Die philosophische Welt beging vorgestern den 300. Geburtstag Immanuel Kants. Bei einem solchen Jubiläum drängt sich natürlich die Frage auf, welche Wirkung Kants Denken nicht nur zu seinen Lebzeiten hatte, sondern was den Königsberger Philosophen für uns noch immer derart aktuell macht. Eine Antwort gibt der Philosoph Gottfried Gabriel in seinem Geburtstags-Vortrag „Kant und das Projekt der Aufklärung“.
Teil 2/2, Teil 1 finden Sie hier
Kants Pflichtethik steht im Gegensatz zu sämtlichen Ethiken, deren vorrangiges Ziel es ist, das Glück der Menschen zu befördern. Glück beziehungsweise Glückseligkeit, wie Kant sich ausdrückt, wird von ihm bestimmt als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (AA V, S. 124). Obwohl der Mensch von Natur aus nach Glück strebe, könne dieses Streben nicht die Grundlage einer allgemein verbindlichen Moral bilden. Glück bedeute für Menschen sehr Unterschiedliches, und die Glücksvorstellungen einzelner Menschen können sich, wie Kant betont, im Laufe ihres Lebens auch ändern (AA V, S. 25). Als Bestätigung lässt sich anführen: Während das Glück der Jugend darin besteht, dass einem möglichst viel zuteil wird, besteht das Glück des Alters eher darin, dass einem möglichst viel erspart bleibt. Das Streben nach persönlichem Glück ist für Kant durchaus legitim, man dürfe darauf aber keine Rücksicht nehmen, „so bald von Pflicht die Rede ist“ (AA V, S. 93).
Kants Ethik ist universalistisch und nicht partikularistisch. Dies kommt bereits in der zitierten Formulierung des kategorischen Imperativs zum Ausdruck. Eine „allgemeine Gesetzgebung“ ist eine Gesetzgebung, die für alle gilt. Das heißt: Alle haben sich daran zu halten, und alle sind inbegriffen, niemand wird ausgegrenzt. Mit ‚alle‘ sind alle vernunftbegabten Wesen gemeint, die nach Kant nicht auf Menschen beschränkt sein müssen, sondern auch vernunftbegabte Wesen auf anderen Planeten einschließen würden.
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Ebenfalls universalistisch ist – jedenfalls der Idee nach – das Christentum. Es lässt sich als eine präskriptive, universalistische und materiale Wertethik verstehen, deren höchstes Gebot das Gebot der Nächstenliebe ist. Auch das Christentum ist keine Glücksethik; denn seinen Nächsten zu lieben, macht nicht unbedingt glücklich.
Kant lehnt das Gefühl der Liebe als Grundlage des moralischen Handelns in der Kritik der praktischen Vernunft entschieden ab. Für ihn gilt nicht das Hohelied der Liebe, in dem es heißt „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“.5 Kant stellt auch mit Blick auf das Christentum grundsätzlich in Frage, dass man überhaupt ein Liebesgebot aufstellen kann; „denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.“ (AA V, S. 83) Demzufolge heißt es in der Metaphysik der Sitten, dass „eine Pflicht zu lieben ein Unding“ sei (AA VI, S. 401).
Kant wird man so weit folgen können: Statt demjenigen, den wir vielleicht nicht leiden können, in angestrengter und dann ‚säuerlicher‘ Liebe zu begegnen, ist dieser als Person zu achten. Diesen Gedanken bringt die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zum Ausdruck: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, S. 429)
Von „Liebe als Neigung“ und damit als Gefühl unterscheidet Kant allerdings ein „Wohltun aus Pflicht“ (AA IV, S. 399), welches unserem Nächsten gegenüber geboten ist, und zwar unabhängig davon, ob man diesen „liebenswürdig“ findet. (AA VI, S. 450) In diesem praktischen Sinne deutet Kant dann auch das christliche Liebesgebot.
Die Frage bleibt, ob Kant mit seiner strikten Zurückweisung einer gefühlsbasierten Liebesethik nicht zu weit geht. Eine solche Tendenz deutet bereits der Kantianer Schiller mit Bezug auf die Freundesliebe an. Ironisch heißt es in dem Zweizeiler Gewissensskrupel: „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“6
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Man kann Kant zugestehen, dass die Liebe nicht die Grundlage der Moral, nämlich das Kriterium der Beurteilung von Handlungen abgeben kann, weil sie so oder so, also auch als Nächstenliebe, ein subjektives Gefühl ist. Warum aber soll die Liebe nicht eine zusätzliche Motivationshilfe für die Ausführung einer Handlung nach dem kategorischen Imperativ abgeben?
Immerhin betrachtet Kant es in der Metaphysik der Sitten selbst als Pflicht, „sein Gewissen zu kultivieren“ (AA VI, S. 401), und das Gewissen ist als Schuldgefühl ja auch gefühlsbasiert. Es ist zudem so, dass die Ausbildung von Mitgefühl und Mitleid überhaupt erst für Fragen der Moralität empfänglich macht. Als Bestätigung kann Kants Verurteilung der Tierquälerei herangezogen werden, in der er betont, dass durch eine derartige Verrohung auch das Mitgefühl mit anderen Menschen „geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird“ (AA VI, S. 443).
Hier spricht Kant selbst den Gedanken aus, dass die Moralität des Menschen durch Mitgefühl gestärkt wird. Gefühle wie Liebe und Empathie sind demnach für eine moralische Sensibilisierung nicht nur zulässig, sondern sogar hilfreich. In diesem Sinne ist es für Kant denn auch „indirekte Pflicht, die mitleidigen natürlichen […] Gefühle in uns zu kultivieren“ (AA VI, S. 457).
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Was die Begründung der Ethik betrifft, so ist bei Kant für Gefühle allerdings kein Platz. Kant ist entschiedener Vertreter des Kognitivismus, indem für ihn die Richtigkeit moralischer Urteile einzig durch Vernunft zu begründen ist. Als Vertreter der Gegenposition des Emotivismus ist zum Beispiel Schopenhauer anzuführen. Für diesen ist die Grundlage der Ethik das Gefühl des Mitleids mit der leidenden Kreatur. Ausdrücklich einbezogen sind dabei die Tiere, weil sie leidensfähig sind.
Im Unterschied zur Liebe, die auch Momente der positiven Anteilnahme enthält, nämlich die Mitfreude mit Anderen, ist das Mitleid eine Form negativer Anteilnahme. Schopenhauers Mitleidsethik hängt mit seinem Pessimismus zusammen, wonach Leben wesentlich Leiden heißt. Ungeachtet dieses Pessimismus ist in der Mitleidsethik ein Aspekt angesprochen, um den eine kantische Vernunftethik im Sinne einer moralischen Sensibilisierung zu ergänzen wäre.
Für Kant ist nichts gut als der gute, nach verallgemeinerbaren Vernunftgründen handelnde Wille. Kants Ethik wird deshalb auch als Gesinnungsethik charakterisiert und ihr eine Verantwortungsethik gegenübergestellt, die den moralischen Wert einer Handlung nach deren Folgen beurteilt und daher auf einen heute so genannten Konsequentialismus hinausläuft. Tatsächlich verlangt Kant aber mehr als eine gute Gesinnung, die auch „bloßer Wunsch“ bleiben könnte. Er fordert nämlich einen guten Willen „als Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“ (AA IV, S. 394).
Auch für Kant gilt Erich Kästners Epigramm „Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.“ Der tätige gute Wille hat für ihn allerdings einen „Wert in sich selbst“, so dass die Folgen nicht entscheidend sind. Nun ist aber in unseren heutigen Zeiten unbegrenzter technischer Verfügbarkeit verstärkt auf mögliche Konsequenzen des Handelns zu achten. Obwohl für Kant der einzelne Mensch als „Zweck an sich selbst“ im Mittelpunkt steht, bedenkt er durchaus den Gedanken einer kollektiven Verantwortung, indem er die „Menschheit“ in seiner Ethik mit einbezieht (vgl. die oben zitierte Selbstzweckformel und AA V, S. 87).
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Kommen wir nach der Beschreibung der Grundzüge von Kants Ethik auf Kants aufklärerische Auffassung der Religion in ihrem Verhältnis zur Ethik zurück. In der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) beurteilt Kant Religion einzig nach ihrem moralischen Wert und betont, dass sie nicht die „Tugendgesinnung“ ersetzen dürfe, sondern diese vielmehr befördern müsse.
Unterschieden wird zwischen Religion der Idee nach und der Ausübung von Religion, also dem religiösen Ritus. Diesem billigt Kant eine sozusagen stabilisierende Wirkung zu, warnt aber davor, den Ritus und überhaupt die „sichtbare Kirche“, nämlich die jeweils bestehende Institution der Kirche, mit der Sache der Religion selbst gleichzusetzen. Eine solche Gleichsetzung würde unweigerlich in einen bloßen „Afterdienst“ übergehen. Gemeint ist damit eine Liebedienerei und Beflissenheit in äußerlichen Dingen. Dabei schließt Kant in seine Bedenken auch denjenigen Standpunkt ein, der den „Geschichtsglauben“ als Glauben an eine ganz bestimmte Offenbarung über die „Bestrebung zum guten Lebenswandel“ stellt, statt ihn „bloß als Mittel für die moralische Gesinnung“ zu sehen (AA VI, S. 178f.). Damit wird deutlich, was der Zusatz „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ im Titel von Kants Religionsschrift für die Religion besagt.
Die Unterscheidung zwischen Kirche und Religiosität ist gerade heute zu bedenken; denn ein Austritt aus der Kirche kann sogar im Namen einer recht verstandenen Religion erfolgen.
Mit seiner Konzeption einer moralischen Vernunftreligion weicht der Protestant Kant von Luthers Gnadenlehre ab, nach welcher der Mensch nicht durch gute Werke, sondern allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) das Heil erlangen könne. Er unterstellt geradezu, dass dieser Gedanke es dem Menschen erlaube, ausweichend auf die Gnade Gottes zu setzen, anstatt das moralische Gebot zu erfüllen (AA VI, S. 200f.). Hier bedenkt Kant nicht, dass wir, wie es im Römerbrief (3, 23f.) heißt, „allzumal Sünder“ sind und daher auf Gnade angewiesen bleiben; aber vielleicht war Kant ‚Anfechtungen‘ weniger ausgesetzt als dies bei Normalsterblichen der Fall ist.
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Das Projekt der Aufklärung rief die Gegenaufklärung auf den Plan. In der Schrift Das Ende aller Dinge (1794) gibt Kant deutlich zu verstehen, dass ein auf Lippenbekenntnisse gestütztes autoritäres Christentum nicht ein Werkzeug Gottes, sondern des „Antichristen“, also des Teufels ist (AA VIII, S. 339). Solche Aussagen riefen die Zensur auf den Plan. Man drohte Kant sogar Berufsverbot an, woraufhin dieser sich weiterer Äußerungen in Religionsfragen enthielt. Er lieferte damit einen Beleg dafür, dass das Projekt Aufklärung im Zeitalter der Aufklärung noch nicht verwirklicht worden war. Hatte er doch gerade die Freiheit des Wortes als unabdingbare Voraussetzung der Aufklärung gefordert. Zensur ist auch heute ein sicheres Indiz für einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung.
Die Berechtigung des religiösen Glaubens legt Kant in der Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft dar (AA V, S. 113–119). In dieser Antinomie geht es um den Widerspruch zwischen Tugend und Glückseligkeit, nämlich um das Problem, dass ein moralisches Verhalten keineswegs dazu führen muss, auch glücklich zu werden. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang in dieser Welt, der derlei garantieren würde. Die „Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit“ ist vielmehr ein Postulat (AA V, S. 125), dessen Realisierung man in unserer Welt nicht erwarten kann, sondern lediglich für den Bereich jenseits dieser Welt erhoffen darf. Notwendige Voraussetzung für die Erfüllung dieser Hoffnung ist die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes, die beide nicht bewiesen, sondern nur postuliert werden können.
Die Stellung der Religion lässt die Zusammenstellung der Grundfragen der Philosophie erkennen (Logik AA IX, S. 25):
Der religiöse Glaube gibt Antworten auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ Diese ist von der erkenntnistheoretischen Frage „Was kann ich wissen?“ und der ethischen Frage „Was soll ich tun?“ zu trennen; denn den Glauben durch Wissen absichern zu wollen, bringt nur Scheinwissen hervor, und den Glauben das Sollen bestimmen zu lassen, würde die Reinheit der Moral zerstören.
Die Aufhebung des Wissens, von der Kant in dem bereits erwähnten Zitat aus der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt, dass sie Platz für den Glauben geschaffen habe, bezieht sich nicht auf das Wissen überhaupt, sondern nur auf das angemaßte Wissen der traditionellen Metaphysik. Kants Satz bringt also nichts anderes zum Ausdruck als die Verlagerung des metaphysischen Bedürfnisses aus dem Bereich der theoretischen Vernunft in denjenigen der praktischen Vernunft.
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Wenn Kant die Möglichkeit eines ‚Jenseits‘ – jenseits der empirischen Welt – anerkennt, so trifft ihn gleichwohl nicht die Kritik von Karl Marx. Dieser hat bekanntlich die Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet und damit gemeint, dass die Religion die Menschen durch falsche Vertröstung aufs Jenseits davon abhalte, das Diesseits umzugestalten. Für Kant gilt dies gewiss nicht; denn für ihn bleibt es des Menschen Pflicht, für gerechte Verhältnisse zu sorgen. Diesem Verständnis entsprechend entwickelt Kant die Idee eines „Weltbürgerrechts“, das alle Menschen einschließt. Dementsprechend verurteilte Kant bereits den Kolonialismus, der als Landraub beschrieben wird, und die Sklaverei.
Hoffnungen können nicht nur auf Außerweltliches, sie können auch auf Innerweltliches gerichtet sein. Die innerweltliche Hoffnung ist bei Kant Thema einer aufgeklärten politisch motivierten Geschichtsphilosophie. In dieser geht es um eine innerweltliche Sinngebung des anscheinend Sinnlosen. Sinnlos erscheint uns Geschichte insbesondere dann, wenn wir die Wirklichkeit unter der Perspektive des moralischen Sollens betrachten. Kant will hier eine Vermittlung leisten. Seine Geschichtsphilosophie ist dabei, wie auch seine Religionsphilosophie, ein Anhang zur praktischen Philosophie.
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Kants Überlegungen sind auf verschiedene Schriften verteilt. Als im eigentlichen Sinne geschichtsphilosophische Arbeit ist hervorzuheben Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Sie zeigt, dass Kant nicht fortschrittsgläubig, sondern eher ein Realist war. Er setzte aber mit verhaltenem Optimismus darauf, dass sich eine Entwicklung zum Besseren gerade durch einen „Antagonism[us]“ (AA VIII, S. 20), nämlich durch realen Widerstreit zwischen den einzelnen Akteuren durchsetzen würde, als folge sie einem „verborgenen Plan der Natur“ (AA VIII, S. 27). Geradezu dialektisch sieht Kant auch in der besten gesellschaftlichen Ordnung eine Frucht der „Ungeselligkeit“ (AA VIII, S. 22). Der Kampf aller gegen alle wirke zerstörerisch. Nur auf Sicherheit zu setzen, mache aber träge. Grundlage des Fortschritts der Menschheit sei daher eine ‚gesunde‘, nämlich humane Konkurrenz zwischen den Völkern.
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Dass die dialektische Entfaltung der gesellschaftlichen Widersprüche allerdings auf eine klassenlose Gesellschaft in der diesseitigen Welt und damit auf ein Paradies auf Erden zusteuern würden, derlei wäre Kant nicht eingefallen. In dieser Hinsicht ist wohl eher Marx – und nicht Kant – der Fortsetzer eines ‚naiven’ Fortschrittsdenkens der Aufklärung. Erst recht naiv ist es zu meinen, man könne eine bestimmte Gruppe, das Proletariat, zum Träger, d. h. zum Subjekt einer solchen dialektischen Entwicklung erheben. Für Kant findet dagegen die Entwicklung zum Besseren im Rücken der handelnden Subjekte statt, indem diese, ohne es selbst zu durchschauen – sozusagen unabsichtlich – zu einer positiven Entwicklung beitragen. Hegel hat später in diesem Sinne von einer „List der Vernunft“ gesprochen.
Der Fortschritt besteht für Kant in der allmählichen Herausbildung von Freiheit garantierenden Rechtsverhältnissen nationaler und internationaler Art. Sehr realistisch wiederum verortet Kant in diesem Zusammenhang den Erfolg seiner Moralphilosophie. Wir seien, so stellt er fest, durch Kunst und Wissenschaft „kultiviert“ und dank gesellschaftlicher Konventionen „zivilisiert“, aber noch längst nicht „moralisiert“ (AA VIII, S. 26).
Auf die Frage „Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?“ (eine Frage aus dem bekannten Fragebogen von Max Frisch) hat Wolfgang Niedecken, Sänger der Kölner Band BAP, geantwortet: „Aufgegeben habe ich die Hoffnung, dass die Welt irgendwann nach Kants kategorischem Imperativ funktionieren würde.“
Kant selbst hat diese Hoffnung gar nicht erst gehabt. Er war sich darüber im Klaren, dass die Verwirklichung einer solchen Welt, die er als „Reich Gottes“ auf Erden bezeichnet, „in unendlicher Weite von uns entfernt liegt“ (AA VI, S. 122); denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (AA VIII, S. 23). Es bleibt bei einer richtungsweisenden regulativen Idee.
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Tugend mit allen Mitteln erzwingen zu wollen, führt zum Terror. Hierfür bietet die Rezeption von Rousseau zwei erschreckende Beispiele. Rousseau ist fraglos ein Repräsentant der Epoche der Aufklärung, aber nicht in allen Belangen auch ein Vertreter des Projekts der Aufklärung. Obwohl Kant mit Rousseau nicht gänzlich übereinstimmte, war dieser auch für ihn ein Vorbild, und dies im wörtlichen Sinne: Ein Bildnis Rousseaus war der einzige Schmuck an den Wänden seines Arbeitszimmers.
Problematisch ist Rousseaus Deutung der Entwicklung von Kultur und Wissenschaft als Verfallsgeschichte, die beim Menschen zum Verlust seiner Tugend geführt habe. Dementsprechend fordert er für die Veränderung zum Besseren zunächst eine radikale Umbildung der Gesellschaft. Für diese Umbildung hat Robespierre während der Französischen Revolution den Terror im Namen der Tugend unter Berufung auf Rousseau gerechtfertigt. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist der Anti-Intellektualismus der Roten Khmer. Deren Zwangsmaßnahmen führten in Kambodscha (von 1975 bis 1978) zu einer Schreckensherrschaft. Der Anführer Pol Pot hat sich anscheinend mit seinem Programm „Zurück aufs Land“ auf die Rousseau zugeschriebene Forderung „Zurück zur Natur“ berufen. Jedenfalls hat er sich während seines Studiums in Paris in den fünfziger Jahren im Kreis linker Studenten intensiv mit Rousseau beschäftigt. Pervertierungen im Namen der Tugend finden sich auch in religiösen Sekten. Als abstoßendes Beispiel ist die Colonia Dignidad in Chile anzuführen.
Um derlei zu verhindern, benötigen wir nicht weniger, sondern mehr Aufklärung. Eine Philosophie, die den kritischen Blick der Vernunft schärft, ist in Zeiten von religiösem Fundamentalismus, Verschwörungstheorien, Fake News, alternativen Fakten und der Beliebigkeit von Narrativen nicht nur aktuell, sondern geradezu ein Erfordernis. Dies umso mehr angesichts des anwachsenden Populismus mit dem Ergebnis, dass die Menschen ihre Vernunft wieder „fremder Leitung“ durch einen Führer unterwerfen und somit in die von Kant so genannte „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zurückfallen. Abgeschlossen ist Kants Projekt der Aufklärung also noch lange nicht.
Text: Gottfried Gabriel, Bilder: Gemeinfrei von Wikipedia
Anmerkungen
5 1. Korintherbrief, 13. Kapitel, Vers 1 nach der Lutherbibel.
6 Friedrich Schiller: Xenien; in: Nationalausgabe, Bd. 1, S. 357.
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