Die philosophische Welt beging gestern den 300. Geburtstag Immanuel Kants. Diesen Anlass feierten die Philosoph*innen der hiesigen Universität im Konzil mit einem öffentlichen Vortragsnachmittag zur „Aktualität der Philosophie Kants“. Wir publizieren hier den Beitrag von Gottfried Gabriel, der Kant in den Kontext der Debatten seiner und unserer Zeit stellt.
Teil 1/2, den zweiten Teil finden Sie hier
Zur Erinnerung: Immanuel Kant (1724-1804) gilt manchen als Tugendbold und Pflichtapostel, als ein säuerlicher Moralprediger, der den Kategorischen Imperativ formulierte. Andere wiederum halten ihn für einen typischen Stubengelehrten, der weltfremde Theoriegebäude zusammenwuchtete.
Beides ist falsch, Kant stand durchaus im Leben und nahm an den Zeitläuften ebenso regen Anteil wie an der Fortentwicklung der seinerzeit aufblühenden Naturwissenschaften.
Der folgende Vortrag eines ausgewiesenen Kant-Experten gibt Ihnen die Möglichkeit, sich mit einigen zentralen Facetten des kantschen Denkens vertraut zu machen. Vergessen Sie bei der Lektüre aber die oberste Maxime des philosophischen Handwerks nicht: „Lass‘ Dir Zeit!“
Kant und das Projekt der Aufklärung
von Gottfried Gabriel
Von Aufklärung ist in zweierlei Hinsicht die Rede.
Gemeint ist einerseits das Projekt des Menschen, über sich selbst und seine Situation auf rationale Weise Klarheit zu gewinnen. In diesem Sinne setzt Aufklärung bereits in der griechischen Philosophie mit dem Übergang vom Mythos zum Logos ein. Zu nennen sind hier die Ablösung der Göttergeschichten durch Versuche wissenschaftlicher Erklärungen, wie sie von den Atomisten Leukipp und Demokrit vorgetragen wurden, und das Bemühen des Sokrates um eine an der Idee des Guten ausgerichtete vernünftige Lebensführung. Die Realisierung dieses Projekts der Aufklärung erfolgte in der weiteren Geschichte des Abendlandes mit wechselndem Erfolg. Ein Scheitern drohte in der Kontroverse zwischen katholischer Kirche und neuzeitlicher Naturwissenschaft über die Ersetzung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild. Der Gegensatz zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Erkenntnis blieb in der Folgezeit bestimmend.
Das Projekt der Aufklärung andererseits wurde im 18. Jahrhundert zum zentralen Anliegen der Epoche der Aufklärung, die mit Kant ihren Höhepunkt erreichte.
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Kants Philosophie wird üblicherweise in eine vorkritische und eine kritische Phase unterteilt. Die kritische Phase setzt mit der 1781 veröffentlichten Kritik der reinen Vernunft ein. Diese Kritik ist in erster Linie eine Kritik an der Vernunft, nämlich eine Zurückweisung von angeblichen Erkenntnissen der Vernunft, die die Grenzen der Erfahrung überschreiten.
Die Kritik der Vernunft ist außerdem eine Kritik durch die Vernunft. Das Wörtchen ‚der‘ im Titel Kritik der reinen Vernunft zeigt einen Genitivus objectivus und einen Genitivus subjectivus an. Die Vernunft ist Objekt und Subjekt der Kritik. Wir haben es mit einer Selbstkritik der Vernunft zu tun, mit der Kants Projekt der Aufklärung einsetzt, indem die Vernunft uns über die Möglichkeiten, aber auch über die Grenzen menschlicher Erkenntnis aufklärt. Diese Grenzen sind – im Bilde gesprochen –nicht als Schranken, sondern als Leitplanken zu verstehen. Das heißt: Auf der Straße der Erkenntnis geht es zwar stetig vorwärts, zu achten ist aber darauf, dass man nicht von der Straße abkommt; denn dann gerät man in einen Sumpf vermeintlicher Erkenntnisse.
So werden in der Kritik der reinen Vernunft insbesondere die Versuche, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, widerlegt. Kritisiert werden damit Erkenntnisansprüche der so genannten Metaphysik. Diese Erkenntnisansprüche sind Gegenstand der theoretischen Philosophie, sie haben aber praktische Konsequenzen. So entzieht die Widerlegung der Gottesbeweise und der Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele der Religion jegliche Wissensgrundlage.
Kants Kritik der reinen Vernunft verdanken wir einen wesentlichen Schritt in der Verwirklichung des Projekts der Aufklärung, indem sie eine Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Moral vorbereitet, worauf ich noch ausführlich zurückkomme.
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Als aufgeklärter Denker erweist sich Kant bereits in der vorkritischen Phase im Umgang mit der Frage der Theodizee (von gr. ‚theos‘ = ‚Gott‘ und ‚dike‘ = ‚Gerechtigkeit‘). In der Theodizee geht es um die Rechtfertigung Gottes angesichts der offensichtlichen Übel in dieser Welt. Ein Standardargument zur Rechtfertigung Gottes besagt: Zwar hätte Gott die Welt so einrichten können, dass die Übel nicht eintreten; aber dann hätte er dem Menschen letztlich seinen freien Willen nehmen müssen, so dass nicht nur die Gestirne in ihrem Lauf, sondern auch die menschlichen Handlungen determiniert wären. Eine solche Welt wäre aber nicht wünschenswert.
Leibniz erklärte die wirkliche Welt sogar zur besten aller möglichen Welten. Dem widersprach Voltaire mit seiner satirischen Novelle Candide oder der Optimismus (1759). Der Ausdruck ‚Optimismus‘ war ursprünglich ein Schimpfwort für die Position von Leibniz. Die Gegenposition zum Optimismus ist bekanntlich der Pessimismus, dessen Hauptvertreter Schopenhauer die wirkliche Welt zur schlechtesten aller möglichen Welten erklärte.
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Den Anlass für Diskussionen zur Problematik der Theodizee gab unter anderem das furchtbare Erdbeben von Lissabon (am 1. November 1755), das nach Berechnungen bis zu hunderttausend Tote gekostet haben soll und Lissabon fast vollständig zerstörte. Das Erdbeben war ein Seebeben vor der Küste Portugals, das einen Tsunami auslöste.
Dieses Beben erschütterte Europa im wahrsten Sinne des Wortes. Auch damals galt, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe war. Ausgehend von der Frage, wie Gott so etwas zulassen konnte, setzten sich Theologen, Philosophen und Literaten mit diesem Ereignis auseinander. Vertraten die einen die Auffassung, dass Gottes Ratschluss unerforschlich sei, so sahen andere in solchen Katastrophen eine Strafe Gottes. Deutungen dieser Art, die bis heute noch nicht ganz ausgestorben sind, lehnte bereits der junge Kant entschieden ab. Stattdessen entwickelte er – im besten Sinne der Aufklärung – eine wissenschaftliche Theorie der natürlichen Ursachen von Erdbeben.
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Zunächst sind bestehende Vorurteile über die Philosophie Kants auszuräumen, um sein Projekt der Aufklärung nicht falsch zu verstehen. So ist es verfehlt, dem Vernunftphilosophen Kant eine Vernachlässigung der Erfahrung zu unterstellen. Ganz im Gegenteil fordert Kant, zuerst die Erfahrung zu schulen, bevor man die Verstandes- und Vernunfterkenntnis ausbildet. Als Kontrastprogramm zur Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft, einem in der Tat harten Geschäft, empfehle ich Ihnen die Lektüre der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Diese Schrift ist aus öffentlichen Vorlesungen für ein allgemeines Publikum hervorgegangen, in denen Kant auf unterhaltsame Art erfahrungsgetränkte Menschenkenntnis vermittelt. Was die Philosophie als Wissenschaft anbelangt, so hielt Kant allerdings nichts von populärer Darstellung. Hier bestand er darauf, dass die Philosophie, wie andere Wissenschaften auch, nicht leichter gemacht werden könne, als sie nun mal ist.
Außer der Erfahrungsferne ist Kant auch beschuldigt worden, das wahre Leben durch abstrakte Vernunft und kalte Pflichterfüllung zu ‚unterdrücken‘. Dabei war unser Philosoph alles andere als ein vernünftelnder Griesgram, der seinen Mitmenschen durch ständig erhobenen moralischen Zeigefinger die Freude am Leben verdarb. Für asketische Lebensformen hatte er ohnehin nichts übrig, sah er doch in ihnen „verzerrte Gestalten der Tugend“, die „von den Grazien verlassen“ keinen Anspruch „auf Humanität“ machen könnten (Anthropologie, AA VII, S. 2821).
Überhaupt ist es ein Missverständnis, dass nach Kant stets der Pflicht zu folgen sei und man niemals der Neigung folgen dürfe. Der Vorrang der Pflicht vor der Neigung gilt nämlich nur dann, wenn es zwischen beiden zu einem Konflikt kommt, wenn die Neigungen solche sind, die gegen die moralische Pflicht verstoßen. Kant meinte nicht, dass jede einzelne Handlung moralisch mit Hilfe des kategorischen Imperativs sozusagen ‚durchgecheckt‘ werden müsste, bevor sie ausgeführt wird. Für Kant gibt es nicht nur gebotene und verbotene Handlungen. Es gibt auch ein Drittes, nämlich moralisch neutrale Handlungen, und diese sind im Alltag weitaus in der Mehrzahl. Was Kant dazu in der Metaphysik der Sitten schreibt, macht deutlich, dass er keineswegs ein Fundamentalist der Pflicht war:
Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde. (AA VI, S. 409)
Mikrologie ist ein übertriebenes Wichtignehmen von Kleinigkeiten.
Mit der hier deutlich ausgesprochenen Warnung vor einer Tugendtyrannei, die auch heute noch aktuell ist, richtet sich Kant gegen den radikalen Pietismus, für den es keine ethisch neutralen Handlungen gibt. (Solche Handlungen sind die im Zitat genannten adiaphora.) Weltliche Vergnügungen wie zum Beispiel das Tanzen waren daher verboten. Moralischen Rigorismus hatte Kant in seiner Schülerzeit an dem pietistischen Collegium Fridericianum erfahren. Trotz seiner teilweise auch positiven Einstellung zum Pietismus, wie ihn seine Eltern vorlebten, kommentiert Kant den Besuch dieser Anstalt mit den Worten, „ihn überfiele Schrecken und Bangigkeit, wenn er an jene Jugendsklaverei zurückdächte“.2
Kants Begriff der Pflicht hat der Idee nach überhaupt nichts mit Zwang und Unfreiheit zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit der Einsicht freier Menschen, das zu tun, was sie tun sollen – sollen schon; aber aus Vernunftgründen, also gerade ohne Androhung von Strafe, sei diese nun menschlicher oder göttlicher Art. Absurd ist es, sich auf Kants Pflichtbegriff ausgerechnet dann zu berufen, wenn es um Fragen des Gehorsams geht, wenn man sich etwa für begangenes Unrecht oder gar Verbrechen mit den Worten entschuldigt, man habe nur seine Pflicht getan; so Adolf Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem.
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Öffentliche, außeruniversitäre Anerkennung verdankt Kant weniger seinen großen philosophischen Werken als vielmehr kleineren, argumentativ gelungenen und daher umso wirksameren Einmischungen in die politischen Diskussionen seiner Zeit, die bis heute ihre Aktualität bewahrt haben.
Der bekannteste Beitrag dieser Art ist die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Hier findet sich die klassisch gewordene Definition des Begriffs der Aufklärung:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (AA VIII, S. 35)
Um sich seines eigenen Verstandes bedienen zu können, so hebt Kant anschließend hervor, muss gewährleistet sein, von seiner Vernunft freien „öffentlichen Gebrauch“ machen zu können (AA VIII, S. 36). Gefordert ist damit die Freiheit des Wortes in Rede und Schrift in allen Bereichen. Wie man den weiteren Ausführungen entnehmen kann, denkt Kant vor allem an die Aufhebung der Zensur des Staates und der Kirche.
Zur Person
Gottfried Gabriel (*1943) studierte Philosophie, Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an den Universitäten Münster und Konstanz, wo er 1972 promoviert wurde.
Von 1967 bis 1992 lehrte Gabriel an der Universität Konstanz, ab 1982 als außerplanmäßiger Professor. 1986 bis 1988 war er Gastprofessor an der Universität Campinas in Brasilien. 1992 bis 1995 bekleidete er eine Professur an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1995 bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena inne.
Gabriel ist nach Joachim Ritter und Karlfried Gründer Hauptherausgeber des inzwischen abgeschlossenen Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Gemeinsam mit Rüdiger Zymner gibt er außerdem die Reihe Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft heraus.
Zu seinen Publikationen zählen:
– Kant: Eine kurze Einführung in das Gesamtwerk, Paderborn 2022.
– Grundprobleme der Philosophie in geschichtlicher Entwicklung, Paderborn 2024.
Ein ausführliches Gespräch mit dem Philosophen lesen Sie hier.
Quelle: Wikipedia
Angesichts eines solchen Projekts muss es verwundern, dass Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung schreiben: „der Fortschritt schlägt in Rückschritt um.“3 Zugute mag man den Autoren halten, dass das 1947 erschienene Buch unter dem Eindruck des Faschismus geschrieben wurde. Problematisch bleiben aber Verallgemeinerungen wie die folgende: „Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.“4 Solche irreführenden Sätze haben leider mit dazu beigetragen, den Blick auf die Aufklärung insgesamt zu trüben, und diese Trübung hat sich bis in unsere Zeiten der Postmoderne durchgehalten.
Aufklärung ist eben nicht nur eine Sache des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Zu einer recht verstandenen Aufklärung gehört nicht nur eine Entfaltung der technischen Mittel, sondern auch eine kritische Reflexion der Zwecke, zu deren Verwirklichung die Mittel eingesetzt werden. Aufklärung geht es nicht nur um die Ausbildung technisch-praktischer Vernunft, sondern auch und vor allem um die Umsetzung der Forderungen moralisch-praktischer Vernunft.
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Als Ausgangspunkt für Kants Projekt der Aufklärung wurde die Zurückweisung der Beweise für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele angeführt. Da dem religiösen Glauben damit jegliche Wissensgrundlage entzogen wird, ist zu fragen, ob Wissenschaft und Religion sich nicht gegenseitig ausschließen. Als Konsequenz ergibt sich zumindest, dass die Begründung der Moral nicht unter Rückgriff auf die Religion erfolgen kann, sondern von dieser unabhängig bleiben muss, und zwar nicht nur unabhängig von den einzelnen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam, sondern unabhängig von Religion überhaupt. Das heißt: Die Moral muss auch für Atheisten gelten. Moral ist für Kant unabhängig von einem Glauben an Gott. Gott fundiert nicht die Moral: Gut ist etwas nicht, weil Gott es will, sondern weil etwas gut ist, will es Gott – sofern er existiert.
Gemeinsam ist Glaubenden und Nichtglaubenden die praktische Vernunft, und diese liefert für Kant eine religionsunabhängige Begründung der Moral, wobei er aber auch die Religion zu würdigen weiß. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) schreibt Kant: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ (AA III, S. 19) Danach liefert gerade der metaphysikkritische Nachweis, dass es in Fragen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele kein Wissen gibt, die Voraussetzung für ein aufgeklärtes Verständnis des religiösen Glaubens im Verhältnis zur Ethik. Um Kants Bestimmung dieses Verhältnisses zu klären, sind zunächst die Besonderheiten seiner Ethik herauszustellen.
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Kants Ethik ist eine Pflichtethik, die mehr verlangt als die Alltagsmoral der goldenen Regel„Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“ Neben dieser negativen Version, die das Unterlassen von Handlungen fordert, gibt es auch eine positive Version, die besagt: „Behandle andere so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst.“ Die goldene Regel ist genau betrachtet keine rein moralische Regel, sondern eher eine Klugheitsregel. Sie empfiehlt, Rücksicht auf die Mitmenschen zu nehmen, weil sie einem sonst Gleiches mit Gleichem vergelten könnten. Diese Gefahr bringt das bekannte Sprichwort zum Ausdruck: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“
Die goldene Regel geht insofern nicht über die Formulierung eines zweckrational begründeten Eigeninteresses hinaus. Der logischen Form nach handelt es sich daher um einen hypothetischen Imperativ: „Wenn du anständig von anderen behandelt werden willst, dann behandle diese auch anständig.“ Für Kant ist die goldene Regel keine moralische Regel, er nennt sie sogar „trivial“, da sie es erlaubt, andere nicht anständig zu behandeln, wenn man selbst auf anständige Behandlung verzichtet (AA IV, S. 430, Anm.).
Kants kategorischer Imperativ ist dagegen kein hypothetischer Imperativ, sondern ein Imperativ ohne Wenn und Aber. Er fordert unbedingt, nämlich unabhängig davon, wie mir die anderen begegnen: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ So die Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft (AA V, S. 30). Es gibt bei Kant unterschiedliche Formulierungen des kategorischen Imperativs. Wegen der imperativischen Form ist Kants Ethik nicht beschreibend (deskriptiv), sondern vorschreibend (präskriptiv). Gesagt wird nicht, wie Menschen tatsächlich handeln, sondern wie sie handeln sollen.
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Kant unterscheidet zwischen einem Handeln aus Pflicht, das der Pflicht ohne jedes Nebeninteresse folgt, und einem Handeln gemäß Pflicht. Pflichtgemäß handelt auch derjenige, der das Gute tut in der Erwartung, dadurch Anerkennung zu gewinnen, oder das Böse unterlässt, weil er Angst vor der Strafe hat – und sei es in einer jenseitigen Welt. Ein solches Handeln ist für Kant kein rein moralisches Handeln. Allerdings ist mit einem pflichtgemäßen Handeln bereits sehr viel gewonnen. Für ein gelingendes Miteinander der Menschen dürfte sogar die goldene Regel ausreichen.
Kants Ethik besteht nicht aus einem inhaltlichen Katalog, wie etwa die Zehn Gebote, von gebotenen oder verbotenen Handlungen beziehungsweise Handlungstypen, sondern sie gibt im kategorischen Imperativ einen formalen Beurteilungsmaßstab an, nach dem im Einzelfall geprüft wird, was zu tun ist. Im Unterschied zu einer materialen Wertethik ist Kants Ethik eine formale Regelethik. Dieses Verständnis entspricht der Auffassung Kants zum Verhältnis zwischen dem moralischen Gesetz und dem Begriff des Guten. Danach besteht moralisches Handeln nicht (wie bei Platon) darin, die Idee des Guten zu erkennen und ihr zu folgen, sondern darin, dem moralischen Gesetz zu folgen, wobei das moralische Gesetz allererst bestimmt, was das Gute ist. Der formale Charakter der Ethik Kants ist eher als Stärke denn als Schwäche anzusehen, weil der kategorische Imperativ auch bei historischen Veränderungen und deren Wertewandel anwendbar bleibt.
Text: Gottfried Gabriel, Bilder: Foto von Jespah Holthof; Gemälde und Unterschrift gemeinfrei von Wikipedia.
Anmerkungen
Viele Werke Kants können Sie auch im Internet lesen, darunter:
– Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
– Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
1 Stellenangaben verweisen auf die Akademie-Ausgabe Kants mit Angabe des Bandes in römischen Ziffern.
2 Karl Vorländer: Immanuel Kants Leben. 2. Auflage Leipzig 1921, S. 10.
3 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente; in: Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 15.
4 Ebd., S. 22.
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