Wie berichtet fühlen sich Wollmatinger:innen im Konstanzer Politikbetrieb übergangen und fordern mehr Mitbestimmung. Auf seiner heutigen Sitzung wird der Haupt-, Finanz- und Klimaausschuss (HFK) deshalb über einen Antrag beraten, für Wollmatingen eine Bezirksverwaltung oder gar einen Ortschaftsrat zu etablieren. Doch was sind die Ursachen der Wollmatinger Beschwerden?
Auslöser dürfte die 2019 erfolgte Schließung des Gasthofs „Linde“ gewesen sein. Wollmatingen verlor damit nicht nur eine beliebte Gastwirtschaft, sondern mit ihr auch einen legendären Saal. Hier hatten Generationen von Giraffen, Fürstenberglerinnen und Schneckenbürglern ihre närrischen Abende gefeiert, fanden Hochzeiten, Familienfeste und Vereinstreffen statt. Der Saal war preiswert und das Wirtepaar Kederer unkompliziert und kooperativ.
Hatte manche:r nach dem Verkauf des Anwesens noch gehofft, unter den neuen Eigentümern werde es irgendwie weitergehen, so hatten diese andere Pläne. Und bereiteten still und leise den Abriss des ortsbildprägenden Wirtshauses vor. Auch das angrenzende Eckgebäude zur Kindlebildstraße, ein Fachwerkhaus mit Bäckerei, soll fallen.
„Investoren gehen immer ans Äußerste. Und dann einen Schritt weiter“
An Stelle der beiden Abrisshäuser soll ein Neubau treten, nämlich zwei „zur Radolfzeller Straße giebelständig orientierte dreigeschossige Baukörper mit zweigeschossigem Verbindungsteil.“ Rechnet man noch die beiden Dachgeschosse hinzu, wird der Bau mit dann fünf Etagen beträchtlich höher als der Bestand. Was nicht verwundert, denn „Investoren gehen immer ans Äußerste, und dann einen Schritt weiter“, so der damalige Stadtrat Peter Müller-Neff (FGL) bei einer Beratung im Technischen und Umweltausschuss.
Von all dem wussten die Wollmatinger:innen lange nichts. Das Bauvorhaben wurde nämlich auf mehreren Sitzungen des Gestaltungsbeirats (GBR) zunächst nur nicht-öffentlich besprochen. Erst Nachfragen der Linken Liste Konstanz (LLK) und der Freien Grünen Liste (FGL) erzwangen schließlich eine öffentliche Beratung in den städtischen Gremien. Als die dann endlich erfolgte, wehrte sich die Verwaltung hartnäckig dagegen, dass die gewählten Bürgervertreter:innen, geschweige die Bürgerschaft selbst, Einfluss auf das Bauvorhaben nehmen.
Kein Bebauungsplan, keine Veränderungssperre, keine Hindernisse für den Investor! Und die bürgerliche Mehrheit des Gemeinderats, dabei auch die heute als Fürsprecher:innen einer Wollmatinger Selbstverwaltung auftretende CDU-Fraktion, folgte brav der von der Verwaltung vorgegebenen Linie.
Erst Mitte 2020 drehte sich allmählich der Wind. Die Stadträt:innen wollten nun doch, dass ein Bebauungsplan aufgestellt wird. Die Verwaltung wand sich, stellte derweil die Signale für das Bauvorhaben „Linde“ auf grün – und musste nach einigen Monaten doch nachgeben. Anfang 2021 erfolgte der Aufstellungsbeschluss. Doch welche Regeln auch immer der Bebauungsplan bestimmen wird: Für das „Linde“-Vorhaben werden sie nicht mehr gelten.
Nach der „Linde“ nun der „Löwen“
Dass der Gemeinderat seine Meinung in Sachen Bebauungsplan änderte, mag mit einer Entwicklung gegenüber der „Linde“ zusammenhängen. Dort, auf der anderen Straßenseite, steht mit dem „Löwen“ das zweite Wollmatinger Traditionsgasthaus mit schönem Biergarten unter schattigen Platanen, einem schon lange geschlossenen Tanzsaal und zwei Nebengebäuden um die Ecke an der Litzelstetter Straße.
Die Eigentümerfamilie, Erika Tummer und ihre Söhne Stefan und Bernhard, wollten die Erbengemeinschaft auflösen. Deshalb kam es im Frühjahr 2023 schließlich zur Zwangsversteigerung. Noch machte die Stadt Hoffnung: Das Gasthaus „Löwen“ und die Nebengebäude seien erhaltenswert. Man müsse prüfen, ob es gar Baudenkmäler wären, so der städtische Denkmalpfleger Frank Mienhardt im Vorfeld der Versteigerung. Um dann jedoch einzuschränken: „Erhaltenswert ist ohne entsprechende Satzung keine rechtlich bindende Kategorie.“ Es bedeute nur eine ausdrückliche Empfehlung zum Gebäudeerhalt – oder alternativ hohe gestalterische Anforderungen an einen Neubau.
Es kommt, wie es kommen muss. Der „Löwen“ mit allem drum und dran geht für 2,02 Millionen Euro an die Singener Projektentwickler R&H Baukonzept GmbH von Raphael Huber und Markus Renz. Und die planen auf dem „Löwen“-Areal drei große Häuser mit jeweils drei Stockwerken plus Dachgeschossen, insgesamt 62 Wohnungen.
„Wenn wir hier schon eingreifen, dann sollten wir das Gelände gut nutzen, auch im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum“, sagt Bauherr Raphael Huber dem Südkurier.
Schön wär’s, wenn das Bauen in die Höhe wenigstens den Flächenfraß vermindern würde. Was es aber nicht tut, weil die Bauherren auch die Fläche maximal ausnutzen wollen.
Planungsrecht mit Hintertür
Dem Gestaltungsbeirat, der diesmal anders als über die „Linde“ öffentlich beriet, war das Projekt zu groß. Stadtrat Müller-Neff (FGL) drängte darauf, die Pläne bis zur Verabschiedung des Bebauungsplans zurückzustellen. Um zu verhindern, wie im Fall des „Linde“-Bauvorhabens wieder vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, beschloss der Gemeinderat eine Veränderungssperre. Das heißt, im Gebiet des in Aufstellung begriffenen Bebauungsplans darf bis zum Satzungsbeschluss kein Vorhaben mehr genehmigt werden.
Doch das Planungsrecht kennt eine Hintertür. „Wenn absehbar ist, dass das Vorhaben den zukünftigen Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht, kann eine Ausnahme von der Veränderungssperre zugelassen werden“, heißt es im Gesetz. Wenn überhaupt jemand, so kennt bislang nur die Verwaltung die zukünftigen Festsetzungen des Bebauungsplans.
Die Bauherren planten also weiter und präsentierten dem Gestaltungsbeirat im September 2024 einen überarbeiteten Entwurf. Der bringt manche Verbesserungen im Detail, geht aber auf wesentliche Kritikpunkte nicht ein. Weiterhin sind auch in der Litzelstetter Straße, also gegenüber der Kirche, und auf der Rückseite des Grundstücks (Löwengasse) drei Vollgeschosse vorgesehen. Nach wie vor tangiert die geplante Tiefgarage den Wurzelbereich der Platanen im früheren Biergarten, die danach absterben werden.
Die Bürgerschaft bleibt außen vor
Die Wollmatinger:innen blieben bei all diesen Entscheidungsprozessen außen vor. Bauvorhaben werden zwischen Investoren und Baurechtsamt ausgehandelt, selbst die gewählten Stadträt:innen können nur wenig Einfluss nehmen – und lassen sich in ihrer bürgerlichen Mehrheit, siehe das Bauvorhaben „Linde“, von der Bauverwaltung einwickeln und über den Tisch ziehen.
Kein Wunder also, dass viele Wollmatinger:innen die Entscheidungen rund um die Entwicklung ihrer Ortsmitte missbilligen – und noch mit vielen weiteren Entscheidungen von Stadtverwaltung und Gemeinderat, die ihr „Dorf“ betreffen, unzufrieden sind. Mit Daniel Groß (CDU), der sich nicht mehr für den Gemeinderat aufstellen ließ, haben sie dort einen gewichtigen Interessenvertreter verloren. Ein anderer unermüdlicher Kritiker überzogener Bauvorhaben, Peter Müller-Neff (FGL), wurde nicht mehr gewählt.
Es werden am 14. November um 16 Uhr sicher wieder viele Wollmatinger:innen zur Sitzung des Haupt-, Finanz- und Klimaausschusses erscheinen, um ihrer Forderung nach einer Bezirksvertretung oder einem Ortschaftsrat Nachdruck zu verleihen.
Ob diese zusätzlichen Gremien, sofern sie denn beschlossen werden, an der Baupolitik dieser Stadt etwas ändern, sei bezweifelt. Vielleicht wäre eine Wiederbelebung der Bürgergemeinschaft Fürstenberg-Wollmatingen der erfolgsversprechendere Weg, um außerhalb der Institutionen Öffentlichkeit herzustellen und Druck auf Stadtverwaltung und Gemeinderat aufzubauen.
Text: Ralph-Raymond Braun / Fotos: Pit Wuhrer
Neue Pläne für die Wollmatinger Ortsmitte
Der folgende Abschnitt zeigt auf, wie die verschiedenen Gemeinderatsfraktionen und die Verwaltung in dieser Sache agierten:
Eine Chronologie
– Vermutlich Anfang 2019: Der Investor reicht eine Bauvoranfrage oder einen Bauantrag zum Abbruch der „Linde“ des angrenzenden Bäckereigebäudes ein
– 22.5.2019: Das Vorhaben wird nicht-öffentlich im Gestaltungsbeirat (GBR) beraten.
– 25.9.2019: Neuerliche, wieder nicht-öffentliche Beratung im GBR.
– 27.9.2019: Die Linke Liste Konstanz (LLK) beantragt, einen Bebauungsplan für den Ortskern Wollmatingen aufzustellen.
– 8.10.2019: Die Freie Grüne Liste (FGL) beantragt, der Technische und Umweltausschuss (TUA) möge sich mit dem Bauvorhaben befassen.
– 12.12.2019: Der TUA befasst sich mit beiden Anträgen. Die Stadt argumentiert, ein Bebauungsplan sei nicht erforderlich. Auch damit könnten die Bestandsgebäude nicht erhalten werden. Zudem sei davon auszugehen, dass die Regelungen eines Bebauungsplans an dieser Stelle zu keinem besseren städtebaulichen Ergebnis führen würde als die Empfehlungen des Gestaltungsbeirats. Mit 4 zu 9 Stimmen lehnt der TUA ab, einen Bebauungsplan aufzustellen.
– 17.12.2019: Die LLK modifiziert ihren Antrag nun im Gemeinderat dahingehend, die Verwaltung möge prüfen, ob für den Ortskern Wollmatingen eine Veränderungssperre erwirkt werden könne. Der Antrag wird mit 20 Nein- gegen 17 Ja-Stimmen abgelehnt.
– 21.1.2020: Die FGL beantragt jetzt eine Erhaltungssatzung oder einen einfachen Bebauungsplan, um die städtebauliche Struktur des historischen Ortskerns von Wollmatingen zu erhalten.
– 7.5.2020: Der Antrag wird im Gemeinderat behandelt. Die Verwaltung argumentiert, die Voraussetzungen für eine Erhaltungssatzung seien nicht gegeben, das Gebiet sei zu wenig homogen. Und einen Bebauungsplan gleich welcher Art habe der Rat bereits im Dezember abgelehnt. Darauf zieht die FGL ihren Antrag zurück.
– 18.5.2020: Seit der Dezembersitzung sind sechs Monate verstrichen, der Rat darf nun gemäß Gemeindeordnung erneut über einen Bebauungsplan für die Ortsmitte Wollmatingen beraten. Die FGL beantragt wieder einen einfachen Bebauungsplan.
– 27.5.2020: Das Bauvorhaben „Linde“ wird nun öffentlich im GBR vorgestellt. „Eine nochmalige fachliche Erörterung […] ist nicht erforderlich“, heißt es in der Vorlage. Wozu auch? Der Entwurf wurde zwischenzeitlich als Bauantrag eingereicht.
– 21.7.2020: Beratung im TUA. Entgegen dem Willen der Verwaltung wird diese vom Ausschuss diesmal beauftragt, die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplan vorzubereiten.
– 10.12.2020: Wieder TUA. Die Verwaltung sieht weiterhin die Voraussetzungen für einen Bebauungsplan nicht erfüllt. Sie schlägt stattdessen nun eine Gestaltungssatzung vor. Der Ausschuss ist damit nicht einverstanden und besteht auf einem Bebauungsplan.
– 21.1.2021: TUA. Mit den Stimmen von FGL und CDU wird nun die Aufstellung eines einfachen Bebauungsplans beschlossen. Bürgermeister Langensteiner-Schönborn weist darauf hin, dass eine Bauvoranfrage zur Ortsmitte – man darf annehmen zum Bauvorhaben „Linde“ – bereits genehmigt und deshalb vom Bebauungsplan nicht mehr betroffen sei.
– 28.1.2021: Der Gemeinderat schließt sich ohne Debatte dem Votum des TUA an. 31 Rät:innen stimmen dafür, 9 dagegen.
– 6.12.2023: Investoren stellen im GBR ihre Pläne zur Überbauung des „Löwen“areals mit 62 Wohneinheiten vor.
– 23.1.2024: Die FGL beantragt deshalb eine Veränderungssperre für das gesamte Plangebiet.
– 7.3.2024: Der TUA beschließt einstimmig die beantragte Veränderungssperre.
– 21.3.2024: Der Gemeinderat schließt sich mit einer Gegenstimme dem Votum des TUA an.
– 11.9.2024: Die Investoren präsentieren dem GBR eine überarbeitete Planung für das „Löwen“-Areal.
– November 2024: Fast vier Jahre sind seit dem Aufstellungsbeschluss vergangen. Die Verwaltung hat ein externes Büro mit der Ausarbeitung des Bebauungsplans beauftragt, auch die vorgeschriebene Bürgerveranstaltung hat stattgefunden. Doch ein Bebauungsplanentwurf, geschweige ein Satzungsbeschluss, stehen noch immer aus.
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