Landtagswahl Thüringen Werbung Remigration 2024 © Pit Wuhrer

Wahlsieger und das dumpfe Grollen

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Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen stellen sich viele Fragen: Wovon profitiert die AfD, wie wäre sie zu stoppen? Wofür steht das Bündnis Sahra Wagenknecht? Und welche Fehler macht die Linke? Der gesamtgesellschaftliche Ruck nach rechts ist jedoch nicht unausweichlich – zu diesem Schluss kommt der Soziologe und Gesellschaftsanalytiker Sighard Neckel im Gespräch mit Wolfgang Storz für den Blog Bruchstücke.

Wolfgang Storz: Derzeit wähnen sich ganze Bevölkerungsgruppen in einer Diktatur, Bauern und Spediteure blockierten vor kurzem noch Straßen, hängten die Ampel an Galgen auf, der Vizekanzler und zahllose Politiker:innen wurden und werden körperlich bedroht, Verachtung prägt Debatten — was braut sich da zusammen? Was sind die Ursachen für diese Enthemmung?

Sighard Neckel: Dass Bauern mit ihren Treckern und Güllewagen protestierend umherziehen und die Inhaber politischer Macht an den Galgen wünschen, gehört eigentlich zur Folklore von Bauernprotesten, wie wir sie schon seit langer Zeit kennen. In diesem Protestrepertoire spielt seit je her die Imagination eine bedeutsame Rolle, Bauern würden für unsere materiellen Lebensgrundlagen sorgen, weshalb ihnen sehr elementare Widerstandsaktionen zukämen. 

Und dann ruft man hier noch die alte Vorstellung auf, dass der Bauernstand einer politischen Oberherrschaft ausgeliefert sei, gegen die ein Aufbegehren nur allzu verständlich wäre. Dass heute allerdings keine Lehnsherren für die oft missliche Lage der Bauern verantwortlich sind, sondern Agrarkonzerne mit ihren Preiskämpfen, geht in diesem Protestrepertoire zumeist unter. 

Auch Protestaktionen von typischen Mittelständern wie Spediteuren oder Handwerkern sind an sich kein neues Phänomen. Seit Jahrzehnten sieht sich der gewerbliche Mittelstand bedroht, wann immer Regierungen steuerlich, gesetzlich oder regulativ in die Wirtschaft eingreifen wollen. Heute sind es die zaghaften Versuche einer Klimapolitik, die dieses klassische Protestpotential auf die Straße bringen. Wenn staatliche Regulationen versuchen, eine herkömmliche Klientelpolitik zu überschreiten, brechen überall Widerstände auf.

Storz: Also keine Aufregung, alles politischer Normalbetrieb?

Neckel: Nicht unbedingt. Der entscheidende Unterschied zu früher ist, dass diese Widerstände heute in der AfD ein eigenes politisches Angebot gefunden haben. Und zudem werden diese Widerstände, die ursprünglich eher berufsständisch geprägt sind, vermengt mit der grundsätzlichen Abwehr gegen eine Gesellschaftspolitik, die sich stärker den Herausforderungen moderner Sozialordnungen gestellt hat. Sie folgt nicht mehr unumwunden dem Ideal des geschlossenen nationalen Wohlfahrtsstaats, vertritt eine kulturelle Liberalisierung und öffnet sich den Fragen einer Migrationsgesellschaft. 

Sighard Neckel

ist Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Studium des modernen Kapitalismus und des sozialen Wandels, den er gegenwärtig in ökonomischer, sozialstruktureller und kultureller Hinsicht durchläuft.

Neckel war ihm Rahmen von Gastprofessuren und Fellowships unter anderem an der Duke University (USA), am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) Wien, an der Seoul National University (Südkorea). 

Nach dem Buch „Nachhaltigkeit und Kapitalismus“ erscheint demnächst der von ihm von ihm (und Philipp Degens) herausgegebene Band „Das Scheitern des grünen Kapitalismus“ (im Campus-Verlag).

Die AfD sammelt die Gegner all dieser Entwicklungen ein — im Bürgertum ebenso wie, sehr erfolgreich, in den Arbeiterschichten. Die AfD speist zudem ein zentrales Narrativ in die Widerstandsnester gegen diese gesellschaftlichen Umbrüche ein: die Erzählung vom Verrat der Regierung an ihren eigenen Leuten, wogegen jeder Widerstand berechtigt sei. Dies hat zu einer Verwilderung der politischen Auseinandersetzungen geführt und zu einer Enthemmung gegenüber den Regierenden und dem politischen Personal, die sich heute bis zu gewalttätigen Angriffen steigert.

Storz: Ein Blick zurück: Im Herbst 2022, als Zehntausende vor allem in Ostdeutschland gegen hohe Energiepreise demonstrierten, warnte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow vor der „Bildung einer neuen öffentlich sichtbaren faschistischen Bewegung“. War das übertrieben? Oder schon damals präzise beschrieben?

Neckel: Man wird kaum von der Hand weisen können, dass wir, nicht allein in Thüringen, mittlerweile ein politisches Milieu und entsprechende Bewegungen vorfinden, die wie selbstverständlich zahlreiche Elemente faschistischer Ideologien in ihren verfestigten Weltbildern vereinen. Dazu zählen die Verachtung der kulturellen Moderne und der liberalen Demokratie, der Hass auf die sogenannten „Eliten“, die Identifikation mit autoritären Führern und dem völkischen Ideal eines ethnisch homogenen Staates, der Hang zur Irrationalität und Esoterik, ein Traditionskult von Härte und Heldenmythologien. Das mischt sich mit einem entsicherten Individualismus, der jede Einschränkung der privaten Willkürfreiheit als diktatorische Anmaßung versteht. 

Insofern verbinden sich heute klassische Elemente aus dem Weltbild des Faschismus mit den typischen Attitüden des modernen Marktradikalismus.

Storz: Der Eindruck: Es brechen sich Groll und Ressentiments gegen die Politik, gegen das System, gegen die da oben Bahn. Welches Ziel haben diese Gefühls-Aufstände? Den Umsturz der jetzigen demokratisch-parlamentarischen Ordnung?

Neckel: Es ist geradezu ein Merkmal von Groll und Ressentiment, dass sie eigentlich ziellos sind. Schon der Soziologe Max Scheler hat den emotionalen Antrieb des Ressentiments als „Racheimpuls“ geschildert, der sich passende Anlässe sucht, um sich für selbstempfundene Kränkungen bei Sündenböcken schadlos zu halten. Heute nährt sich dieser Groll insbesondere von der Vorstellung, dass Migranten, sozial Schwache und öffentlich markierte Opfergruppen, aber auch kulturelle Eliten, vom Staat ständig bevorzugt werden, während das eigentliche Staatsvolk („Deutschland, aber normal“ – AfD) zurückstehen müsse. Die Wahlerfolge von Rechtsextremen verdanken sich nicht zuletzt der politischen Einladung, solchen Groll weithin hörbar werden zu lassen.Das ist vielfach ein Selbstgenuss extremer Systemkritik, der sich um konkrete Veränderungen nicht schert.

Storz: Ist die neue Partei von Sarah Wagenknecht, das BSW, hier eine denkbare Antwort, die den Rechtspopulisten das Wasser abgräbt? Eine linke Partei, sozial, für materielle Umverteilung, national gesinnt, für hohe Grenzen für Geflüchtete, für Erhalt des bisher Normalen.

Neckel: Das BSW nährt sich nicht weniger von Ressentiments, die bisher hauptsächlich von der AfD bewirtschaftet wurden. Überhaupt ist die Gründung dieser Partei Ergebnis eines durchgeplanten Kalküls, Stimmungen politisch abzuschöpfen, die bisher ziellos im öffentlichen Raum vagabundierten. Ob das aufgeht, wird sich erst noch zeigen. Bisher hat das BSW in Wahlen weniger der AfD geschadet als der SPD und der Linken.

Storz: Was soll an alledem links sein?

Neckel: Zu den Vorbildern des BSW gehören Politikertypen wie in Frankreich Jean-Luc Mélenchon, der vor allem für Leute wie Oskar Lafontaine zum Idol geworden ist. Das ist eine vergiftete Linke, die ihre Systemopposition anti-westlichen Affekten, Amerikafeindschaft, linkem Antisemitismus und einem Flirt mit dem Autoritarismus verdankt. Im Vergleich zu Mélenchon tritt Wagenknecht bürgerlicher auf, weil sie auf Koalitionen mit den Konservativen schielt. Mélenchons Partei France insoumise ist auf fatale Weise linkspopulistisch und versucht, zur Heimstatt des französischen islamo-gauchisme zu werden, der westliche Werte verachtet. 

Aber er hat zumindest noch den Kampf gegen die Klimakrise im Programm, wohingegen für Wagenknecht die Grünen der politische Hauptfeind sind; sie setzt auf das Aufbegehren gegen die Migrationsgesellschaft und auf ein Bündnis mit Russland. Beim Bürgergeld fällt ihr, unisono mit den Konservativen und der AfD, als erstes die „Gefahr des Missbrauchs“ ein – was sie vor allem dazu benutzt, die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben. Was soll an alledem links sein?

Storz: Bisher stand der Großkonflikt um die sozial-ökologische Umgestaltung im Mittelpunkt. Ist dieser Großkonflikt jetzt abgesagt? Weil sich alles um die Rettung der Demokratie dreht?

Neckel: Wenn die Demokratie den Bach hinunter geht, wird es auch nichts mit der sozial-ökologischen Transformation. Die autokratischen Systeme und Diktaturen dieser Welt haben zumeist die schlechtesten Öko-Bilanzen, während in modernen Demokratien um den Klimaschutz zumindest gerungen werden kann. Klimapolitik treibt so viele gesellschaftliche Konflikte hervor, die allesamt darauf angewiesen sind, sich öffentlich artikulieren zu können. Sonst stehen einem höchstens ökologische Notstandsregime ins Haus, die einen ökologischen Umbau in den Augen breiter Bevölkerungsgruppen nur nachhaltig diskreditieren.

Storz: Demokraten haben in diesen Monaten viel Angst, sind hasenfüßig und oft zerstritten: Es heißt, überall sind die Autoritären auf dem Vormarsch. Die Fakten: In Frankreich wurde Le Pen wider Erwarten von einer linken Volksfront ausgebremst, die rechtspopulistische PIS verlor in Polen, bei der EU-Wahl gewannen Linke und Grüne in Skandinavien, Labour gewann in Großbritannien, Italiens Linke gewann bei den jüngsten Kommunalwahlen viele Großstädte zurück, und in den USA könnte der Rechtspopulist Donald Trump gegenüber der liberal-emanzipativen Kamala Harris bald ganz schön alt aussehen. Mit anderen Worten: Dass unsere Demokratien reihenweise in Autokratien umgebaut werden, auch noch auf Basis von Mehrheitsentscheidungen, das ist doch alles andere als ein Naturgesetz — oder?

Neckel: Ganz richtig. Die Stärke des politischen Autoritarismus im letzten Jahrzehnt entstand nicht zuletzt aus der Schwäche der Linken und der progressiven politischen Kräfte, die sich jetzt hoffentlich wieder besinnen. Linke Identitätspolitik, die hauptsächlich auf den Wert der Besonderheit achtet, hat einem politischem Separatismus Vorschub geleistet, von dem die Rechtsextremen als vermeintliche Vertreter des einfachen Volkes nur profitiert haben.

Die Arbeiterklasse wurde den Nationalradikalen überlassen, weil man sich vom Kampf für soziale Anrechte, für ökonomische Umverteilung und gegen die Privilegien der modernen Reichtumsklassen weitgehend verabschiedet hatte. Klimapolitik und Nachhaltigkeit schienen Themen von Gutverdienenden zu sein, während die einfachen Leute draufzahlen müssen. Die Probleme einer Migrationsgesellschaft wurden beschönigt und das Eintreten für einen starken Rechtsstaat, für die säkularen Werte der Demokratie fiel oftmals viel zu halbherzig aus – um nur die gravierendsten Fehler der politischen Linken im letzten Jahrzehnt zu nennen.

Nun haben die jüngsten Wahlerfolge progressiver Bündnisse und Parteien in manchen europäischen Ländern ganz sicher auch jeweils spezifische Gründe, die man nicht einfach verallgemeinern kann. Ein gemeinsames Muster aber ist, dass diese Bündnisse bisweilen erst durch die Gefahr einer Regierungsübernahme von Rechtsextremen erzwungen worden sind. Auf Dauer wird das nicht halten, ohne sich selbst ein Programm zu geben, für welche elementaren Grundsätze von sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und Verteidigung der Demokratie man eigentlich eintreten möchte.

Storz: Es heißt: Am Tag nach der Entscheidung von Emmanuel Macron, für Neuwahlen die Nationalversammlung aufzulösen, habe Marine Tondelier, Vorsitzende der französischen Grünen, per Telefon alle linken Parteispitzen zusammengetrommelt und zwei Tage später sei dieses Wahlbündnis Nouveau Front Populaire gestanden. In diesen Zeiten kommt es also sehr auch auf Mut und Wachheit einzelner Politiker:innen an?

Neckel: Sicher braucht es auch die Entschlossenheit einzelner Politiker:innen, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Mutlosigkeit in entscheidenden Augenblicken hat sich in der Geschichte von Demokratien mehr als einmal gerächt. Wer – etwa als Regierungschef – auf ein Amtscharisma setzt, das eher an die Ministerialbürokratie erinnert, hat da schon mal schlechte Karten. Dann wirken auch richtige Ansagen – „Zeitenwende“ – wie auswendig gelernte Anflüge von politischer Leidenschaft, die schnell wieder verflogen sind.

Das ganze Interview erschien zuerst im Blog Bruchstücke. Es wurde einen Monat vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen geführt, hat aber nichts an Aktualität eingebüsst. Wir danken für die Genehmigung zur Nachveröffentlichung.

Foto von Sighard Neckel: Stephan Röhl auf wikimedia commons; Bilder aus dem thüringischen Landtagswahlkampf: Pit Wuhrer

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