Kann eins der dümmsten Großprojekte der letzten Jahrzehnte gestoppt werden? Noch halten die Bahn, Bundes- und Landesregierungen und die meisten Parteien an Stuttgart21 fest. Doch auch der Widerstand ist zäh. Das Immobilienprojekt Tiefbahnhof könnte scheitern – wenn der Protest anhält. Hier ein Überblick über die vielen Krisen.
Anfang Dezember hörte der Verkehrsausschuss des Bundestags Expert:innen. Sie sollten einen Gesetzentwurf der CDU bewerten, die einen erst kürzlich novellierten Paragraphen des Eisenbahngesetzes wieder rückgängig machen will. Der Grund dafür: Die Union stört sich daran, dass bisherige Bahnflächen für die Nutzung und den Ausbau des Schienenverkehrs reserviert bleiben müssen. Das aber unterläuft die Kernidee von Stuttgart 21: Tieferlegung des Hauptbahnhofs und Nutzung der frei werdenden Fläche für profitable Immobilienprojekte.
Kurz darauf konnten sich auf einer Sitzung des Stuttgart21-Lenkungskreises die Projektpartner Bahn, Land, Stadt und Region nicht über die Finanzierung des sogenannten Digitalen Knotens Stuttgart einigen.
Und dann gibt es noch die enorme Mobilisierung in den Kommunen entlang der Strecke Zürich-Stuttgart für den Erhalt des Gäubahnanschlusses an den oberirdischen Kopfbahnhof. Außerdem kommt im Februar die Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen die Kappung der Gäubahn vor Gericht.
Der Grund, auf dem politische Mehrheiten und Immobilien- und Baukonzerne immer noch ihr Projekt durchsetzen wollen, schwankt also. Nachdem alle Stuttgart21-Versprechen geplatzt sind, sollen offenbar wenigstens die geplanten Milliarden öffentlicher Gelder durch Weiterbauen in Konzern-Kassen gelenkt werden. Die Krisenmomente folgen derweil immer schneller aufeinander, je näher der angekündigte Inbetriebnahmetermin des Tiefbahnhofs rückt. Diese Verdichtung und die Kombination vieler einzelner Krisenmomente, kennzeichnen eine neue Phase: Das Projekt steckt in vielen Krisen!
Erste Krise: Die Glaubwürdigkeit
Ein Blick zurück auf 2013 illustriert den krassen Glaubwürdigkeitsverlust des Projekts und seiner Unterstützer:innen: Das für die Informierung der Öffentlichkeit zuständige S21-Kommunikationsbüro gewann damals noch einen Prozess gegen die Stuttgarter Zeitung. Diese hatte tatsächlich Ungeheuerliches geschrieben: Stuttgart21 werde nicht 2021, sondern erst 2022 in Betrieb gehen! Das Gericht wertete diese Meldung als „wahrheitswidrige, den Kläger herabwürdigende Tatsachenbehauptung“, da sie die Glaubwürdigkeit des Kommunikationsbüros in Frage stelle.
Heutzutage würde kein Gericht mehr so ein Urteil fällen, sondern der Bahn ins Gesicht lachen. Sogar die Stuttgarter Zeitung lässt den S21-treuesten ihrer Redakteure am 7. Dezember „Vertrauensverlust“ feststellen und Ansagen des Bahnvorstands zu „Erzählungen“ abqualifizieren.
Zweite Krise: Erodierende mediale Rückendeckung
Die zarte Kritik im S21-Hausblatt fällt in sogenannten Leitmedien weit schärfer aus. In ihnen wird Stuttgart21 als größtes Kosten-Desaster der Deutschen Bahn bezeichnet. Das Springer-Blatt Die Welt zum Beispiel, bislang immer unkritische Begleiterin von Stuttgart21, rechnet inzwischen scharf ab mit ihrer eigenen, leidensverlängernden Rolle.
Dritte Krise: schädliche Reformen
Nach fast zwei Jahrzehnten auf geplanten Verschleiß gefahrener Bahninfrastruktur ist die Deutsche Bahn heute in einem nie da gewesenen verheerenden Zustand. Selbst der Bahnvorstand kann ihn nicht mehr schön reden. Die Schulden sind heute höher als vor der kompletten Entschuldung durch den Bund vor dreißig Jahren.
Die Bundesregierung leistet dringend nötige Zuschüsse zur Reparatur des Infrastruktur-Desasters nur in Formen, die das Problem noch verschärfen: Als Erhöhung des Eigenkapitals, was die Erhöhung der Trassenpreise um 16,2 Prozent nach sich zieht. Und in Form von Krediten statt Zuschüssen, was den Bundeshaushalt entlastet, aber die Schuldenlast der Bahn anhebt. All das droht, Verkehr auf die Straße zurück zu verlagern – ein weiterer Rückschlag für die dringend nötige Mobilitätswende.
Die mit viel Hoffnung verknüpfte Herauslösung der Infrastrukturbereiche aus der Zuständigkeit Konzernvorstands wurde so umgesetzt, dass die neu geschaffene DB Infrago AG weiterhin den Weisungen der Konzernspitze untergeordnet und als Aktiengesellschaft organisiert ist – das Gegenteil der von Infrago erhofften Verpflichtung aufs Gemeinwohl.
Angela Merkels Satz „Die Realisierung von Stuttgart21 ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ wurde als Rückendeckung für die Stuttgart21-Befürworter:innen formuliert. Im Licht der tatsächlichen Entwicklungen verkehrt sich seine Bedeutung allerdings ins Gegenteil: Der erbärmliche Gesamtzustand der Deutschen Bahn mit ihrem Betonklotz Stuttgart21 um den Hals samt einer zur Selbstkorrektur unfähigen Politik stellen tatsächlich jede klimaverträgliche Zukunftsfähigkeit des Verkehrssektors in Frage.
Vierte Krise: innere Widersprüche
Immer weiter hinausgeschobene Eröffnungstermine, ständig steigende Projektkosten, die nicht mehr haltbare Leistungs-Lüge: Das führt inzwischen zu offen ausgetragenen Konflikten unter den Projektunterstützer:innen.
Stuttgarts OB Frank Nopper (CDU) protestiert bei der Bahn, weil seine Immobilienprojekte im heutigen Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs in Frage stehen. Verkehrsminister Winfried Hermann und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (beide Grüne) protestieren bei den Ampelparteien, weil die Finanzierung des Europäischen Zugsicherungssystems ETCS und der Digitalisierung unsicher ist. Denn die sollen die Rettung aus dem Leistungsdefizit des Tunnelbahnhofs liefern – zusammen mit andern Verschlimmbesserungen: noch mehr Tunnelbauten, noch mehr Klimaschädigung.
Seit kein Mensch mehr ernsthaft behauptet, dass 8 Tiefbahnhof-Gleise mehr könnten als 16 oberirdische, werden als Wundermittel zur Leistungssteigerung eine Digitalisierung und das European Train Control System (ETCS) propagiert. Erfahrungen mit ETCS in der Schweiz und Norwegen belegen aber, dass beides deutlich weniger hält als die Wundermittelhändler behaupten. ETCS und Digitalisierung können aus dem unterdimensionierten Tunnelbahnhofsystem keinen leistungsfähigen Bahnknoten machen: „Wenn das Hemd unten falsch zugeknöpft wird, wird es oben auch nicht passen“, hat dazu der frühere Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), Benedikt Weibel, frei Goethe zitiert.
Vor dem Hintergrund klammer Finanzen ist inzwischen zwar auch die Finanzierung der Digitalisierungsstrategie in Frage gestellt. Das Netz soll erst in Jahrzehnten digitalisiert sein. Aber selbst wenn aus „Projekt-Räson“ für Stuttgart21 andere Finanzressourcen der Bahn kannibalisiert würden, bliebe das Tunnelbahnhofssystem auf Jahrzehnte hinaus eine digitale Insel.
Fünfte Krise: Finanzierungslücken im städtischen Haushalt
Der Stuttgarter Finanzbürgermeister hat kürzlich dem Gemeinderat eine Übersicht über die Kosten vorgelegt, die durch Investitionsprojekte ins Haus stehen: 7,5 Milliarden Euro, die nicht finanziert sind. Das kann selbst die reichste Kommune Deutschlands nicht stemmen; Projekte müssen gestrichen werden.
Allein 1,6 dieser 7,5 Milliarden Euro müssten für die Erschließung des bisherigen Gleisvorfelds im sogenannten „Rosensteinquartier“ aufgebracht werden. Der Wohnungsbau auf dem Gleisvorfeld stellt gewissermaßen „das letzte Aufgebot“der Projektbefürworter:innen dar. Nun ist mehr als fraglich , ob in zwanzig Jahren wirklich Bedarf besteht für Wohnungen in einem erst dann gebauten Viertel. Laut Zensus gibt es in Stuttgart Leerstand ohne Ende, also gar keinen Bedarf an neu versiegelten Wohnbau-Flächen.
Zusätzlich droht die Bahn auf weiteren Milliarden der vervierfachten Projektkosten sitzen zu bleiben: im Frühjahr hatte das Stuttgarter Verwaltungsgericht die Klage der Bahn auf Beteiligung von Land, Stadt und Region an den Mehrkosten zurückgewiesen.
Sechste Krise: die AEG §23-Novelle
Ende 2023 beschloss der Bundestag eine Novellierung des Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG). Dessen Paragraph 23 erlaubt künftig Entwidmungen – sprich: Verkauf und Umnutzung – von Bahnverkehrsflächen nur noch bei „überragendem öffentlichem Interesse“, wenn „kein Verkehrsbedürfnis mehr besteht“ und „langfristig eine Nutzung der Infrastruktur im Rahmen der Zweckbestimmung nicht mehr zu erwarten ist“. Mit dieser lang überfälligen Maßnahme sollen Bahnverkehrsflächen für eine künftige Nutzung durch die Schiene reserviert und vor Spekulationsinteressen des Bahnkonzerns geschützt werden.
Seit Monaten sorgt das für Panik, weil damit die Verwertungspläne von Stadt und Immobilien- und Bauwirtschaft für die Kopfbahnhofflächen in Frage gestellt sind. Es sei denn: das Gesetz wird vor allem mit Blick auf Stuttgart21 wieder geändert. Bei der Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags wurden am 2. Dezember Sachverständige zu einem dahin gehenden Gesetzentwurf der CDU angehört. Dabei stellte der von der Partei Die Linke eingeladene Geschäftsführer des Aktionsbündnis gegen S21, Werner Sauerborn, den novellierten §23 als wichtigen Schutzwall dar, der für eine künftige Verkehrswende erforderlich ist.
Sollte es beim neuen Paragraphen 23 AEG bleiben, stecken Stadt, Land und Bahn im nächsten Krisenherd. Denn dann würde „Plan B“ – Erhalt des Kopfbahnhofs und sinnvolle Nutzung der Tiefbahnhiofs – ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen rücken. „Plan B“ wurde im Frühsommer 2024 von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) präsentiert. Mit ihm ist den S21-Gegen:innen ein Coup gegen die immer noch herrschende „Augen zu und durch“-Taktik gelungen.
Siebte Krise: Mobilisierung entlang der Gäubahnstrecke
Plan B hat game-changer-Potenzial. Denn insbesondere in Städten und Gemeinden entlang der sogenannten „Gäubahnstrecke“ von Zürich nach Stuttgart ist eine Bewegung gegen die Kappung der Gäubahnanbindung an den oberirdischen Kopfbahnhof entstanden. Der Protest gegen die für 2026 geplante Unterbrechung der Gäubahn reicht bis ins Lager der CDU und bis zur Basis der Grünen im Süden Baden-Württembergs. Die südwürttembergische CDU fordert inzwischen ebenso wie der Parteitag der Grünen, dass die Gäubahn nicht gekappt werden darf, sondern an den oberirdischen Kopfbahnhof angeschlossen bleiben muss.
23. Januar: Pro-Gäubahn-Demo in Stuttgart
Am kommenden Donnerstag, 23. Januar, debattiert der Stuttgarter Gemeinderat über eine Stopp des geplanten Gäubahn-Unterbruchs vor Stuttgart. Das Bündnis Pro Gäubahn ruft deswegen zu einer Demo auf. Hier die Begründung:
„Bisher gehörte die Landeshauptstadt Stuttgart neben der Deutschen Bahn AG zu den kompromisslosesten Verfechtern einer Demontage und Kappung der als Gäubahn bekannten internationalen Fernverkehrsstrecke Stuttgart – Rottweil – Singen – (Konstanz / Zürich). 1,4 Millionen Menschen, die im Einzugsgebiet der Gäubahn leben, würden damit auf der Schiene abgehängt.
Doch die Haltung der Landeshauptstadt zu diesem verkehrspolitischen Skandal könnte sich am 23. Januar ändern. Dann debattiert der Gemeinderat Stuttgart einen Antrag der Linke/SÖS-Fraktion, die Gäubahn auch weiterhin bis Stuttgart Hbf (oben) zu führen, anstatt sie wie derzeit geplant in Stuttgart-Vaihingen abzuhängen. Der Antragstext ist dabei in Teilen wortgleich mit dem Beschluss der grünen Landespartei vom 8. Dezember 2024. Eine Mehrheit im Stuttgarter Gemeinderat scheint deshalb denkbar, seitdem nicht nur die Grünen ihre Stuttgart 21- und Gäubahn-Politik im Dezember neu ausgerichtet haben: Es gibt auch aus der CDU sehr deutliche Stimmen gibt, die Gäubahn weiterhin zu erhalten. CDU-Landeschef Manuel Hagel hatte dies zuletzt in Singen gefordert. Der CDU Bezirksparteitag Südbaden hat dazu ebenfalls einen Beschluss herbeigeführt.
Um der Stimme der Gäubahn-Anlieger:innen mehr Gehör zu geben, ruft das Pro Gäubahn Landesbündnis im Vorfeld zur Stuttgarter Gemeinderatsentscheidung zu einer Demonstration für den Erhalt der Gäubahn auf. Die Kundgebung findet am 23. Januar ab 16 Uhr auf dem Stuttgarter Marktplatz statt. Dort sprechen der Stuttgarter SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch, Jürgen Resch (Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe), Hendrik Auhagen (VCD Konstanz und Mitinitiator des grünen Parteitagsbeschlusses zum Erhalt der Gäubahn) sowie Hans-Jörg Jäkel (Gäubahnkomitee Stuttgart).
Da viele Gemeinderäte entlang der Gäubahn inzwischen Beschlüsse gegen die Kappung der Gäubahn gefasst haben, ruft das Pro-Gäubahn-Bündnis nicht nur die Stuttgarter:innen, sondern auch die Gäubahn-Anlieger:innen zwischen Stuttgart und Singen und insbesondere Kommunalpolitiker:innen zur Kundgebung für den Gäubahn-Erhalt auf.“
Der neue Paragraph Paragraph 23 des Eisenbahngesetzes, der Plan B von DUH und GDL und die Mobilisierung entlang der Gäubahn sind wichtige Etappen für die S21-Gegner:innen in dieser Phase zunehmender Krisen des Projekts, die sich gegenseitig verstärken. Noch steht es nicht vor dem Kollaps. Schließlich haben sich die Stuttgart21-Gegner:innen nicht nur mit industriehörigen Politiker:innen angelegt, sondern mit mächtigen Kapitalgruppen, die darauf pochen, dass weitere Milliarden öffentliches Geld in private Kassen geleitet werden.
Andererseits aber werden die Risse in dem einst schier unbezwingbaren Konstrukt aus Geld, Beton, Stahl und Gier immer unübersehbarer. Doch an sich selbst wird Stuttgart21 kaum scheitern. Es kommt also auf die Bewegung gegen Stuttgart21 an: Der Widerstand auf der Straße war und bleibt entscheidend, um dem abgrundtiefen und bodenlosen Projekt ein Ende zu bereiten.
Text: Tom Adler. Er arbeitete 28 Jahre lang als Betriebsrat bei Daimler in Stuttgart-Untertürkheim und saß bis 2021 drei Legislaturperioden lang für Die Linke im Stuttgarter Gemeinderat (siehe seinen Rückblick auf seine Arbeit als Stadtrat). Seit vielen Jahren ist er einer der Sprecher der Stuttgarter Bewegung gegen S21. / Fotos: pw
Seine Rede zu Beginn dieser Woche auf der 740. Montagsdemo ist hier nachzuhören beziehungsweise zu sehen.
Spenden: Wer die Bewegung gegen Stuttgart21 aus der Ferne unterstützen will: Sie braucht immer Geld. Unterstützer:innen-Konto: Umkehrbar e.V. / IBAN: DE02 4306 0967 7020 6274 00 / BIC: GENODEM1GLS. Spendenbescheinigungen können nicht ausgestellt werden.
Kommende Aktionen:
– Montag, 20. Januar 2025, 18 Uhr: 741. Montagsdemo auf dem Stuttgarter Schlossplatz
– Mittwoch, 22. Januar 2025, 19 Uhr: Informationsveranstaltung des VCD Konstanz und der Bürgergemeinschaft Paradies über die drohende Kappung der Gäubahn (mit Film). Konstanz, K9, Hieronymusgasse 3
– Donnerstag, 23. Januar 2025, 16 Uhr: Pro-Gäubahn-Kundgebung vor dem Stuttgarter Rathaus. Mit Jürgen Resch (DUH), Hendrik Auhagen (VCD Konstanz), Hannes Rockenbauch (SÖS-Stadtrat im Stuttgarter Gemeinderat)
– Donnerstag, 30. Januar 2025: Veranstaltung der DUH im großen Saal des Stuttgarter Rathauses. Mit Jürgen Resch (DUH), Benedikt Weibel (Ex-Chef der SBB), Claus Weselsky (ehemaliger Vorsitzender der Gewerkschaft GDL)
– Montag, 3. Februar 2025, 18 Uhr: 743. Montagsdemo auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Mit Jürgen Resch und Jan van Aken (Ko-Vorsitzender der Partei Die Linke).
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