Ein später Nachruf auf den Schriftsteller Martin Walser von Jochen Kelter.
Als ich nach dem Tod von Martin Walser Ende Juli dieses Jahres angefragt wurde, ob ich einen Nachruf auf ihn schreiben wolle, habe ich abgesagt. De mortuis nihil nisi bene – dem Ausspruch, der von einem griechischen Philosophen stammen soll, wird übrigens nachgesagt, er habe unterschwellig auch mit der Angst vor dem eigenen Ableben zu tun. Da ich nicht sehr viel Gutes zu sagen gehabt hätte, schien es mir unpassend, es so kurz nach seinem Tod zu äußern. Nachdem seither über drei Monate vergangen sind, hole ich meine Erinnerungen an Walser, die vor allem auf die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgreifen, nun doch nach.
Walser war vor allem Romancier, Prosaschreiber, auch wenn er das am Ende seines Lebens bedauerte, ja verabscheute. Seine letzten Bücher sind allerdings keine Romane mehr, sondern Notate, Lyrik und ähnliches. Bis zum Ende war er produktiv, ja schreibwütig. «Wenn ich schreibe, bin ich unsterblich», hat er ein Jahr vor seinem Tod gesagt. Das hätte ihm, dem Ich-Menschen, gefallen. Er wollte hundert Jahre alt werden, und beinahe hat er das ja geschafft, bei seinem Ableben war er 96 Jahre alt. Beim Durchblättern älterer Kritiken ist mir aufgefallen, dass die Kritiker ihn nach seinen jüngeren Jahren keineswegs so häufig lobten, wie man hier am Bodensee, wo er über glühende Anhänger verfügt, meinen könnte, und für die Literatur am See, vor allem in Oberschwaben, hat er ja auch mäzenatisch gewirkt. Den Nobel-Preis hat er, vermutlich zu seinem Bedauern, nie bekommen, sondern sein «Rivale» Günter Grass.
Aber 1998 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Und hielt seine berüchtigte Rede, in der er die andauernd beschworene deutsche Schuld am Schicksal der Juden als zu hohler Routine verkommene Moralkeule geißelte. So unrecht hatte er damit nicht, wie man heute wieder im neuen Nahost-Krieg feststellen kann. Nur wie und in wessen Anwesenheit er das aussprach, war ein Affront, der ihn jegliche Sympathie des Establishments kostete, darunter die von Ignatz Bubis, des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Da war Martin Walser, der Egomane, ganz er selbst. Später hat er seinen Auftritt bedauert.
Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) hatte in Baden-Württemberg eine einzige Regionalgruppe, die am «westlichen Bodensee», eine kleine Gruppe von etwa acht (ausschließlich) Männern, zu der unter anderen die verstorbenen Werner Dürrson und Hermann Kinder gehörten – und natürlich Martin Walser. Er pflegte uns mit unseren bloßen Nachnamen anzusprechen: Kelter, sagen Sie mal … Wir fühlten uns an unsere Schulzeit erinnert, wo die Lehrer uns genauso angeschnarrt hatten. Und er zeigte sich verwundert darüber, dass wir nicht mit der DKP sympathisierten. Ausgerechnet wir Nach-Achtundsechziger. Das zeigte, wie wenig er oftmals von den ihn umgebenden Zeitläuften angeweht wurde. Später dann ließ er sich als Ehrengast zur Klausurtagung der Landtagsfraktion und Bundestagsabgeordneten der CSU nach Bayern einladen. Und dahin passte er letztlich auch besser.
Der Landesvorsitzende des VS Johannes Poethen aus Stuttgart besuchte mich am See und hätte Walser nach langer Zeit gern wiedergesehen. Aber der hatte keine Zeit (oder Lust), seinen alten Freund aus gemeinsamen Tübinger Studienzeiten zu treffen. Der schrieb ja auch bloß Gedichte und Essays über das antike Griechenland. Zum großen Eklat kam es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, aber einige Zeit vor der Öffnung der Mauer und dem Kollaps der DDR. Walser erzählte von seiner Reise in die DDR. Wie er im Zug gesessen sei und die Menschen verstanden habe, die über das Wetter und ihre Alltagssorgen geredet hätten. Das habe er verspürt und verstanden, dass wir doch ein Land seien und eigentlich zusammengehörten. Ich gab zurück, mir ergehe es in Frankreich oder Italien ähnlich. Das sei eine Frage der Sprachkenntnis. Walser kochte vor Wut, bekam aber wenig Zuspruch. Die abendliche Debatte zog sich noch lange hin.
Da eine Redakteurin des (damals noch existierenden) Südwestfunks anwesend war, schlug sie schließlich vor, die Diskussion mit Walser und mir im Aufnahmestudio in Konstanz zu wiederholen. Da waren die abendlichen Emotionen ein Stück weit abgekühlt, die Argumente blieben indessen die gleichen. Walser würdigte mich keines Blicks. Auf die Sendung erhielt die Redaktion zahlreiche Hörerzuschriften, in denen ich nicht immer gut wegkam. Sie besiegelte auch das Ende unserer Bekanntschaft.
Zum Schluss sei indessen nochmals ein tröstender Wunsch aus der Antike bemüht: Requiescat in pace.
Text: Jochen Kelter, Bild: Literarisches Gipfeltreffen: Gruppe 47 – sechzig Jahre danach, Martin Walser und Günter Grass am 15. Juni 2007, © Blaues Sofa from Berlin, Deutschland, This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
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