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Weg mit dem Wachstumszwang (1). Aber warum?

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Viele Klimaschützer:innen sind sich inzwischen einig: Ein beständiges Wirtschaftswachstum verschlimmert die Klimakatastrophe, die auf uns zukommt. Sicher ist jedoch auch, dass bloße Kritik am Kapitalismus nicht reicht. Aber was dann? Was nötig wäre, erläutert der Tübinger Wirtschaftssoziologe Christoph Deutschmann in einem zweiteiligen Interview.

Wolfgang Storz: Wissenschaftler und Klima-Aktivist:innen sagen, die mit fossilen Energien angefeuerte kapitalistische Wachstumswirtschaft sei die wesentliche Ursache der drohenden Klimakatastrophe. Deshalb plädieren sie für eine Politik des Degrowth. Das heißt: Das ökonomische System wird so umgebaut, dass es nicht mehr wächst oder gar schrumpft. Sie, Herr Deutschmann, halten dieses Konzept aus zwei Gründen für untauglich. Erstens: Dafür müssten die Eigentumsverhältnisse umgestürzt werden. Ihr zweiter Grund: Degrowth sei bereits Wirklichkeit. Zunächst zu Ihrem ersten Grund: Warum muss „unser“ Kapitalismus wegen seiner heutigen Eigentumsverhältnisse wachsen und ist deshalb dazu verdammt, Natur und Klima zu ruinieren?

Christoph Deutschmann: Vielleicht wären zunächst einige begriffliche Klärungen sinnvoll. Was ist „degrowth“? Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff eine Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums. Die Wirtschaft wiederum „wächst“, wenn das in Geld gemessene Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft von einer Referenzperiode, beispielsweise Monate oder Jahre, zur nächsten zunimmt. Den prozentualen Ausdruck dieser Zunahme bezeichnet man als Wachstumsrate. Wenn beispielsweise das Bruttosozialprodukt Deutschlands im Jahr 2022 sich auf vier Billionen Euro beläuft, im Jahr 2023 dagegen auf 4,2 Billionen, dann beträgt die jährliche Wachstumsrate 5 Prozent. Mit dem Begriff Degrowth ist gemeint, dass die Wachstumsrate sinkt. Auch hier ein Beispiel: In einem Jahr beträgt die Wachstumsrate fünf Prozent, im nächsten Jahr nur noch vier, dann noch drei, und so weiter.

Storz: Degrowth ist also nicht Nullwachstum?

Deutschmann: Richtig, Degrowth bedeutet nicht die Abwesenheit von Wachstum, sondern lediglich einen tendenziellen Rückgang der Wachstumsrate. Erst wenn dieser Rückgang anhält, kommt es logischerweise irgendwann zum Nullwachstum. Oder noch mehr: Das Bruttosozialprodukt schrumpft, die Wachstumsrate wird negativ. Werfen wir einen Blick auf die heutigen Daten, stellen wir fest: So weit sind die heutigen industriellen Volkswirtschaften noch lange nicht. 

In den Schwellenländern, beispielsweise Indien, finden wir noch hohe Wachstumsraten, teilweise über fünf Prozent. China liegt momentan zwischen vier bis fünf Prozent. Und die USA liegen lediglich bei zwei bis drei Prozent, in Europa wächst die Wirtschaft noch schwächer, ihre Rate liegt zwischen ein und zwei Prozent. Zum Vergleich: Weltweit liegt die erwartete reale Wachstumsrate für 2024 bei rund drei Prozent.

BIP-Wachstum 2023-2025 © statista
IWF-Prognose: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts 2023-2025 / Quelle: Statista

Storz: Kehren wir noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Warum muss der Kapitalismus wachsen?

Deutschmann: Natürlich spielen dabei auch Ideologien oder ideologische Dogmen eine Rolle. Das ist aber nicht die eigentliche Ursache des Wachstumszwangs – diese ist nicht ideologischer, sie ist institutioneller Art. Lassen Sie mich kurz erklären, was Institutionen sind und wie sie wirken.

Institutionen sind sozial gültige Regelsysteme, die das gesellschaftliche Zusammenleben vermitteln und die Freiheit des Einzelnen mit der aller anderen vereinbar machen. Dazu zählen der Staat oder das Rechtssystem. Mit Ideologien ist es so: Sie können diese für wahr halten oder auch nicht, also an sie glauben oder es lassen. Ganz anders ist es bei Regeln, die von Institutionen aufgestellt werden: Die müssen von allen eingehalten werden, sonst fällt die Gesellschaft auseinander. Und bei unserem Thema, dem Zwang zum Wachstum, geht es um die Institution des Privateigentums: Für den Zwang zum Wachstum ist diese Institution ausschlaggebend und sie formt das Handeln von hunderten Millionen Menschen.

Storz: Aber warum löst das Privateigentum diesen Wachstumsimperativ aus? Warum soll es Wachstum sogar erzwingen? Es gab und gibt Privateigentum, Tausch und Märkte bereits seit Jahrtausenden, ohne dass diese früheren Wirtschaften einem Wachstumszwang unterlagen.

Christoph Deutschmann: Diesen entscheidenden Unterschied habe ich in einem Artikel für Soziopolis, „Degrowth: Der Weg zur Bewältigung der Klimakrise?“, ausführlich herausgearbeitet. Es ist nicht das Privateigentum als solches, das den Wachstumsimperativ auslöst. Es ist vielmehr das spezifisch kapitalistische Arrangement privater Eigentumsrechte.

Eigentümer:innen, die die Hand aufhalten

Storz: Und was macht dieses besondere Arrangement aus?

Deutschmann: Es gibt sachliche und menschliche Produktionsbedingungen. Die bilden in den realen Arbeitsprozessen immer eine Einheit. Die Frage ist: Wer kontrolliert die? Im Kapitalismus ist diese Kontrolle immer auf zwei Arten von Eigentümern aufgeteilt: Einerseits das Kapital, das sind die Eigentümer der sachlichen Produktionsmittel, andererseits gibt es die Eigentümer der Arbeitskraft, also diejenigen, welche die Arbeit leisten.

Jedoch: Die Entscheidungsgewalt über den gesamten Produktionsprozess liegt allein bei den Eigentümern der Produktionsmittel, die aus ihrem Eigentum einen Anspruch auf Rendite ableiten. Für sie „lohnt“ sich die Produktion nur, wenn sie einen Gewinn einbringt, das heißt, wenn die Einnahmen aus dem Verkauf der Produktion am Ende höher sind als die vorherigen Kostenzahlungen für Löhne, Vorprodukte, Rohmaterial, Anlagen und so weiter. Und das ist der entscheidende Unterschied: Es gibt neben den Arbeitenden, die zurecht ihren Lohn verlangen, noch eine weitere Klasse von Eigentümern, die die Hand aufhält. Daraus ergibt sich das Wachstum der Wirtschaft als Ganzes: weil die Kapitaleigentümer aus ihrem separaten Eigentumsrecht ihr Recht ableiten, dass die Produktion ständig Gewinn für sie abwirft. Und diesen ständigen Gewinn gibt es nur über das ebenso ständige Wachstum.

Christoph Deutschmann …

… ist Professor (seit 2010 i.R.) am Institut für Soziologie der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wirtschaftssoziologie, Industrielle Beziehungen und Soziologische Theorie. Vor seiner Berufung nach Tübingen im Jahr 1989 arbeitete er am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M (1976–1984), an der Tohoku-Universität in Sendai/Japan (1984–1986), sowie am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (1986-1989). 

Neuere Veröffentlichungen: „Disembedded Markets. Economic Theology and Global Capitalism“, 2019, Routledge; „Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive“, 2. Aufl., 2019, Springer VS; „Trügerische Verheißungen: Markterzählungen und ihre ungeplanten Folgen“, 2020, Springer VS

Storz: Wenn wir uns in die Perspektive der Wachstumskritiker:innen hineinversetzen: Wie soll denn ein solch anonymer Prozess in einer demokratischen Öffentlichkeit wirksam kritisiert werden?

Deutschmann: Das frage ich mich auch. Denn dieses oben skizzierte Wachstum entsteht über Millionen von einzelnen Entscheidungen, unabhängig voneinander gefällt von Unternehmen, Beschäftigten, Haushalten und Konsumenten. Die wollen aber nicht unmittelbar das Wachstum, sondern haben alle erst einmal ihre mehr oder weniger einleuchtenden privaten Gründe. Da muss doch die eigentlich gut gemeinte Wachstumskritik von Grünen und Umweltverbänden zum größten Teil ins Leere laufen. Denn es fehlt ihr schlicht der Adressat. Es gibt keinen großen Zampano im Hintergrund, der an den Wachstumsraten dreht und dem man zurufen könnte: Mach‘ jetzt Schluss!

Storz: Wie gelingt es den Unternehmen im Prinzip, für sich immer wieder ausreichend Gewinne zu erwirtschaften und die gesamte Wirtschaft am Wachsen zu halten?

Deutschmann: Dazu nur so viel: Die Schlüsselbegriffe dazu lauten Unternehmertum und Innovation. In der bisherigen Geschichte des Kapitalismus stützten sich wichtige Innovationen vor allem auf die Ausbeutung fossiler Energien. Insoweit ist auch die These richtig, dass der Kapitalismus die heutige Klimakrise verursacht hat. Aber der Kapitalismus ist keineswegs seiner Natur nach auf fossile Energien festgelegt. Er wird beispielsweise auch mit erneuerbaren Energiequellen gute Geschäfte machen.

Konzeptionen eines Marktsozialismus

Storz: Wie müsste eine Eigentumsordnung aussehen, die einen Kapitalismus ohne Wachsen möglich machte?

Deutschmann: Ein Kapitalismus ohne Wachstum wäre ein Selbstwiderspruch. Das Problem liegt ja eben im kapitalistischen Arrangement der Eigentumsrechte. Um den Wachstumsimperativ zu beseitigen, müsste dieses Arrangement, das heißt die Zuweisung des Eigentums über die Produktionsmittel an eine separate Klasse von Eigentümern, aufgehoben werden. Wären die Arbeitenden die alleinigen Eigentümer über die Produktion, müsste die Produktion nur noch die Kosten, einschließlich der Einkommen der Arbeitenden, decken. Aber sie müsste keinen Gewinn mehr erbringen. Und dann ginge auch in schlechten Jahren, wenn die Umsätze sinken würden, die Welt nicht unter.

Storz: Gibt es solche Verhältnisse — ohne Kapitaleigentümer, nur mit Arbeitenden — heute schon?

Deutschmann: Natürlich. Denken Sie an die vielen kleinen Selbständigen oder an die vielen Genossenschaften. Es gibt Konzeptionen eines Marktsozialismus, beispielsweise von Bruno Jossa, die auf dem Gedanken beruhen, diese Konstellation auf die ganze Wirtschaft zu übertragen. In einer solchen Ordnung würde die Wirtschaft unverändert nach den Prinzipien des Marktes reguliert werden. Grundlage des Markttauschs wäre aber nicht länger das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern das alleinige Eigentum der Arbeitenden – sicher in Verbindung mit einem mehr oder weniger ausgedehnten öffentlichen Sektor. 

Und das wäre der entscheidende Unterschied zu den traditionellen, aus der marxistischen Tradition stammenden Sozialismus-Konzeptionen. Die wollten nicht nur das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen, sondern auch die Märkte und letztere mit einem System staatlicher Wirtschaftsplanung ersetzen. Die Erfahrungen mit dem sogenannten realen Sozialismus sowjetischer Prägung haben gezeigt: Das funktioniert nicht.

Storz: Wie realistisch ist es heute, diesen Umsturz hin zu einem Marktsozialismus zu bewerkstelligen?

Deutschmann: Den Marktsozialismus via Umsturz einführen zu wollen, wäre schlichter Unsinn. Wer soll den Umsturz tragen? Wie sollen die erforderlichen demokratischen Mehrheiten zustande kommen?

Storz: Wäre denn wenigstens ein solcher Umsturz wünschenswert?

Deutschmann: Der ist weder möglich noch wünschenswert. Denn es wäre naiv zu glauben, dass die Durchsetzung einer klimaneutralen Produktionsweise sich mit einem bloßen Verzicht auf Wachstum erreichen ließe. Der Übergang zur Klimaneutralität erfordert vielmehr einen Umbau der gesamten materiellen Reproduktionsbasis der Gesellschaft von der Energieerzeugung, der industriellen Produktion, dem Verkehr bis hin zum Gebäudemanagement. 

Dieser wiederum verlangt nach Investitionen und technischen Umwälzungen in heute noch kaum abschätzbaren Größenordnungen. Mithin verlangt dieser Umbau nach Wachstum. Die dafür erforderlichen innovativen Fähigkeiten hat aber allein der moderne Kapitalismus hervorgebracht. Ein marktsozialistisches oder genossenschaftliches System wäre dazu nicht in der Lage. Die heute überall kursierenden Visionen einer sogenannten grünen Produktionsweise, ob es um E-Autos, Wärmepumpen oder um Windräder geht, zeigen, dass auch kapitalistische Unternehmen die Chance sehen, von einer klimaneutralen Zukunft zu profitieren. Immerhin stehen Sonne und Wind als Energiequellen ja kostenlos zur Verfügung und müssen nicht erst aufwendig aus der Erde gefördert werden. Die grünen Visionen bieten paradoxerweise die Chance, das schwächelnde kapitalistische Wachstum bei uns noch einmal, eventuell ein letztes Mal zu revitalisieren.

Interview: Wolfgang Storz
Bilder: Pixabay / Hamburger Hafen: Pit Wuhrer

Morgen erscheint der zweite Teil des Gesprächs, das uns Kollege Storz freundlicherweise zur Verfügung stellte.

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