Nur eine Generation nach Kolumbus waren ein St. Galler und ein Konstanzer massgeblich am Aufbau der Sklaverei beteiligt. Historikerinnen haben nun die Geschichte von Hieronymus Sailer und dessen Geschäftspartner Ulrich Ehinger in einem neuen Buch aufgearbeitet. Über die Hintergründe informiert auch ein Themenmonat.
Die beiden ließen sich wahrlich nicht lumpen, als sie für ihre Porträts posierten: Hieronymus Sailer trug einen edlen schwarzen Mantel im Stil des spanischen Hofs und hatte sich einen üppigen Marderpelz um den Hals gelegt, ein Attribut des Adels. Das Kleid seiner Ehefrau Felicitas Welser wiederum glänzte samten, ihre Haube war mit Perlen bestickt. Beide trugen eine Goldkette um den Hals. Sie strahlten sichtbar Macht, Reichtum und Selbstbewusstsein aus – in den Gemälden wie auch in der Wahl des Malers: Nur die High Society konnte sich Anfang des 16. Jahrhunderts ein Porträt des Renaissancekünstlers Christoph Amberger leisten. Heute sind die Bilder im Münchner Residenzmuseum ausgestellt.
Die Antwort auf die Frage, woher der Reichtum der beiden stammte, überrascht auf den ersten Blick wenig. Hieronymus Sailer war ein erfolgreicher St. Galler Kaufmann im Dienst der Handelsgesellschaft der Welser, der mächtigen Patrizierfamilie im deutschen Augsburg. Seine Ehefrau Felicitas wiederum war die älteste Tochter von Welserchef Bartholomäus V., einem der damals reichsten Händler Europas.
Auf den zweiten Blick ist die Antwort allerdings brisant. Das Vermögen muss auch der „Asiento de Negros“ vermehrt haben: ein Vertrag, den Hieronymus Sailer und sein Geschäftspartner Ulrich Ehinger aus Konstanz mit dem spanischen König Karl V. abgeschlossen hatten. Er garantierte den Welsern das Recht, 4000 Menschen aus Westafrika, darunter ein Drittel Frauen, in die Karibik zu verschleppen.
Der Asiento wurde am 12. Februar 1528 unterzeichnet und war in der Geschichte der Sklaverei erst der zweite seiner Art. Lediglich eine Generation, nachdem Kolumbus mit seiner Flotte auf die „Neue Welt“ gestossen war, begann also das Verbrechen des transatlantischen Menschenhandels – und zuvorderst mit dabei war ein St. Galler.
Geschichte voller Lücken
Besuch im Archiv der St. Galler Ortsbürgergemeinde, untergebracht in der Vadiana, der nach dem Reformator Vadian benannten Kantonsbibliothek: Die Tür zum Büro von Koarchivleiterin Nicole Stadelmann steht weit offen. Gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Rezia Krauer sowie ihren Konstanzer Kolleginnen Kirsten Mahlke und Hannah A. Beck hat sie erstmals umfassend die Geschichte von Sailer aufgearbeitet. Nun erscheint ihr Buch „Konquistadoren und Sklavenhändler vom Bodensee“, begleitend findet ein Themenmonat zur Kolonialgeschichte statt (vgl. St. Galler Sklavereimonat).
„Wir hätten niemals gedacht, dass wir bei uns im Archiv einen der weltweit ersten modernen Sklavenhändler finden würden“, sagt Rezia Krauer. „Hieronymus Sailer war bei uns bisher ein Kaufmann neben vielen anderen. Er hat die Stadt früh verlassen und deshalb auch nur wenige Spuren hinterlassen“, ergänzt Nicole Stadelmann.
Der Konstanzer Partner Ehinger
Überhaupt ist das Archiv der Handelsstadt, die sich im Mittelalter neben dem Kloster herausbildete, wie alle anderen aus jener Zeit lückenhaft. Eine Berechnung zum 15. Jahrhundert hat ergeben, dass in St. Gallen die Überlieferungsrate von im Original erhaltenen Urkunden stark schwankt: gemäss vorliegenden Protokollen beträgt sie teilweise nur vier Prozent. Die Aufbewahrung beschränkte sich auf Geschehnisse vor Ort. Zudem wurden in der Tendenz eher herrschaftliche als geschäftliche Verträge aufbewahrt. Einer wie Sailer fiel da förmlich zwischen die Karteikästen.
Der Anstoss zur Erforschung seiner Geschichte kam denn auch aus Konstanz. Dort hatte sich die Ausstellung „Stoff. Blut. Gold“ vor drei Jahren mit den kolonialen Verstrickungen der Bodenseestadt beschäftigt – und damit auch mit den Geschäften der Welser, mit Ulrich Ehinger und eben mit Sailer.
Kolonialismus als Outsourcing
Hieronymus Sailer war 1495 in St. Gallen zur Welt gekommen, die Stadt hatte in der Wirtschaftsregion um den Bodensee gerade den Konkurrenten Konstanz überflügelt, exportierte ihr veredeltes Leintuch nach ganz Europa. Der kaufmännischen Ausbildungstradition folgend, liess sich Sailer als Jugendlicher im norditalienischen Como in Finanzgeschäften ausbilden und trat später in Augsburg in die Handelsgesellschaft der Welser ein. Sailer wurde zum Vertreter der Welser am Hof der spanischen Krone, unterwegs zwischen Madrid, Toledo und Valladolid. Die spätere Heirat mit der achtzehn Jahre jüngeren Felicitas stärkte die Bande zu den Welsern auch familiär.
Die spanische Krone trug damals der Habsburger Karl V., der wegen Kriegen an mehreren Fronten in Europa und wegen seiner Kolonialeroberungen in Amerika hochverschuldet war. In dieser Situation stellte Hieronymus Sailer einen perfekten „Beziehungsmakler“ dar, wie Kirsten Mahlke in einem Beitrag des Buches schreibt: Er transferierte Geldsummen an die Kriegsfronten, vermittelte profitable Währungsspekulationen und informierte über die neusten Gerüchte zu den Edelmetallvorkommen in den amerikanischen Kolonien.
Karl V. hatte bei den Augsburger Handelshäusern der Welser und der Fugger Kredite über eine halbe Million Golddukaten aufgenommen. Es wurden ständig mehr, bis er den Welsern zur Bedienung der Zinsen die Provinz Venezuela verpachtete – die deshalb als „Welserkolonie“ in die Geschichte einging, eine Art von Firmenkolonie.
Verfügungsgewalt über 4000 Menschen
„Es handelte sich um ein Outsourcing, wie wir es heute kennen“, sagt Historikerin Stadelmann. Die Finanzierung und die kriegerische Eroberung der kolonialen Herrschaftsgebiete wurden an ein Privatunternehmen delegiert. Zu den Verträgen gehörte auch der „Asiento de Negros“: Sailer und Ehinger erhielten als Lizenznehmer die Verfügungsgewalt über 4000 Menschen.
Das Original des Vertrags, der als solcher in der Sklavereiforschung schon lange bekannt ist, liegt heute in einem Archiv in Sevilla. Wie er tatsächlich umgesetzt wurde, darüber tappt die Forschung aufgrund mangelnder Belege im Dunkeln. „Es gibt aber viele Indizien, dass die Deportation der Menschen aus Westafrika tatsächlich erfolgte“, sagt Krauer. Denn Sailer und Ehinger hatten intensive Vorabklärungen getroffen: Sie wussten aufgrund ihrer Kontakte in die Kolonien, dass mit versklavten Menschen hohe Gewinne zu erzielen waren. Sie hatten sich über die rechtlichen Grundlagen der von Beginn weg umstrittenen Sklaverei informiert. Die Deportationen sollten vom Hafen von São Tomé e Príncipe ausgehen, einer portugiesisch besetzten Inselgruppe vor Westafrika – auch dorthin unterhielten Sailer und Ehinger Geschäftsbeziehungen.
Mit seinem 2005 erschienenen Buch «Reise in Schwarz-Weiss» hat der St. Galler Historiker Hans Fässler die Erforschung der Sklavereibeteiligung aus der Schweiz wesentlich angestossen. Auch in seinem Buch fehlt Sailer noch. „Seine Neuentdeckung ist auch für mich eine Erleuchtung“, sagt er auf Anfrage. Und zwar vor allem in einer zeitlichen Perspektive: Bis anhin sei man nämlich davon ausgegangen, dass die frühesten Verflechtungen der Schweizer Wirtschaft mit der Sklaverei im 17. Jahrhundert entstanden seien. „Und plötzlich passiert da ein Sprung ins 16. Jahrhundert.“ Der damals erlassene „Asiento de Negros“ mit den Welsern habe von der Form her einen Standard gesetzt: „Mit solchen Verträgen versuchte Spanien lange, die Kontrolle über die Sklaverei in den Händen zu behalten, bis andere Player wie zum Beispiel Großbritannien zu mächtig geworden waren.“
In Stein verwandelt
Sailer selbst hat den europäischen Kontinent zeitlebens nie verlassen, wohl aber nahmen andere St. Galler wie der Kaufmann Melchior Grübel mit seinem Sohn am Aufbau der Welserkolonie teil, der von immenser Gewalt begleitet war. Auch ihre Geschichte ist im Buch erforscht. Die Grübels beteiligten sich an mehreren Eroberungszügen, Entradas genannt, auf denen Indigene als Kriegsgefangene versklavt, Dörfer geplündert und neue Städte gegründet wurden. Für seine militärischen Dienste erhielten Grübel und sein Sohn Land im heutigen Venezuela und die Verfügungsgewalt über 200 Indigene. „Damit waren die beiden Eroberer auch zu Besatzern geworden“, sagt Nicole Stadelmann.
Der St. Galler Sklaverei-Monat
Derzeit finden in und um St. Gallen zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Sklaverei und Kolonialgeschichte statt. Er begann mit der Buchvernissage von „Konquistadoren und Sklavenhändler vom Bodensee“ (Format Ost, 2024). Das reichhaltige Programm umfasst Vorträge und Podien, Stadtführungen und eine Velotour. Auch ein Kunstprojekt gehört dazu: Sarah Montani hat das Sklav:innenschiff „Marie-Séraphique“ in einer Augmented-Reality-Installation nachgebildet und fragt nach Bezügen der Sklaverei zur Gegenwart.
Mehr Infos finden sich auf einem seemoz-Veranstaltungshinweis.
Und wie endete schliesslich die Karriere von Sailer? Er diente sich, ganz früher Schweizer Treuhänder, nicht nur der habsburgischen Krone an, sondern auch der französischen. Eine politisch brisante Spekulation, standen die beiden Mächte doch gegeneinander im Krieg. Sailer nutzte für die Kreditvergabe sein St. Galler Bürgerrecht, das ihm die wirtschaftlichen Privilegien der Eidgenossenschaft mit Frankreich sicherte.
Als die Geschäfte ruchbar wurden, verhafteten königliche Beamte Sailer, und Karl V. verbot den Augsburger Kaufleuten daraufhin jeglichen Handel mit Frankreich. Welserchef Bartholomäus V. gab die Abstrafung direkt an seinen Schwiegersohn weiter: Sailer wurde enterbt.
„Wie hoch das Vermögen von Sailer tatsächlich war, das wüsste ich gerne“, sagt Rezia Krauer, angesprochen auf offen bleibende Forschungsfragen. Denn so ließe er sich besser in die St. Galler Wirtschaftsgeschichte eingliedern. Klar ist zumindest: Die Einnahmen aus dem Handel mit Sklav:innen dürften nicht nur in Sailers teuren Marderpelz geflossen sein. Sondern darüber hinaus, in Stein verwandelt, bis heute in seiner Heimatstadt stehen: Das Sailer-Schulhaus wurde von seinem Neffen Michael errichtet. Krauers Fazit: „Es liegt nahe, dass sein Vermögen auf Geldern basierte, die sein Onkel Hieronymus durch den Sklavenhandel und den Aufbau der Welserkolonie gemacht hat.“
Text: Kaspar Surber. Der Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung WOZ.
Illustrationen (oben): Grafik des Sklav:innenschiff „Marie-Séraphique“: Sarah Montani; Foto und Bildmontage: Andreas Butz / (unten): Felicitas Seiler, gemalt von Christoph Amberger_© commons wikimedia
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