Anfang Jahr demonstrierten auch in unserer Region Zehntausende für die Demokratie – und gegen die Zumutungen der Rechtsextremen von AfD und Konsorten. Aber ist unser parlamentarisches System wirklich so egalitär, wie viele meinen? Haben in ihm tatsächliche alle dieselben Rechte? Oder müsste sich nicht auch da einiges ändern?
Unsere Demokratie verspricht jeder Staatsbürger:in das gleiche Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen. In zwei Studien („Government of the people, by the elite, for the rich“ und „Not just Money“ untersuchten Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer, ob dieses Versprechen in Deutschland eingehalten wird.
Dabei stellten sie fest: Die Meinungen unterer gesellschaftlicher Gruppen haben keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Nur wenn wohlhabende, besser gebildete Gruppen politische Projekte unterstützen, werden diese umgesetzt. Einkommensschwache Gruppen bekommen ihren Willen also nur dann, wenn dieser mit den Interessen von reichen Schichten übereinstimmt. Oder, wie es im Titel der ersten Studie heißt: „Eine Regierung des Volks – durch die Elite für die Reichen“.
Basierend auf Umfragen des Deutschlandtrends und des Politbarometers haben die Wissenschaftler:innen für den Zeitraum 1980 bis 2013 untersucht, welche politischen Themen zur damaligen Zeit von welcher sozialen Gruppe Zuspruch erhielten. Und ob die jeweiligen Themen innerhalb der folgenden vier Jahre in einem parlamentarischen Beschluss mündeten.
746 Fragen wurden auf diese Weise ausgewählt und in zwei Politikdimensionen eingeteilt: Wirtschaftliche Maßnahmen, die entlang der Debatte „Staat versus Markt“ verlaufen, sowie kulturpolitische Maßnahmen, die sich entlang der Debatte über individuelle Rechte („Universalismus versus Partikularismus“) bewegen. Die Befragten wurden nach ihrem Beruf, ihrer Ausbildung oder ihrem Einkommen gruppiert. Unterschieden wird zwischen gelernten und ungelernten Arbeiter:innen, einfachen Angestellten, höheren Angestellten, Beamt:innen und Unternehmen – und (bei der Bildung) zwischen Hauptschul-, Realschulabschluss und Abitur.
Ohne Einfluss aufs Regieren
Die Ergebnisse zeigen über alle Regierungen, alle Themen und alle verschiedenen Gruppierungen hinweg, dass die Meinung der unteren Schichten keinerlei Einfluss auf tatsächliche Regierungsentscheidungen hat.
Schlimmer noch: Die Interessen unterer Einkommensgruppen haben – so die Studie – sogar einen negativen Einfluss auf Regierungsentscheidungen. Je mehr arme und ärmere Menschen ein bestimmtes politisches Projekt befürworten, desto unwahrscheinlicher wird dessen Umsetzung: Für die mittlere Einkommensgruppe zeigt sich nahezu kein Zusammenhang zwischen Meinung und politischer Umsetzung, während für die oberen Einkommensschichten eine sehr klare Korrelation besteht.
Die Grafik zeigt den Einfluss verschiedener Einkommensgruppen auf politische Entscheidungen. Die Balken repräsentieren die Wahrscheinlichkeit, dass eine politische Maßnahme umgesetzt wird, je nach Unterstützung durch die jeweilige Einkommensgruppe. Höhere Werte bedeuten eine größere Wahrscheinlichkeit der Umsetzung. Die farbigen Balken stellen den durchschnittlichen Einfluss dar, während die schwarzen Balken die Unsicherheit der Schätzungen anzeigen. (Für eine genauere Diskussion: Die Werte entstammen Tabelle A-6 aus den Zusatzinformationen (SI) der Studie).
Unternehmer:innen und Beamt:innen haben das Sagen
Ähnliche Ergebnisse erhält man bei der Einteilung nach Berufen. Nahezu keinen Einfluss auf politische Entscheidungen der Debatte „Staat versus Markt“ hat die Meinung von ungelernten und gelernten Arbeiter:innen sowie von einfachen Angestellten. Erst ab der Gruppe der höheren Angestellten aufwärts wird ein Effekt sichtbar. Über den größten Einfluss verfügen Beamt:innen und besonders die Chef:innen der Unternehmen.
Ein leicht verändertes Bild ergibt sich im kulturpolitischen Bereich. Hier haben Beamt:innern den größten Einfluss, gefolgt von höheren Angestellten und erst dann den Unternehmensvertreter:innen. Der Einfluss der einfachen Angestellten sowie der gelernten Arbeiter:innen ist etwas höher, allerdings nicht sehr. Die Meinung von ungelernten Arbeiter:innen auf kulturpolitische Entscheidungen ist hingegen vernachlässigbar.
Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass politische Entscheidungen in Deutschland primär von der Meinung reicher, gebildeter Menschen abhängen.
Dennoch heißen die Ergebnisse nicht, dass die durchschnittlichen Wähler:innen nie die Politik bekommt, die sie möchten: In den meisten Fällen stimmen die Präferenzen von mittleren und hohen Einkommen überein und in vielen Fällen auch mit denen der ärmeren Einkommensschichten.
Die Meinungen ärmerer und mittlerer Einkommen haben aber einen geringen Einfluss auf die tatsächlichen Entscheidungen – vor allem dann, wenn die Meinungen deutlich divergieren. Dann wird die Entscheidung nahezu immer zugunsten reicher Menschen fallen.
Medien und Demokratie
Die Untersuchungen beziehen sich auf Umfragen des Deutschlandtrends oder des Politbarometers. Bis dahin durchlaufen politische Fragestellungen aber noch diverse Medienfilter. Wie Edward Herman und Noam Chomsky bereits 1988 zeigen konnten, dienen Massenmedien den Interessen dominanter, elitärer Gruppen in der Gesellschaft – indem sie Informationen filtern.
Das aber bedeutet, dass die politische Ungleichheit deutlich stärker ist, da in den vorliegenden Studien lediglich finale Umfrageergebnisse verwendet wurden, nachdem diese durch die Medienfilter gelaufen sind.
Deutschland ist mit dieser großen politischen Ungleichheit übrigens kein Einzelfall. Ähnliche Studien gibt es für die meisten europäischen Länder sowie die USA – und sie kommen zu vergleichbaren Ergebnissen. Was die spannende Frage aufwirft: Warum ist die westliche Demokratie so undemokratisch?
Eine Antwort auf diese Frage erscheint demnächst im zweiten Teil des Beitrags.
Text und Grafik: Manuel Oestringer; Foto (Kundgebung gegen rechts am 31. Januar in Radolfzell): Pit Wuhrer
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