dennis Schefer, mit denen ich nach Ende des Seminars ein Gespräch führte. Wolfgang war sich zunächst nicht sicher, ob er in dieser Gruppe von Akademiker:innen überhaupt erwünscht sei, aber Dennis meint selbstbewusst: „Nee, die brauchten uns doch.“
Diese Erfahrung bestätigt Wolfgang – man habe die theoretischen Diskussionen um handwerkliches Wissen erweitern können. Dabei kam es auch zu sehr persönlichen Begegnungen. Rolf konnte sein Glück kaum fassen, als einer der Studierenden ihm anbot, ihn zu einem Spiel des FC Bayern mitzunehmen. Gemeinsam frönten sie ihrer Fußballleidenschaft. „Das war toll“, schwärmt er.
Mit Licht einen Raum organisieren
Das Seminar holte sich zusätzliche Expertise von außen. Das waren neben dem Pfarrer und Universitätsdozenten Christoph Sigrist, die Kunstwissenschaftlerin Andrea de Carli und der St. Galler Lichtgestalter Mario Rechsteiner. „Licht ist ganz zentral“, betont Myriam Gautschi schon während der Antragstellung und im Seminar führt sie allen Beteiligten anhand früherer Projekte in Konstanz vor, wie Licht Raum organisiert. Sie weist auf einen Tisch im Eingangsbereich des Albertus-Magnus-Studentenwohnheims, den sie mit Studierenden entworfen hat: „Wir haben hier das Licht heruntergenommen, um den Ort, den Tisch zu beleuchten.“ Konzentriert hebt sich die Tischplatte aus der Umgebung hervor, erzeugt einen eigenen Ort in der großen Halle, ohne anderweitig von ihr abgegrenzt zu sein.
Eine der fünf studentischen Arbeitsgruppen hat sich des Lichtthemas besonders angenommen. „Kirche des Lichts“ nennt sie ihr Projekt. Nach ihrer Vorstellung sollen luftige, halbtransparente Vorhänge die Kirche in vier Räume gliedern. Sie hängen an Lichtleisten von der Decke, die ein Kreuz bilden. Auch wenn man so Unterschiedliches wie Kaffeetrinken oder Beten tut, so sagt dieser Vorschlag, bleibt man doch eine Gemeinschaft, eine Kirche.
Andere betonen andere Aspekte von Kirchenraum und Gemeinschaft. Ich spreche mit Paul Neugebauer. Das Konzept seiner Gruppe heißt kirche.neu.erinnern. Sie bezieht den Außenraum mit ein. Die ehemaligen Kirchenbänke werden nach draußen verlagert und bieten dort Möglichkeiten zu sitzen, zu sprechen, miteinander zu sein. Gleichzeitig markieren sie auch den Außenraum als Kirche. Drinnen setzen sich die Reihen fort, aber als klappbare Stühle.
Es ging um die Praxis
Paul erzählt, warum er sich für dieses Projekt entschieden hat: „Unser Studium ist sehr, sehr theoretisch. Und in Kurzrickenbach ging es ja tatsächlich um die Praxis. Zum einen hat man den Kontakt zu den Leuten vor Ort und zum anderen die Aussicht, dass Ideen auch realisiert werden können. Hinzu kommt der soziale Kontext. Ich könnt’ das ja auch für einen Chemiekonzern machen, aber die Arbeit für die Kirche fühlt sich doch einen Schluck weit besser an.“
„Es war auch schön, vor Ort zu arbeiten. Jeden Donnerstag ist man dort um 14 Uhr hingefahren und war dann dort bis ca. 17 Uhr. Das hat Dinge stark vereinfacht. Man konnte Tische und Bänke hier und da verschieben – es war ein dauerndes dynamisches Verändern des Raums.“
Eine Gruppe möchte den gesamten Boden dunkelblau einfärben, die Erhöhung des Altarraums abschaffen und stattdessen den historischen Taufstein in den Mittelpunkt des auf diese Weise neu organisierten Raumes stellen. Blau.Pause nennt sie ihren Vorschlag.
Möbel für jede Situation
Die vierte Gruppe hat den Tisch als zentrales Element der Kirchengestaltung gewählt – oder besser gesagt drei Tische für drei unterschiedliche soziale Situationen – einen quadratischen, einen runden und einen langgestreckt rechteckigen. Die Tische sind schwarz, ebenso sollen alle Stühle schwarz sein – Besucher:innen können eigene Stühle mitbringen, die dann schwarz eingefärbt werden und so trotz ihrer Individualität sichtbar zum Teil des Ganzen werden.
Die fünfte Gruppe – REmove, REthink, REplace – verwendet die alten Bänke als Material für neue modulare Möbel, die Hocker, Tische, Regale oder auch eine Kinderspielecke sein können.
Alle fünf Entwürfe wurden erstmals bei der Architektur-Werkschau der HTWG gezeigt und dort mit dem „Grenzstein“, einem Preis des Architekturforums KonstanzKreuzlingen, ausgezeichnet.
Ab dem 28. März werden sie nun der Öffentlichkeit vorgestellt, aber nicht in einer gemeinsamen Ausstellung, sondern je ein Entwurf wird eine Woche lang gezeigt und diskutiert. Die Studierenden simulieren ihren jeweiligen Raumentwurf in Originalgröße. Auf diese Weise können sich alle ein gutes Bild von der zukünftigen Raumgestaltung machen. Schon jetzt sind mit farbigen Klebebändern die Positionierungen von Raumelementen auf dem Kirchenboden markiert. Alle Interessierten sind eingeladen, sich die Entwürfe der Studierenden anzusehen. Zur Eröffnung gibt es jeweils einen Vortrag und einen Aperitif.
Hier die Termine
28. März, 18:00 Uhr, kirche.neu.erinnern
04. April, 18:00 Uhr, Kirche des Lichts
11. April, 18:00 Uhr, trinitas tabularum
18. April, 18:00 Uhr, REmove, REthink, REplace
28. April 10.00 Uhr, Blau.Pause
Ausführliche Informationen unter https://www.open-place.ch/bericht/1474
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Benjamin Arntzen
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