Der jüdische Mathematiker Emil Julius Gumbel kämpfte bereits in den frühen 1920er Jahren gegen den aufkommenden Faschismus. Zu Jahresbeginn erinnern ein Film und eine Ausstellung an sein Leben und Werk. Unser Autor sprach mit Prof. Dr. Matthias Scherer von der TU München, dem Initiator dieser Projekte.
Das Leben des Mathematikers und Nationalökonomen Emil Julius Gumbel (1891-1966) ist, was der Soziologe Niklas Luhmann wohl eine ‚ganz normale Unwahrscheinlichkeit‘ genannt hätte. Hineingeboren ins jüdische Großbürgertum des Wilhelminischen Kaiserreichs, studierte er Mathematik und Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, insbesondere der Tod seines Bruders und eines Cousins, machten ihn zum radikalen Pazifisten, der Krieg in jeder Form als Menschheitsverbrechen ablehnte. Er tritt in den „Bund Neues Vaterland“ ein, der nach dem Krieg den Namen „Deutsche Liga für Menschenrechte“ führt.
Die Liga engagiert sich gegen Krieg, Rassismus und Missbrauch der Justiz. Sie setzt sich für die demokratischen Werte der Weimarer Republik, soziale Gerechtigkeit und Völkerverständigung ein. In der Liga begegnet Gumbel herausragenden Intellektuellen der 1920er Jahre, darunter Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Kurt Eisner, Gustav Landauer. In einer von den – zu paramilitärischen Einheiten formierten – Überresten der kaiserlichen Armee terrorisierten Gesellschaft stehen die Mitglieder der Liga mit Leib und Leben für ihre Überzeugungen ein: Eisner und Landauer werden 1919 ermordet. Gumbel entgeht nur durch Zufall der Erschießung durch Mitglieder eben jenes Freikorps, das auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatte. Während zehn schwer bewaffnete Paramilitärs seine Wohnung verwüsten, hält er sich in Bern auf.
Gumbel wird zum Chronisten der Gewalt, die die junge Demokratie zersetzt. Akribisch archiviert er unter Engagement von Freunden und professionellen Zeitungsauschnittdiensten politisch motivierte Morde und den juristischen Umgang mit ihnen. Er kommt zu dem Schluss, dass Gewalt mit rechtsextremem Hintergrund nicht nur solche mit linksextremem zahlenmäßig weit überwiegt, sondern auch kaum verfolgt und bestraft wird. Die Justiz der Weimarer Republik unterstützt den Terror durch Unterlassung. Die Daten sind erschütternd. In den Jahren 1919 und 1920 werden 314 Menschen aus politischen Motiven ermordet, 14 von linken, 300 von rechten Tätern, hält Gumbel in seiner Schrift „Zwei Jahre politischer Mord“ fest. Zwei Jahre später – die Nachfolgepublikation trägt den Titel „Vier Jahre politischer Mord“ – sind es bereits 376 Morde, 22 von links-, 354 von rechtsextremen Tätern. 38 Verurteilungen auf linker stehen nur 24 auf rechter Seite gegenüber. Erstere werden hart mit Zuchthaus und Hinrichtung bestraft, letztere bis auf einen einzigen Mörder freigesprochen.
Matthias Scherer, Professor für Risk and Insurance an der TU München, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Leben und Werk Gumbels. Er betont die Notwendigkeit eines wissenschaftlich methodischen Vorgehens für Gumbel angesichts der politischen Brisanz des Themas: „Wenn ich die deutsche Justiz beschuldige, systematisch von rechts begangene Morde zu mild zu behandeln oder gar nicht zu verfolgen, dann darf ich mich nicht angreifbar machen, indem ich inhaltliche Fehler mache. Die objektive, fakten- und evidenzbasierte Herangehensweise ist wichtig für Gumbel, um selber nicht angreifbar zu sein.“
Die Praxis der Weimarer Justiz
Obwohl Gumbels Analyse zu einem politischen Untersuchungsausschuss führt, ändert sich an der Praxis der Weimarer Justiz nichts. Resigniert hält er fest: „Obwohl die Broschüre keineswegs unbeachtet blieb, ist von behördlicher Seite kein einziger Versuch gemacht worden, die Richtigkeit meiner Behauptungen zu bestreiten. Im Gegenteil, die höchste zuständige Stelle, der Reichsjustizminister, hat meine Behauptungen mehrmals ausdrücklich bestätigt. Trotzdem ist nicht ein einziger Mörder bestraft worden.“
Dennoch zieht er sich nicht frustriert zurück, sondern intensiviert seine publizistischen Aktivitäten. Trotz mehrfacher Morddrohungen tritt er persönlich auf, hält Vorträge und schreibt Bücher. Gleichzeitig macht seine akademische Karriere Fortschritte. Aufgrund seiner ausgewiesenen Expertise in Statistik erhält er eine neu geschaffene Dozentur an der Universität Heidelberg.
Auf der allerersten Ausbürgerungsliste
Obwohl er seine politische Aktivität und seine Lehrtätigkeit strikt trennt, werden zwischen 1924 und 1932 drei Disziplinarverfahren gegen ihn angestrengt. Man versucht, ihn reichsweit zu diskreditieren. Während er die ersten beiden Verfahren übersteht, wird ihm 1932 die Lehrerlaubnis entzogen. Es ist der Vorabend der nationalsozialistischen Diktatur. Gumbel hat die Entwicklung vorhergesehen und vielfach vor ihr gewarnt. Auf der allerersten NS-Ausbürgerungsliste steht sein Name. Gumbel emigriert nach Frankreich, wird französischer Staatsbürger und flieht 1940, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich, in die USA.
In Frankreich hatte er begonnen, sich mit den Rändern statistischer Verteilungen und Grenzwertsätzen für extreme Beobachtungen auseinanderzusetzen. Seit ihren Anfängen interessiert sich die klassische Statistik eigentlich für den sogenannten Durchschnitt und damit die innerhalb der Streuungen scheinbarer Einzelfälle beobachtbaren Muster. So mag es, um ein berühmtes Beispiel des französischen Soziologen Emile Durkheim zu benennen, zwar viele individuell verschiedene Gründe geben, sich das Leben zu nehmen. Dennoch bleibt die Zahl der insgesamt innerhalb einer gegebenen Gesellschaft vorkommenden Suizide gleich. Es sind diese Muster, die Ereignisse innerhalb von Massengesellschaften vorhersehbar und operabel machen.
Pionier der Extremwerttheorie
Nun gibt es aber nicht nur häufige, sondern eben auch seltene Ereignisse. Jahrhundertfluten etwa wie an der Ahr. Pandemien wie Corona. Kriege wie den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine. Im Unterschied zu den häufigen Ereignissen, die den Durchschnitt großer Datenmengen ausmachen, sind diese Ereignisse selten. Um sie präventiv zu berücksichtigen – etwa beim Bau eines Damms – kann man bestenfalls selten auf direkte Beobachtung zurückgreifen. Wie hoch also muss man einen Damm bauen, damit er eine Jahrhundertflut übersteht, die irgendwann – plötzlich und zu diesem bestimmten Zeitpunkt unerwartet – eintritt? Wieviel Belastung halten Brücken aus, bevor sie brechen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Extremwerttheorie – zu deren Pionieren Gumbel zählt.
Matthias Scherer betont die Praxisnähe von Gumbels mathematischer Forschung: „Ich halte es für die wichtigste Leistung von Gumbel, dass er im Gegensatz zu vielen anderen, eher theoretisch interessierten Mathematikern, seine Forschungen ganz stark an Anwendungen orientierte. Meiner Meinung nach hat er als erster den großen praktischen Nutzen der Extremwerttheorie verstanden. Deshalb war er unermüdlich tätig, insbesondere Ingenieuren ihre Anwendungsmöglichkeiten näherzubringen.“
Obwohl seine Arbeiten zum Standard in den entsprechenden Zweigen der Mathematik gehören und auch eine Rolle bei der Modellierung klimatischer Veränderungen spielen, ist das vielschichtige Leben Gumbels in Deutschland selbst unter Fachleuten kaum bekannt. „Die mathematischen Methoden von Gumbel sind tatsächlich Standard in der angewandten Mathematik“, sagt Scherer. „Ich bin schockiert, dass so wenig über seinen Lebensweg auch in der mathematischen Gemeinschaft bekannt ist. Von vielen wird er als Amerikaner gesehen. Dass er eigentlich deutschstämmig ist, ist oft unbekannt. Diesen Zustand wollte ich verändern. So ein spannendes und, aus meiner Sicht, gelungenes Leben müsste man nacherzählen.“
Ausstellung und Film
Aus dieser Motivation heraus beschäftigte sich Scherer intensiv mit Gumbel und konzipierte gemeinsam mit einem interdisziplinären Team der TU München und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte eine Ausstellung, die am 10. Januar um 17 Uhr im Astoriasaal der Volkshochschule mit dem Vortrag „Emil J. Gumbel (1891–1966): Statistiker, Pazifist, Publizist“ eröffnet wird. Die Ausstellung wird bis zum 7. Februar in der VHS-Galerie kostenfrei zu sehen sein.
Am 9. Januar, dem Vorabend der Eröffnung, kann man im Zebrakino um 18 Uhr den Dokumentarfilm „Extreme Werte. Die Geschichte E. J. Gumbels“ von David Ruf sehen. Karten gibt es an der Abendkasse oder unter https://zebra-kino.de/tickets/. Im Anschluss an den Film werden Anke Klaaßen, die Teile des Drehbuchs geschrieben hat, Prof. Dr. Matthias Scherer, der Initiator von Film und Ausstellung, und Prof. Dr. Jan Beran, Mathematiker an der Universität Konstanz, ein Podiumsgespräch führen.
Weitere Informationen erhalten Sie beim Autor.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bild: Emil Julius Gumbel, Private Sammlung mit freundlicher Genehmigung
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