Jedes Jahr am Silvesterabend veranstaltet die Christengemeinschaft Konstanz/Kreuzlingen die „Demonstration der stillen Lichter“. Unser Autor läuft seit Jahren mit.
Ein langer, in konzentrischen Kreisen angeordneter Pfad aus Tannenzweigen ist auf dem Münsterplatz ausgelegt. Er ist nach dem Modell des Labyrinths von Chartres, dem wohl berühmtesten aller Pilgerlabyrinthe, gestaltet. Der Name ‚Labyrinth‘ führt in die Irre, zumindest dann, wenn man das Verirren zum organisierenden Prinzip von Labyrinthen erklärt. In diesem Labyrinth kann man sich nicht verirren. Es gibt nur einen einzigen Weg und der führt ohne jeden Zweifel sicher ins Zentrum und dann – in exakt derselben Weise – wieder hinaus. Das Chartres-Labyrinth wurde nicht in Chartres erfunden und ist auch älter als die Umsetzung, unter der es berühmt geworden ist. Es ist eine der menschheitsgeschichtlich ältesten Formen künstlerischer Gestaltung: eine Spirale. Spiralen gehören zu unserem neurologisch fest eingespeicherten Gepäck: sie zählen zu den entoptischen Bildern, die jede oder jeder leicht erzeugen kann, wenn sie oder er sich bei geschlossenen Lidern mit den Daumen vorsichtig (!!) auf die Augäpfel drückt. Wir alle sehen dann farbige Punkte, Striche, Gittermuster und Spiralen. Nicht alle Formen zugleich, aber doch unausweichlich.
Wie aus diesen Bildern, die unser Gehirn ohne äußere Sinneseindrücke problemlos erzeugen kann, semantisch bedeutsame Symbole und Erzählungen werden, beschreibt der Ethnologe David Lewis-Williams anhand der Felszeichnungen der San, der sogenannten ‚Buschleute‘ der Kalahariwüste, sehr eindrücklich. Im Wesentlichen argumentiert er, dass im Rahmen von tanzinduzierten Tranceerfahrungen Buschleute einen Zugang erhalten zum kollektiven Erzählkosmos der San. Er zeigt, wie aus einfachen entoptischen Formen komplexe Bild- und Erzählwelten werden.
Das Ritual, das die Christengemeinschaft Konstanz/Kreuzlingen seit vielen Jahren im tannenzweigausgelegten Pfad des Chartres-Labyrinths anbietet, erfordert keine Bewusstseinserweiterung oder alternative Erfahrungswelten. Jede und jeder, die oder der mitmachen möchte, bringt sich selbst eine Kerze, am einfachsten windgeschützt in einem Marmeladenglas mit, erhält am Eingang des Labyrinths einen Kiesel, den man dann in der Mitte des Labyrinths ablegen kann. Es dauert eine knappe Stunde, den Weg zur Mitte und zurück zu machen. Man geht nicht allein. Am letzten Silvesterabend hatten sich etwa 80, vielleicht auch 100 Menschen versammelt, die den Weg hinter- und so auch miteinander laufen. Da sich unterschiedliche Schrittlängen und Gehgeschwindigkeiten nur schlecht synchronisieren lassen, kommt es immer wieder zu kleinen Staus und Verzögerungen, manchmal auch Löchern in der Reihe. Man wartet dann, das Licht in der Hand, geduldig, bis es weiter geht.
In den vielen Jahren, die ich mit meiner Familie nun an der Demonstration der stillen Lichter teilnehme, habe ich ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem geschwungenen tannenzweiggesäumten Weg gemacht. Nicht jedes Mal waren diese tiefe Einkehr und stiller Rückblick, doch alle, die ein wenig Erfahrung mit meditativen Übungen – und um eine solche handelt es sich ja – haben, wissen, dass es darum gar nicht geht. Es geht ums Üben selbst. Atemzug für Atemzug und Schritt für Schritt wie es Beppo Straßenkehrer aus Michael Endes Roman „Momo“ vormacht. Das bedeutet aber auch: es geht nicht darum, die Mitte des Labyrinths zu erreichen, sondern die Erfahrung seiner Durchquerung zu machen. Die Existenz eines Zentrums ist in diesem Fall jedoch nicht gleichgültig, ist der Weg doch so angeordnet, dass er sein Erreichen so lange wie möglich herauszögert. Immer, wenn man meint, angekommen zu sein, da ‚das Ziel‘ nur noch eine Biegung weit entfernt zu sein scheint, führt einen der Weg wieder ganz weit hinaus an den Rand und mehr oder weniger geduldig beginnt man erneut, sich anzunähern.
Dabei handelt es sich jedoch nicht um Umwege. Wie auch! Es gibt ja nur einen einzigen gewundenen Pfad. Es geht aber in einem viel fundamentaleren Sinn überhaupt nicht um Raum, sondern um Zeit. Das Labyrinth, ich sagte es bereits, ist ja keines, sondern eine Spirale. Wer sie durchquert, erlebt Verdichtung und Verzögerung, denn auch die Wegabschnitte, bevor die nächste Kurve alle Gehenden wieder zu einer 180-Grad-Wende zwingt. Einerseits wird der Rhythmus der Abfolge dieser Wenden immer schneller, wenn man sich der Mitte annähert, weil die Kreise um dieselbe kürzer werden. Andererseits durchläuft man sowohl Viertel- als auch Halbkreise in gleichmäßigem Wechsel.
Die Erfahrung des Durchlaufens dieser Spirale ist also keineswegs nur das Kleinklein der Schritte, wie sie Beppo Straßenkehrer empfiehlt. Es handelt sich ja auch nicht um eine endlos erscheinende lange Straße, sondern eben einen in seiner Endlichkeit von Anfang an durchschaubaren Weg, der alle Laufenden, Meditierenden, Pilgernden auch mit ihren Selbsteinschätzungen konfrontiert: kaum jemand, der oder die nicht die Zeit unterschätzte, die es braucht, von außen in die Mitte und wieder zurück zu laufen. Oder die geistige Kraft, auf dem Weg nicht einfach aufzugeben, weil man ja irgendwann meint, es jetzt verstanden zu haben und sich deshalb den weiteren Weg sparen zu können. Das Zentrum ist ja auch nur scheinbar das oder auch nur ein Ziel: es erreicht zu haben, bedeutet, den halben Weg hinter sich gebracht zu haben. Und in der Tat scheint sich für manche der Rückweg qualitativ vom Hinweg zu unterscheiden: es wird schneller, achtloser, drängender gelaufen, ganz so, als habe man die Übung bereits hinter sich gebracht.
Vielleicht aber ist auch dieser Eindruck falsch und geprägt von der Erfahrung, plötzlich auf dem engen Pfad auf Gegenverkehr zu treffen. Es handelt sich eben nicht um eine einsame, sondern eine gemeinschaftliche Meditation. Die Geschwindigkeit meiner Schritte wird klar mitgestaltet von der Geschwindigkeit der Schritte derjenigen, die vor mir laufen. Und es sind keinesfalls nur die Füße, die dieses Tempo orchestrieren, sondern etwa auch Blicke und Geräusche. Blicke zunächst, denn zwischen den Pfadabschnitten sind ja keine Mauern errichtet. So sieht man immer auch diejenigen, die hinter einem gehen, als Entgegenkommende – nur eben auf anderem Pfadabschnitt. Man begegnet sich nicht auf dem Weg, so wie man den sich auf dem Rückweg Befindlichen begegnet, sondern nur im flüchtigen Blick.
Das kann irritieren (und deshalb eben auch verzögern): hat man jemanden erkannt, eine Bekannte oder einen Freund, dann wiederholt sich der Blick nun von Schleife zu Schleife des Wegs. Immer wieder blickt man in dieses Gesicht, das man zunächst freudig erkennend begrüßte, ohne jedoch ein allfälliges Gespräch beginnen zu dürfen. Man weicht also dem Blick aus, wird verlegen, es ist, vielleicht sogar unangenehm, denn obwohl man ja weiß, dass es dem anderen ganz genauso geht, wie einem selbst, so bleibt doch der Stau der Erwartungserwartungen unerfüllt, ja, diese werden sogar zunehmend irritierend verletzt. Begegne ich einer mir bekannten Person beim Einkaufen, so ist das Ritual vorgegeben: man begrüßt einander, tauscht ein paar Sätze aus, die nicht notwendigerweise belanglos sein müssen, manchmal ergibt sich ein kleines Gespräch, gewissermaßen am Rande der Zeit, denn die Zeit für dieses Gespräch hätte man sich ja eigentlich gar nicht genommen, eine per Telefon oder sonstwie überbrachte Bitte auf ein Wort oder eine Tasse Kaffee hätte man more often than not einfach abgeschüttelt wie Regen aus dem Fell mit einem genuschelten „Oh, wäre nett, aber habe zu tun“. Was eigentlich auch nur selten stimmt. Meist ginge es schon. Irgendwie. Wenn man nur wollte. Umso mehr feiert man die kleinen Begegnungen, die einem der nichtzufällige Zufall begrenzter Räume mit großer Erwartungssicherheit bietet. Und zum Ritual dieser Zufälle gehört, dass man eben nicht einfach so aneinander vorbeihastet, sondern kurz innehält, um dann – und das ist entscheidend, will man verstehen, was die Spiralmeditation des Chartres-Labyrinths daran ändert – wieder weiterzugehen. Das Labyrinth durchbricht sowohl die Regel des kurzen Innehaltens wie auch die Regel der Nicht-Wiederholung, die im Alltag der Satz „Beim dritten Mal gibst Du einen aus“ aufs deutlichste unterstreicht. Wenn man einander begegnet ist, dann ist die Begegnung auch beendet, und es wird unangenehm, sie wiederholen zu müssen. Wir sind es ja nicht gewohnt, einfach so miteinander zu sein, ich meine ein Sein ohne dazugehöriges Tun. Sein ohne Tun hört unter kapitalistischen Bedingungen auf den Namen „Faulheit“. Selbst jede freie Zeit muss zur durch Erlebnisse aufgewerteten Freizeit werden.
Das ist allein deshalb notwendig, weil wir anderenfalls aus dem Außen ins Innen kämen und dort der Begegnung mit uns selbst nicht mehr entkommen könnten. Es ist laut im Kopf. Emotionen schütteln uns unter der Oberfläche alltäglicher Geschäftigkeit intensiver, als wir das üblicherweise vorstellen. Jede und jeder, die und der Stille sucht, weiß, dass sie und er erst einmal durch den Grießbrei des Lärms im eigenen psychischen System muss, bevor sich dann die ersehnte Stille einstellt. Oder auch nicht. Denn auch das gehört zur Meditationserfahrung. Sie scheitert gern und oft. Übung hilft zwar, verhindert aber nicht, dass Zwicken oder Zwacken, die Insistenz eines Gedankens, das Um-sich-selbst-Kreisen eines Gefühls, das mit jeder neuen Kreisbewegung intensiver zu werden scheint. Keine Praktizierende, kein Praktizierender ist gefeit vor diesen Irritationen. Es klappt halt mal besser und mal schlechter. Aber, auch das gilt natürlich, der Umgang mit den unterschiedlichen Formen des Gelingens wird meist besser, wenn man regelmäßig übt. Wie alles, was man regelmäßig macht. Eine Garantie gibt es aber auch dafür nicht.
Und so könnte man die kurzen Blickbegegnungen mit Bekannten im Pilgerlabyrinth als ins Außen verlegte Übungen der Begegnung mit sich selbst verstehen. Man muss gar nichts tun. Es reicht völlig aus, miteinander da zu sein. Es kann helfen, den Blick nach der ersten Begegnung zu senken, aber auch das braucht’s nicht notwendigerweise. Man darf sich auch jedes Mal freuen, die andere Person wieder – schon wieder, immer wieder – zu sehen.
Das gelingt umso besser, je mehr man sich von dem Gefühl, man müsse hier irgendetwas tun oder erreichen, löst. Man muss kein Ziel erreichen. Die Mitte ist ganz egal. Der Ausgang ebenso. Es reicht aus, zu gehen. Und das ist wohl die befreiendste Erfahrung dieser Übung: Schritte und Atemzüge gleichen einander an. Aus bloßem Gehen wird eine Gehmeditation, und zwar ganz anstrengungsfrei, wenn man nicht versucht, an irgendetwas festzuhalten, sondern sich dem Gehen, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, im Rhythmus, ohne Rhythmus, gleichmäßig und stockend, mit Pausen oder ohne, einfach hingibt. Was ist, ist.
Und dann wird auch der Lärm drumherum ganz gleichgültig. Das Lärmen, ja, auch das Wüten der Welt ist da. Es geht durchs Gehen nicht weg. Aber es stört nicht mehr. Was ist, ist. Und das ist ein Anstoß, den ich nicht missen möchte und an den ich mich gern erinnere, während ich mich durchs Neue Jahr und alles, was es bietet und fordert, hindurchwurstele und darauf hoffe, auch beim nächsten Mal wieder dabei sein zu dürfen, wenn die Christengemeinschaft zur Demonstration der Stillen Lichter einlädt.
Text: Albert Kümmel-Schnur
Schreiben Sie einen Kommentar