Derzeit läuft „Antigone“ im Konstanzer Theater. Herrscher Kreon verbietet Antigone die Bestattung ihres Bruders Polyneikes. Diese jedoch revoltiert, will lieber den Tod in Kauf nehmen, als ihren Bruder nicht zu bestatten. Zum Thema ein Interview mit der Anthropologin und Museumspädagogin Carola Berszin, die sich in ihrer Arbeit u.a. mit antiken und mittelalterlichen Bestattungsritualen beschäftigt.
Dani Behnke: Für Regisseurin Susanne Schmelcher verweist Antigone auf einen Rechtsbruch des Staates, der dem Gesetz der Götter widerspricht – oder in heutigen Worten: seiner Verantwortung im Maßstab von Ewigkeit und Zukunft nicht gerecht wird. Warum sind uns Menschen Bestattungsrituale so wichtig?
Carola Berszin: Antigone wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland verfasst. Damals hatten die Bestattungsrituale eine komplexere Bedeutung als heute. Die antiken Griechen hatten eine abweichende Vorstellung von dem, was sie nach dem Tod erwartete, und es gab soziale Unterschiede. Bei Antigone sollten wir die antiken Bestattungsrituale im Hinterkopf haben: Zuerst wird der Tote gewaschen und gekleidet und dann öffentlich aufgebahrt. Klageweiber, umgeben von Verwandten, jammern und raufen sich die Haare. Anschließend begibt sich der Trauerzug zur Grabstätte. Der Tote wird auf einem Wagen gefahren oder auf Schultern getragen. Wenn der Verstorbene in einem Krieg umgekommen ist, hat er zusätzlich Anrecht auf besondere Bestattungsfeierlichkeiten sowie eine öffentliche Lobpreisung. Bei Antigone geht es auch um die Frage, was man dem Verstorbenen und seinen Angehörigen genommen hatte, indem man ihm ein Bestattungsverbot auferlegte und inwieweit das als Machtinstrument der Obrigkeit genutzt wurde. Durch das Bestattungsverbot war die Reise in den Hades, der die endgültige Behausung darstellte, verwehrt. Auch eine Reise über den Flüsse Styx und Acheron auf der Barke des Charon von der Welt der Lebenden in das Reich der Toten war nicht möglich. Für Antigone war es somit für ihre Trauerbewältigung wesentlich, dass ihr Bruder eine Bestattung mit den erforderlichen Ritualen erhielt. Es war die Pflicht von Angehörigen, dafür zu sorgen, dass die Toten die richtigen Riten erhielten. Ansonsten wäre der Geist dazu verurteilt, auf ewig umherzuwandern. Ohne Riten zu versterben, wurde als ein schlimmes Schicksal angesehen.
Ein Bestattungsritual bedeutet bis heute eine in der Regel würdevolle Verabschiedung vom Verstorbenen. In ihr zeigt sich die Wertschätzung gegenüber der Lebensleistung und der emotionalen Verbundenheit. Wir können uns aber heute entscheiden zwischen einem weltlichen, individuellen oder religiösen Bestattungsritual. In den verschiedenen Religionen und Kulturen ist es bis heute so wichtig, einen Toten zu verabschieden. Besonders schlimm ist es für Angehörige, eine Beerdigung ohne den Toten abzuhalten, sozusagen am „leeren Grab“ zu stehen. Der Tod bedeutet Abschied und Bestattungsrituale helfen bei der Trauerbewältigung.
Dani Behnke: Ist das Menschsein ohne Bestattungsrituale überhaupt denkbar?
Carola Berszin: Nahm man in früheren Zeiten dem Menschen ein Bestattungsritual, nahm man ihm unter anderem auch symbolisch das Menschsein. Hinweise auf Sonderbestattungen, um Menschen aus der Gemeinschaft über den Tod hinaus auszuschließen, können wir seit der Steinzeit nachweisen. Diesen verwehrte man neben einem regulären Grab auch die Bestattungsrituale. Ein weit verbreiteter Aberglaube war die Angst vor den Wiedergängern (Untoten). Man versuchte sich mit bestimmten Ritualen vor der rächenden oder schadenden Heimsuchung zu schützen. Auf mehreren Konstanzer Friedhöfen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit finden wir archäologische Hinweise darauf, wie man einen sogenannten Untoten ans Grab binden kann. Ein berühmtes Beispiel aus Konstanz ist die Verbrennung von Jan Hus am 6. Juli 1415 als Ketzer. Im christlichen Glauben des Mittelalters galt die Verbrennung als die komplette Zerstörung des Körpers, um unter anderem ein Nachwirken zu verhindern. Die Asche wurde ohne Bestattungsritual in den Rhein verstreut.
Dani Behnke: Seit wann sind Bestattungsrituale nachweisbar?
Carola Berszin: Archäologisch gibt es Hinweise auf Bestattungsrituale bis zurück in die Altsteinzeit. Ein in Deutschland berühmtes Beispiel ist die Bestattung einer Schamanin mit Kind aus dem heutigen Bad Dürrenberg, Sachsen-Anhalt, vom Ende der Mittelsteinzeit, circa 9000 Jahre alt. Die Frau besaß ein sehr reiches Beigabeninventar mit vielen Tierknochen. Das Grab war mit Ocker (Hämatit) ausgestreut. Es wurde als Färbemittel sowie zur Einbalsamierung Verstorbener verwendet. Diesem Ritual begegnet man in vielen steinzeitlichen Gräbern. Die rote Farbe des Ockers wird bei Erklärungsmodellen gerne in Verbindung mit der Farbe des Blutes gebracht. Man kann allgemein festhalten, dass in allen Zeiten und Kulturen die Menschen an ein Leben nach dem Tod glaubten. Um den Verstorbenen die Reise ins Jenseits zu ermöglichen, gab man ihm Proviant und persönliche Gegenstände mit ins Grab. Regelmäßige Totenrituale am Grab des Verstorbenen sind ebenfalls in bestimmten Epochen nachgewiesen.
Dani Behnke: Wie haben sich Bestattungsrituale und -formen in den Jahrhunderten verändert und entwickelt?
Carola Berszin: Bestattungsrituale hatten in den letzten Jahrtausenden in Europa immer wieder Wandlungen erfahren. Mal war die Brandbestattung vorherrschend und wurde dann immer wieder durch die Körperbestattung abgelöst. Galten in früheren Epochen Brandbestattungen als Übergangsritual, ist es heute eher eine Frage der Kostenminimierung bei der Beerdigung. Bis zu 80% lassen sich heute feuerbestatten. Bis zur Christianisierung gab es eine Beigabensitte. Je nach sozialem Stand konnten Schmuck und Bewaffnung mit ins Grab gegeben werden, die auch im Jenseits ihre Bedeutung hatten. Barockzeitzeitlich konnten Pilgerabzeichen mit ins Grab gegeben werden, um am Tag des Jüngsten Gerichts zu bezeugen, dass man ein gottgefälliges Leben geführt hat. Heute werden auch gerne „Liebesgaben“ der Hinterbliebenen mit in den Sarg gelegt.
Dani Behnke: Welche Formen sind hier in Konstanz noch nachweisbar?
Carola Berszin: In Konstanz sind für die Römerzeit Körper- und Brandbestattungen nachweisbar. Ab dem Frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit wurde körperbestattet. Die Friedhöfe befanden sich in der Altstadt. 1541 wurde der „alte Schottenfriedhof“ außerhalb der Stadtmauer eingeweiht und 1870 stillgelegt. Danach wurden die Konstanzer und Konstanzerinnen auf dem Hauptfriedhof beerdigt. In Konstanz gibt es heute sehr viele Möglichkeiten der Feuer- und Körperbestattungen, außer der Seebestattung sowie der Aschenverstreuung, diese sind nicht erlaubt. Bei der Körperbestattung kann man beispielsweise eine Aussegnung in der Trauerhalle und Ansprachen am offenen Grab wählen. Bei der Feuerbestattung wird die Urne im Allgemeinen nach der Trauerfeier auf dem Friedhof beigesetzt. Die Trauerfeier kann aber auch am aufgebahrten Sarg stattfinden, der dann im Anschluss eingeäschert wird. Ist keine kirchliche Beerdigung gewünscht, kann ein Trauerredner oder Trauerrednerin engagiert werden. Diese können aber auch aus der eigenen Familie bestimmt werden. Auf dem Hauptfriedhof in Konstanz kann man die Bestattungskultur der letzten 150 Jahre nachvollziehen. Zusätzlich gibt es zudem den israelitischen Friedhof und ein muslimisches Grabfeld. Es können ebenfalls nicht bestattungspflichtige Totgeburten („Sternenkinder“) auf einem eigenen Grabfeld beigesetzt werden.
Dani Behnke: Es scheint heute eine Abwendung von tradierten Ritualen zu geben, eine Hinwendung zu neuen Formen (Friedwald etc.). Wo könnten dafür die Gründe liegen?
Carola Berszin: Die Menschen scheinen schon immer das Bedürfnis gehabt zu haben, auch über ihren Tod hinaus ihr Begräbnis mitbestimmen zu wollen. Die Begräbnisse der vergangenen Zeiten gelten als Spiegelbild der Gesellschaft und ihres Umgangs mit Tod und Religion. Heute findet das Sterben meistens in den Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizhäusern statt und weniger zu Hause. Der Tod in den Medien ist dagegen allgegenwärtig. Der sehr verbreitete Wunsch nach pflegelosen sowie anonymen Urnengräbern und Urnengemeinschaftsgrabstätten ist in der Regel die Bitte des Verstorbenen, den Hinterbliebenen so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Man wäre aber gut beraten, schon zu Lebzeiten darüber zu sprechen, was die Hinterbliebenen für ihre Trauerbewältigung benötigen. In Deutschland herrscht nach wie vor der Friedhofszwang. Neue Formen wie Friedwälder gehören mittlerweile dazu. Zusätzlich kann man sich beispielsweise zum Erinnerungsdiamanten für die Hinterbliebenen aus der Asche pressen lassen. Heutzutage können viele Menschen in Europa individueller und freier leben. Dies spiegelt sich auch in den immer vielfältigeren Bestattungsritualen wider. Eine neue Möglichkeit stellt das „Reerdigung“ dar. Durch ein bestimmtes Verfahren wird der Körper bis auf die Knochen nach 40 Tagen zu Humus. Die Knochen werden zermahlen und dem Humus untergemischt. Danach erfolgt die Bestattung mit den gewünschten Ritualen. Auch heute hat die Obrigkeit die Macht – durch den gesetzlich vorgeschriebenen Friedhofszwang – Menschen ihren letzten Wunsch, wie Ausstreuung der Asche an seinem Lieblingsplatz zu Lebzeiten, zu verwehren.
Das Interview mit Carola Berszin führte Dani Behnke
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