„Den Schmerz der anderen zu empfinden, mag unmöglich sein, aber ihn zu respektieren, ist ein realistisches und notwendiges Ziel.“ Die Publizistin Charlotte Wiedemann beginnt und beendet ihr Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ mit einer Widmung für die KZ-Überlebende Esther Bejarano, die zeitlebens vor Faschismus und Menschenverachtung mahnte. Am 19. September liest Wiedemann in Konstanz.
Charlotte Wiedemann fügt zusammen, was wir als Gesellschaft, in öffentlichen Debatten und im kollektiven Erinnerungsraum trennen, aktiv verdrängen oder gerne gegenüberstellen: Antisemitismus, Kolonialismus, Rassismus, antimuslimischen Rassismus; kurz: das Leid der anderen bzw. die Verbrechen an den anderen.
Als Auslandsreporterin, Publizistin und Buchautorin lebte Charlotte Wiedemann jahrelang in Malaysia und berichtete u.a. für DIE ZEIT, GEO und Le Monde Diplomatique über Gesellschaften in Asien und Afrika. In ihrem jüngsten Buch sucht sie nach Wegen, Erinnerungskultur im Geiste globaler Gerechtigkeit neu zu denken. Dazu bringt sie zwei persönliche Anliegen in einen Dialog: Sensibilität und Verantwortung für die Shoah bewahren und eurozentrisches Geschichtsdenken überwinden.
Welche Opfer sind uns nahe, welche bleiben fern und stumm?
Wiedemann bereiste den globalen Süden als Fragende. Sie nimmt die Leser:innen mit zu ihren Begegnungen mit Menschen und deren Geschichte, wie zu Angehörigen ehemaliger Kolonialsoldaten in Mali, die – meist unfreiwillig – an der Seite der Alliierten und ihrer Kolonialherren gegen Hitlerdeutschland kämpften. Dabei behält sie eine kluge, fragende Haltung und hinterlässt beim Lesen, so zumindest bei mir, neue, beschämende Fragen: Warum weiß ich nichts von Kolonialsoldaten, warum ist mir der Begriff fremd, wann habe ich ihn vergessen und warum habe ich keine Bilder davon? Dabei haben Millionen Kolonialsoldaten gegen Nazi-Deutschland gekämpft, oft separiert von ihren weißen Kollegen, und täglich rassistischen Demütigungen ausgesetzt. So hatten beispielsweise die Uniformen der „King’s African Rifles“ keine Hosenschlitze, die Kolonialsoldaten mussten so ihre Hosen beim Urinieren runterlassen; sie erhielten schlechtere Waffen und minderwertiges Essen. Ihre Freiheit erhielten sie auch nach dem Sieg über Nazi-Deutschland nicht. Bis heute denken wir die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht mit der Freiheit und Würde des kolonisierten Menschen zusammen.
Parallel zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zu den Nürnberger Prozessen wurden in den Kolonien nie geahndete Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, so in Algerien von den Franzosen oder in Indonesien von den Niederländern – eine moralische Asymmetrie, die bis heute andauert, wenn man bedenkt, wie wir und Europa heute mit Geflüchteten aus Algerien verfahren.
Meist vergessen: Genozid und Ausbeutung
In unseren Wissensarchiven kommen eine außereuropäische Dimension, außereuropäische Opfer und Perspektiven des Zweiten Weltkriegs kaum vor. Die allgemeinen Menschenrechte und das Völkerrecht scheinen erst langsam und sehr selektiv auch für den globalen Süden anwendbar. Rückblickend waren diese universellen Menschenrechtsansprüche für den globalen Süden von einem Nicht-Gesehen-Werden geprägt. Entschuldigungen und Schuldeingeständnisse für unsägliches Leid, Genozide und Ausbeutung kommen bis heute nur zögerlich zur Sprache. Reparaturzahlungen werden lediglich in Form von „Entwicklungshilfen“ diskutiert. Das ist vor dem Hintergrund des bis heute gesicherten Reichtums aufgrund von Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung ein Hohn. Rückgaben von geraubtem Kulturgut und menschlichen Überresten finden nur langsam Gehör und das erst nach langen, zähen Forderungen ihrer historischen Eigentümer.
„Den Schmerz der Anderen begreifen“, zeichnet vielstimmige Perspektiven und historische Verstrickungen von Gräueltaten, wie von Erinnerungs- und Ignoranzkulturen auf. Wiedemann zeigt uns die globale Verflochtenheit unserer Geschichte, sie besucht Erinnerungsorte der Täter, nimmt Bezug zu aktuellen Ungerechtigkeiten in Deutschland und bemüht eine solidarische Debatte. Sie erinnert daran, dass unser Wohlstand aus einer Collage des Grauens rührt und dass auch die deutsche Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg, das gemeinsame Erinnern der Täter und der Opfer an die Shoah gefährlich labil ist. Die aktuelle Aiwanger-Affäre bestätigt die Doppelmoral, die wir zunehmend in populistischen Debatten erleben, wie wenn etwa davon die Rede ist, dass das deutsche Antisemitismusproblem ein zugewandertes sei. Umfragen zum aktuellen Geschichtsbewusstsein zeichnen ein erschreckendes Bild: So seien sich 70 Prozent der Deutschen sicher, ihre eigenen Vorfahren wären in Nazi-Deutschland keine Täter gewesen, jeder zweite glaube sogar, die eigenen Vorfahren wären Opfer des Faschismus gewesen und ca. 30 Prozent seien davon überzeugt, ihre Vorfahren hätten aktiv potentiellen Opfern geholfen. Tatsächlich betrug der Anteil der HelferInnen 0,3 Prozent der Bevölkerung.
Die Lesung und anschließende Diskussion widmen sich den zentralen Fragen des Buches: Welchen Toten, welchen historischen Massenverbrechen schenken wir unsere Empathie? Wie kann ein vielstimmiges, universelles und inklusives Erinnern entstehen? Was bedeutet solidarisches Erinnern? Fragen, die immer noch auf Antworten warten.
Wann? 19. Sept. 2023, 19.30 bis ca. 21 Uhr.
Wo? Astoria Saal, Kulturzentrum Konstanz.
Veranstalter: vhs Landkreis Konstanz e.V und Bildungsverein seemoz e.V.
Der Eintritt ist frei.
Text: Anna Blank
Bild: Charlotte Wiedemann, fotografiert von Anette Daugardt
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