Wegen des Todes eines syrischen Familienvaters ist Griechenland kürzlich in einem von PRO ASYL unterstützten Verfahren vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt worden. Der Mann hatte im September 2014 einen Kopfschuss erlitten, als die griechische Küstenwache das Feuer auf das Flüchtlingsboot eröffnete, auf dem er sich befand.
Das Urteil belegt erneut, wie die griechische Küstenwache im Umgang mit Schutzsuchenden systematisch schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht, ohne Konsequenzen durch die griechische Justiz fürchten zu müssen.
Ein Beamter der griechischen Küstenwache hatte am 22. September 2014 in der Nähe der griechischen Insel Pserimos insgesamt dreizehn Schüsse auf ein Flüchtlingsboot abgegeben, als dieses nicht anhielt. Der syrische Familienvater Belal Tello wurde von einer Kugel am Kopf getroffen, ein weiterer Syrer an der Schulter. Nach mehreren Monaten im künstlichen Koma wurde Belal Tello mit Unterstützung von PRO ASYL nach Schweden ausgeflogen, wohin seine Ehefrau mit den beiden gemeinsamen Kindern – zum Zeitpunkt des Vorfalls zwei und drei Jahre alt – zwischenzeitlich geflohen war. Dort erlag er im Dezember 2015 seinen Verletzungen.
Ein vorläufiges Ermittlungsverfahren, das von der zuständigen Staatsanwaltschaft gegen die Beamten der Küstenwache eingeleitet worden war, wurde im Juni 2015 eingestellt. Marianna Tzeferakou, Rechtsanwältin bei „Refugee Support Aegean“ (RSA), der griechischen Partnerorganisation von PRO ASYL, hat daraufhin im Dezember 2015 im Namen der Witwe Douaa Alkhatib und der beiden Kinder von Belal Tello Beschwerde beim EGMR eingereicht.
Urteil bringt späte Gerechtigkeit
Der Gerichtshof hat der Witwe und den Kindern am Dienstag in allen Punkten Recht gegeben, ihnen eine Entschädigung in Höhe von 80.000 Euro zugesprochen und Griechenland wegen eines Verstoßes gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Leben) verurteilt (Alkhatib und Andere gegen Griechenland, 3566/16). Konkret stellte der Gerichtshof unter anderem fest, dass der Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt war und die Küstenwache übermäßige Gewalt angewendet hat. Darüber hinaus rügte das Gericht, dass die Ermittlungen der griechischen Behörden zu dem Vorfall unzureichend waren und gravierende Mängel aufweisen, was unter anderem zum Verlust von Beweismitteln geführt hat.
Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung und Geschäftsführer von PRO ASYL, kommentiert: „Das Straßburger Urteil ist für die Angehörigen von Belal Tello und für uns nach über neun Jahren ein traurig bitterer Erfolg. Das Urteil reiht sich ein in eine ganze Kette von Fällen, in denen die griechische Küstenwache schutzsuchende Menschen misshandelt oder gar ihren Tod billigend in Kauf nimmt. Das ist auch der Hintergrund der unterlassenen Lebensrettung mit mehr als 600 Toten bei dem schrecklichen Schiffsunglück im Juni 2023 vor der Stadt Pylos. Dass gegen die Beamt*innen der Küstenwache nicht ernsthaft ermittelt wird, sondern die Verfahren gravierende Mängel aufweisen und in aller Regel eingestellt werden, offenbart ein massives Rechtsstaatsproblem in Griechenland. Das EU-Mitgliedsland verletzt systematisch und schwerwiegend die EU-Werte. Die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens der EU gegen Griechenland ist überfällig. Darüber hinaus braucht es angesichts der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Straftaten von Uniformierten eine unabhängige Kontrolle des Grenzschutzes – nicht nur in Griechenland.“
Hintergrund
Erst im Juli 2022 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland in einem wegweisenden Urteil wegen des Todes von elf Schutzsuchenden vor der Insel Farmakonisi im Rahmen einer Pushback-Operation der griechischen Küstenwache im Januar 2014 in allen zentralen Punkten verurteilt. Das Verfahren wurde von PRO ASYL unterstützt.
Im September 2023 hat RSA eine Stellungnahme an den Europarat veröffentlicht. Darin werden mehrere Fälle von RSA und PRO ASYL aufgelistet, die die Systematik schwerster Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Küstenwache im Umgang mit Schutzsuchenden belegen. In drei dieser Fälle sind aktuell Beschwerden vor dem EGMR anhängig (Almukhlas und Al-Malik gegen Griechenland, 22776/18; Alnassar gegen Griechenland, 43746/20; F.M und Andere gegen Griechenland, 17622/21). Weitere Verfahren sind noch bei griechischen Behörden und Gerichten anhängig.
Im Fall des Schiffsunglücks vor der Stadt Pylos am 14. Juni 2023 haben RSA und PRO ASYL gemeinsam mit anderen griechischen Organisationen im Namen von 40 Überlebenden im September 2023 Beschwerde beim Marinegericht in Piräus eingereicht. Eine Entscheidung der zuständigen Staatsanwältin steht noch aus.
PRO ASYL hat zudem im Mai 2022 eine umfangreiche Studie mit herausgegeben, in der Wege für eine unabhängige Kontrolle des Grenzschutzes an den EU-Außengrenzen vorgeschlagen werden.
Text: Medienmitteilung von PRO ASYL
Symbolbild: Pixabay
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