Am 9. November wurde die Installation „Menschsein“ als Kooperation des Kreuzlinger Laboratoriums für Artenschutz mit dem Open Place der reformierten Kirchgemeinde Kurzrickenbach eröffnet. Begleiten Sie unseren Autor auf einem ungewöhnlichen Kirchenbesuch.
Estragon: „Komm, wir gehen.“
Wladimir: „Wir können nicht.“
Estragon: „Warum nicht?“
Wladimir: „Wir warten auf Godot.“
Samuel Beckett: Warten auf Godot
Wer dieser Tage die Kirche in Kurzrickenbach betritt, sieht sich fünf großen Monitoren gegenüber. Der größte ist horizontal ausgerichtet und steht unmittelbar vor dem Altar. Rechts stehen drei senkrecht und an der Seite gegenüber noch einmal einer, ebenfalls senkrecht. Davor ein Stuhl. Alle Monitore stehen leicht schräg auf grauen Sockeln, lehnen sich an Altartisch und Wände hinter ihnen an.
Als erstes fällt ihre klare Farbigkeit auf: der zentrale Monitor strahlt in warmem goldenen Licht. Rechts hellt sich auf dem ersten Bildschirm das Gold auf und verfärbt sich leicht ins Grünliche. Daneben sehen wir einen ins Violette changierenden rosafarbenen Raum. Diese Farbe wiederholt sich auf dem Schirm der gegenüberliegenden Seite. Abgeschlossen wird die Farbreihe rechts durch ein leuchtendes Blau.
Elf Menschen bewegen sich in den Räumen, die auf den Videos zu sehen sind. Schnell erkennt man, dass die verschiedenen Räume – ein Saal mit Tisch und Bühne, ein Warteraum, ein Flur und zwei kleine Zimmer – in Beziehung zueinander stehen, denn, wenn eine Person einen Raum verlässt, taucht sie in einem anderen wieder auf.
Im großen Saal sitzen alle an Tischen beieinander, trinken, essen, kommen und gehen. Finden sich und verlieren sich wieder. Sie sind im Gespräch, doch was sie sprechen, hören wir nicht. Wenn jemand aufsteht und geht, geht er rechts aus dem Bild, um dann auf dem Monitor an der linken Wand in einem Warteraum wieder aufzutauchen. Der Warteraum ist eigentlich gar kein Warteraum. Es ist einfach ein Raum mit einer Bank. Er wird zum Warteraum, weil diejenigen, die den Raum betreten, sich scheinbar beziehungs- und kontaktlos neben die anderen, die sich dort bereits aufhalten, auf die Bank setzen. Sie bleiben bei sich. Gehen nicht ins Gespräch, ja, scheinen kaum wahrzunehmen, dass da noch jemand neben ihnen sitzt.
Hin und wieder verlässt jemand den Raum. Steht auf und geht, taucht dann im Flur gegenüber auf, einem engen Gang mit mehreren Türen. Manchmal begegnen sich dort zwei oder gar drei, drängen aneinander vorbei, die einen, die, die gehen, tauchen wieder im großen Saal auf, die anderen, die, die kommen, gehen zunächst in den Raum links. Da ist ein Tisch mit einem Klemmbrett und einer Liste. Manche tragen sich dort ein. Andere schauen nur. Einer mit einem kleinen Hündchen im Arm wagt ein Tänzchen.
… als würde einem die Wand gezeigt
Und wie auf ein Zeichen von außen verlassen sie den Raum wieder, gehen durch den Flur und betreten den Raum gegenüber. Dort setzen sie sich und blicken direkt in die Kamera oder an ihr vorbei. Sie sind jetzt in Nahaufnahme, porträtartig zu sehen, aber, wie man schnell erkennt, sind das gar keine Porträts. Es ist nur eine andere Kameraperspektive auf jemanden, der wartet. Man hat, guckt man von diesem Bildschirm auf den gegenüberliegenden, der den Warteraum zeigt, fast den Eindruck, als würde einem die Wand gezeigt, jene Position, die man als Zuschauerin und Zuschauer den Wartenden gegenüber selbst einnimmt, wenn man sich auf den Stuhl setzt, der vor dem Monitor mit dem Wartesaal aufgestellt ist.
Auf einem Tisch bei der Tür liegen elf Kopfhörer. Sie funktionieren über Bluetooth, man kann sich also frei im Raum bewegen, wenn man sie aufsetzt. Jeder Kopfhörer lässt die Stimme einer Protagonistin oder eines Protagonisten dieser Videoinstallation hören. Des Mannes mit dem Hund beispielsweise, der einen roten Hoodie, ein schwarz-weiß gemustertes Tuch, viele Ketten und eine rot gerahmte Sonnenbrille trägt. Oder der Frau mit rotem Hut, rotem Halstuch und rotem Lippenstift, die streng in die Kamera blickt. Oder der anderen mit dem wilden orange leuchtenden Haarschopf. Des muskulösen Manns mit randloser Brille in schwarzer Jeans und schwarzem T-Shirt. Des kleinen Manns mit grauen Haaren und kugeligem Bauch. Der Frau mit dem großen Strohhut. Und all der anderen.
Man kann ihnen begegnen
Wer sich auf der Vernissage umsieht, kann diese Menschen sehen, ihnen begegnen. Sie sind Mitarbeiterinnen und Gäste des Open Place, Menschen, die dort arbeiten, Menschen, die diese Kirche ihre Heimat nennen.
Das Open Place, das muss man dazu sagen, ist keine gewöhnliche Kirche. Vor zehn Jahren begab sich die Gemeinde, initiiert und geführt von ihrem Pfarrer Damian Brot, und getragen von mehr und mehr Engagierten und Aktiven auf eine Reise ins Offene. Aus der Enge und Begrenztheit eines traditionellen sakralen Raumes in den Dialog und das Miteinander mit all denjenigen, die das Wort und Handeln Jesu eigentlich adressiert, die aber meist dann doch nicht so recht erwünscht sind: den an Leib und Seele Kranken, den Süchtigen, denen, die viele Jahre keine bezahlte Anstellung finden, denen, die auf der Flucht sind, nicht wissen, ob sie bleiben dürfen oder weitergeschickt werden in eine ungewisse Zukunft, den Suchenden, aus ihren Beziehungen und Bezügen Gefallenen. Denen also, denen dieser Mann aus Nazareth nahe sein wollte, mit denen er sich umgab, die er selig preiste. Gottgläubigkeit ist an diesem Ort keine Voraussetzung. Kirchenzugehörigkeit erst recht nicht. Wenn Du da bist, bist Du da.
Vor zehn Jahren wurde das Open Place als Café eröffnet, schnell kamen Food Sharing, Kleiderbörse, ein Künstleratelier dazu. Kreise fanden sich, die nicht nur über Religiöses, sondern über Philosophie, Politik, den Alltag sprechen wollten. Und während der Pandemie begann die Umgestaltung des Kirchenraums. Um die Arbeit des Open Place weiterführen zu dürfen, trotz aller Abstandsregeln und Kontaktverbote, wurden die Kirchenbänke hinausgetragen und Kaffeemaschine und Kuchenbleche hineingetragen. Der Raum der Kirche wurde unter Corona zu einem Zufluchtsort.
Wenn Du da bist, bist Du da
Es folgte ein Projekt mit Architekturstudierenden der HTWG unter Leitung von Prof. Myriam Gautschi, das gemeinsam mit Mitarbeiter*innen und Gästen des Open Place fünf Entwürfe erarbeitete, den Raum neu zu gestalten – seemoz berichtete.
Inzwischen steht ein Beschluss der Kirchgemeindeversammlung, des höchsten Entscheidungsgremiums der Kirchgemeinde Kurzrickenbach, dass die Bänke nicht mehr zurückkehren in den Kirchenraum. Er ist multifunktional geworden, ohne Mehrzweckhalle zu sein, denn er bleibt ein sakraler Ort, an dem nicht beliebige Veranstaltungen stattfinden können, sondern eben nur solche, die ‚Gemeinde’ leben. ‚Gemeinde’ als ein Modell, wie Gesellschaft sein könnte, wenn sie nicht getrieben wäre von den Kräften entfesselter Märkte, überlauter, turboschneller Dauerkommunikationsangebote, Umweltzerstörung und wechselseitigem Misstrauen, ja, Hass. ‚Leib Christi’ – das ist hier einfach das, was entsteht, wenn die Menschen des Open Place – und dazu zählt jede und jeder, die oder der sich auf den Weg dorthin macht, es braucht keine Eintrittskarte – einander begegnen. In aller Unzulänglichkeit, aller Bedürftigkeit, mit allen Marotten, allen Idiosynkrasien, die Menschen so mit sich bringen. Es ist keine Idylle, kein heiler Raum, kein konfliktfreier Raum. Aber es ist ein solcher, der das menschliche Miteinander, ganz direkt und einfach, ins Zentrum stellt – nicht den Konsum, nicht den Umsatz, keine Ideologie (auch keine kirchliche). Das Open Place ist eine Einladung zum Menschsein.
Einladung zum Menschsein
Und genau so haben Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher ihr Projekt genannt: „Menschsein“. Sie haben elf Menschen des Open Place fünf existentielle Fragen gestellt. Wem vertraust Du? Was bereitet Dir Freude? Bist Du neuen Erfahrungen gegenüber offen? Wie begegnest Du anderen Menschen? Und wie begegnest Du Dir selbst? „Die Fragen waren immer ein wenig anders formuliert, je nachdem, wem sie gestellt wurden, damit auch eine Resonanz entsteht“, erklärt Micha Stuhlmann.
Die Antworten auf diese Fragen werden über die in der Kirche ausliegenden Kopfhörer zugänglich. Die Kopfhörer tragen Nummern, den Nummern sind auf einer handschriftlichen Liste, die ganz wie die auf dem Klemmbrett des goldgrünen Raumes der Installation, Namen zugeordnet. Dennoch bleibt, kennt man die Menschen nicht, in der Schwebe, wer hier was gesagt hat.
Es ist, als höre man die Gedanken der Wartenden. Das, was sie so über sich selbst und das Leben, das, was sie führen und das Leben ganz allgemein, denken. Wie sie sich berühren lassen. Was sie traurig und was sie glücklich macht.
Indem das zu Hörende nicht direkt verbunden ist mit dem, was man sieht, erhalten die Antworten etwas Allgemeineres. Sie sind nicht mehr die Aussagen individueller Personen, sondern Meinungen, die Menschen so haben. Irgendwelche Menschen. Menschenmeinungen.
Ebenso, wie die Personen, die ja nur im großen goldenen Saal, der einmal ein Kino war – gedreht wurde im ehemaligen Apollo-Kino von Kreuzlingen – miteinander sprechen, ohne dass wir hören, was sie sagen, auch zu überindividuellen Gestalten werden. Vertreter*innen der Spezies ‚Mensch‘. Leute halt. Man kann sich an die Bühnenwelten Christoph Marthalers, den großen Berner Theaterregisseurs, erinnert fühlen. Nur, was bei Marthaler mühsam, sorgsam hergestellt werden muss an Charakteren, das bringen diese Menschen schon mit.
Gedanken der Wartenden
Die Installation fügt der Kirche einen zweiten Raum hinzu. Dieser Raum ist hochstilisiert, konzentriert und still. Eigentlich machen die Bewegtbilder das, was in anderen Kirchen große Tafel- oder Deckengemälde tun: sie öffnen einen zweiten Raum. Nur, dass hier keine Heiligen und Märtyrer in verzückten Posen zu sehen sind, sondern Leute wie Du und ich.
Und indem diese Leute visuell die Position, die anderswo die Heiligen einnehmen, übernehmen, sagt die Installation: Du brauchst keine spirituellen Superkräfte, keinen übermenschlichen Opfermut und vor allem keine Selbstverleugnung, um hier am Ort zu sein. Hier. Richtig. Zu. Sein. Ihr – Du, sie, er, es –, ihr alle seid alles, was wir haben, alles, was Kirche, was Gesellschaft, was Menschheit sein kann. Wartet nicht auf andere. Und wenn Ihr Euch auf den Stuhl setzt, der vor dem Monitor mit dem Warteraum steht, dann seid ihr mit uns, betretet den Raum, den wir im Bewegtbild einnehmen, werdet Teil dieses Raumes, genauso wie wir Teil Eures Raumes sind.
Das ist wohl eine zweite wichtige Botschaft: Kirche ist wie jede Form der Gesellschaft eine Gemeinschaft von An- und Abwesenden. Denen, die grad da sind, miteinander denselben physischen Raum teilen und denen, die zuhause geblieben sind, auf Reisen, die wir verloren haben oder die sich von uns getrennt haben. Denen, die bereits verstorben sind. Wir Menschen leben ja immer in diesem Raum voller Körper und Geister und auch das macht diese Installation uns eindringlich spürbar.
Man muss Zeit mitbringen, will man einen Gewinn von diesem Projekt haben. Es ist nicht schnell verstehbar. Nicht konsumierbar. Aber wer Zeit mitbringt, wird zum Teil dieser menschlichen Gesellschaft, die die Bilder von Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher zeigen. Dann wird, wie Damian Brot sagt, „Menschsein“ zu „Menschwerdung“, dem tiefsten Geheimnis, das der christliche Glaube anzubieten hat.
Noch bis zum 8. Dezember jeweils sonntags von 14:00 bis 17:00 Uhr und wochentags zu den Öffnungszeiten des Open Place.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder von der Vernissage: Benjamin Arntzen, Standfotos mit freundlicher Genehmigung von Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher
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