Gabriel Venzago © Privatbesitz

Klassik nur für Alte? Dass ich nicht lache! (I)

Der Dirigent Gabriel Venzago hat die Herzen der Konzertbesucher:innen im Sturm erobert. Im Gespräch mit seemoz erzählt er über sein Leben, seine Lehrjahre und seinen Beruf, der meist etwas anders als die meisten anderen Berufe ist. Und warum die klassische Musik etwas für jede:n sein kann.

Teil 1/3, Teil 2 lesen Sie hier.

seemoz: Wie wird ein Mensch Dirigent? Normale Menschen denken beim Dirigenten an einen scheinbar vergeistigten Karajan, den die göttliche Muse geküsst hat.

Venzago (lachend): Aha, Du findest mich also nicht völlig vergeistigt, abgehoben und musisch geküsst? Enttäuschend! Nein, Spaß beiseite. Wir wurden in der ersten Klasse aufgefordert zu erzählen, was unsere Eltern von Beruf sind. Ich wollte nichts sagen, bin nach Hause gegangen und habe meinen Vater gefragt, ob ich allen sagen darf, dass er Dirigent ist. Ich spürte schon als Kind, dass es ein – sagen wir mal – nicht alltäglicher Beruf ist, der von anderen ambivalent bewertet wird.

Zur Person

Gabriel Venzago

Der in Heidelberg geborene Dirigent studierte an der Hochschule für Musik und Theater in München und an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart.

Er begann seine Karriere 2017 als Korrepetitor, Dirigent und Assistent von Generalmusikdirektor Florian Ziemen am Theater für Niedersachsen Hildesheim und wechselte dann als Kapellmeister an das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin. Hier war er u.a. für die Neuinszenierung „Neues vom Tage“ von Paul Hindemith verantwortlich. Darüber hinaus dirigierte er Sinfoniekonzerte und übernahm verschiedene Nachdirigate für alle laufenden Produktionen.

Von 2019 bis 2023 war Gabriel Venzago Erster Kapellmeister am Salzburger Landestheater, wo er umfangreiche Opernerfahrung sammelte. Im Jahr 2021 sorgte er für Aufsehen, als er bei einer Neuproduktion von „Idomeneo“ an der Bayerischen Staatsoper einsprang, außerdem erregte seine musikalische Leitung der Oper „Zaide. Eine Flucht“, die einen integrativen Prozess mit jungen Flüchtlingen beinhaltet, große Publikums- und Medienresonanz.

Seit Januar 2023 ist er Chefdirigent der Bodensee Philharmonie (vormals Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz). Ab 2025 wird er zusätzlich Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz und Generalmusikdirektor des Staatstheaters Mainz.

Der Dirigent live

Klangvolle Meisterwerke am Ufer des Bodensees | Die Bodensee Philharmonie im Porträt: https://www.youtube.com/watch?v=da75QNLBgyM

Im Februar 2024 bei der Arbeit mit dem Aarhus Symfoniorkester: https://www.youtube.com/watch?v=Re7xZmZR3vw

Ein unterhaltsames Video „Stay at home“ aus dem Jahr 2020 über den Dirigentenberuf in Coronazeiten: https://www.youtube.com/watch?v=avk1aBFRTSA

Aram Chatschaturjan, Konzert-Rhapsody für Cello und Orchester, aufgenommen am 14. Juni 2023 im Musiksaal des Stadtcasinos Basel, mit Hayk Sukiasyan (Cello) und dem Sinfonieorchester Basel: https://www.youtube.com/watch?v=3QDrM9yaylw

Trailer zu einer CD-Einspielung mit Musik von Enjott Schneider mit der Südwestdeutschen Philharmonie im Juli 2024: https://www.youtube.com/watch?v=2f4U_GFLZ44

seemoz: Du hast als Kind angefangen, Klavier zu spielen, und wolltest später Pianist werden?

Venzago: Nein, auf keinen Fall Berufsmusiker und schon gar nicht Pianist. Zuhause in Heidelberg habe ich beide Seiten erlebt, einerseits den leidenschaftlichen Dirigenten-Vater und andererseits meine Mutter, Solo-Bratscherin im Philharmonischen Orchester Heidelberg. Die klassische Musik war also immer um mich herum. Als Fünfjähriger begann ich Klavier zu spielen, mit zehn kam dann die Klarinette dazu und leider viel zu spät das Cello, das eigentlich „mein“ Instrument gewesen wäre. Denn mit dem Klavier war das so eine Sache – üben mochte ich nie, und wenn ich dann vorspielen musste, war es wie der Gang aufs Schafott. Panik. Schweißnasse Hände, Kopf leer, Lichter aus. Aber dann durfte ich eines Tages das Schulorchester und den Schulchor dirigieren. Plötzlich hat sich für mich alles leicht und richtig angefühlt.

seemoz: Du hast Deine Zeit außerhalb der Schule vor allem mit Üben verbracht?

Venzago: Das klingt so heroisch. Ehrlicherweise war ich die meiste Zeit im Theater als Statist. Das war meine Zweitfamilie. Und daher kam auch der Wunsch, für immer und ewig ein Teil dieser Familie zu bleiben. Am liebsten als Dirigent. Als mir das klar wurde, habe ich dann tatsächlich viel geübt. Während auf der Neckarwiese alle gefeiert oder getrunken haben, war ich halt im Theater oder beim Üben. Heroisch ist das nicht, eher extrem nerdig.

seemoz: Über das Theater also zum Dirigieren? Deine Eltern müssen vor Freude geplatzt sein.

Venzago: Nicht wirklich. Mein Vater wollte mich vor den unvermeidlichen Entbehrungen und Enttäuschungen des Berufs schützen, meine Mutter hingegen hat mich darin sehr unterstützt. Aber ich musste halt besser werden. Viel besser. Also schlossen wir einen Deal: Mein Vater stimmte zu, dass ich die Aufnahmeprüfung als Dirigent ein einziges Mal probieren durfte. Wenn ich durchfiele, sollte ich etwas ganz anderes machen, etwa Jura oder irgendwas mit Wirtschaft.

seemoz: Hattest Du auch noch andere Träume, außer Dirigent zu werden?

Venzago: Damals konnte ich mir weder Jura noch BWL vorstellen. Heute, gerade in diesen turbulenten Konstanzer Zeiten, wünsche ich mir ab und an, darüber mehr zu wissen und alle mit sachlichen Argumenten zu schlagen. Aber damals zog mich nichts in die Richtung. Ich bin im Theater und mit der Oper aufgewachsen, meine frühesten Kindheitserlebnisse gehen darauf zurück. „Der Kreidekreis“, eine sehr moderne Oper von Alexander von Zemlinsky, war mein erster Opernbesuch. Da war ich etwa zwei. Mein Vater musste mich in der Pause Meter für Meter nach Haus tragen, und ganz Heidelberg ist von meinem Geschrei aufgewacht. Später war ich dann fast jeden Abend dort. Den „Rigoletto“ habe ich wahrscheinlich vierzigmal gesehen. Und dann durfte ich Statist werden. Die Begründung war logisch: „Du bist ja eh jeden Abend hier!“

Am besten aber habe ich mich mit den Beleuchtungsmenschen verstanden. Als Beleuchtungsstatist stehst Du 10 Stunden auf der Bühne rum und es heißt, geh mal nach links, geh mal nach rechts. Das war für mich das Großartigste. Eigentlich wollte ich unbedingt Beleuchtungsmeister werden … (wird schwärmerisch) eine ganze Bühne in rotes Licht tauchen …

seemoz: Was gab den Ausschlag für das Dirigieren? Das väterliche Vorbild?

Venzago: Nein. 2004 kam der 24-jährige Cornelius Meister zum Probedirigat nach Heidelberg und wurde Generalmusikdirektor. Als ich sah, dass ein so junger Mensch einen solchen Posten bekommen kann, dachte ich über den Job nach. Mir ist damals bewusst geworden, welche Freiheiten Du hast. Du kannst mit Sänger:innen arbeiten, Du kannst ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne stellen, Du kannst aus einem Orchester einen Korpus formen, mit dem Du Sternstunden erleben kannst.

seemoz: Was lernst Du eigentlich im Dirigier-Studium? Die Handbewegungen beherrscht ja jeder Mensch nach zwei Monaten.

Venzago: Nach zwei Tagen. Im Endeffekt kommt Dirigieren von Machen. Aber Machen kann man erst, wenn man Wissen hat. Ich war kein einfacher Student, daher musste ich öfter mal die Dirigier-Klasse wechseln und habe verschiedene Perspektiven kennengelernt. Natürlich haben wir die Grammatik gelernt, also wie schlage ich Musik – eigentlich ein schrecklicher Ausdruck, „Musik schlagen“ – welche Bewegungen brauche ich für welche Effekte? Vor allem aber geht es im Studium darum, wie man eine Partitur dirigentisch liest und wie sie umgesetzt werden kann. Wir müssen die unterschiedlichen Notenschlüssel und Notationen für die einzelnen Orchesterinstrumente lernen, und das kostet sehr viel Zeit.

In einer idealen Welt würde man im Studium vor allem Hintergrundwissen zu den Partituren erwerben. Wer war Beethoven, in welcher Welt hat er gelebt, was hat ihn umgetrieben, wie war die Aufführungspraxis damals – und wie kann ich all das heute ausdrücken? Sagt mir das heute überhaupt noch etwas oder soll ich die Musik nur „neutral“ umzusetzen versuchen? Dafür bleibt im Studium jedoch wenig Zeit.

Im Klassenzimmer haben wir zur Übung Sinfonien dirigiert, und die Mitstudent:innen haben an zwei oder mehr Klavieren den Orchesterpart gespielt. Ein Orchester tickt aber ganz anders als ein paar Kommilitonen am Klavier. Diese dringend notwendige Praxis-Erfahrung habe ich im Studium wirklich sehr vermisst. Ebenso wie die dazugehörige Psychologie, 60 Musiker:innen zu motivieren, sie zu erreichen und gut zu proben. Da fühlte ich mich oft sehr alleingelassen. Heute sitze ich auf der anderen Seite und habe die Möglichkeit, gezielt Kurse für angehende Dirigent:innen anzubieten. Dennoch würde ich es mir wünschen, dass die Klassen noch näher an die Orchester herankommen, dass Studierende früh und ausreichend Möglichkeiten bekommen, mit Orchestern zu arbeiten.

seemoz: Du bist als Dirigent in einer ähnlichen Situation wie ein Fußballtrainer, der zuerst als Meistertrainer gefeiert und nach zehn verlorenen Spielen wegen Erfolglosigkeit gefeuert wird?

Venzago: 50% meines Berufs bestehen darin, diverse Menschen auf sehr vielen Ebenen zu überzeugen. In der Probe die Musiker:innen, am Abend das Publikum, die Abonnent:innen, die Politiker:innen (die ich gern öfter auch mal im Konzert überzeugen würde) etc.

Auch bei uns gibt es Niederlagen, etwa wenn ein Programm vom Publikum nicht angenommen wird. In Konstanz allerdings redet man – anders als im Sport – über Schließung und Abwicklung gerade jetzt, wo wir am erfolgreichsten sind. Im Unterschied zu einer Fußballmannschaft haben wir aber auch Gasttrainer, Dirigenten, die für eine Woche zu uns kommen. Das schärft die Technik und den Stil.

seemoz: Verstehst Du Dich im Berufsalltag, in dem die Hauptarbeit ja in den Proben geschieht, vor allem als Orchestererzieher?

Venzago: Ich bin kein Erzieher, zumal ich als 35-Jähriger nicht Menschen, die viel mehr Erfahrung haben als ich, sagen kann, wie sie was zu tun und zu lassen haben. In Wirklichkeit bin ich eher der Stilgeber und Stratege. Wir brauchen eine gemeinsame Handschrift, und diese Handschrift will ich liefern. Wir brauchen Alleinstellungsmerkmale, Identität. Eine Partitur in allen Details zu analysieren und ein Interpretationskonzept zu entwickeln, das ist mein Kerngeschäft. Außerdem muss ich manchmal auch daran erinnern, wie wir intern kommunizieren und uns verhalten wollen.

seemoz: Mit erzieherischen Maßnahmen kriegst Du keine eigene Handschrift hin?

Venzago: Das ist verschieden. Es gab diktatorische Dirigenten, die extrem erfolgreich waren, etwa Toscanini, der Musiker sehr schlecht behandelt haben soll. Aber erstens sind diese Zeiten vorbei, und zweitens will ich so viel Macht überhaupt nicht haben, sondern ich will ein gutes Produkt schaffen – und ich will das in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, mit größtem Respekt vor den Musiker:innen, tun. Wenn jeder Musik machen will und diese Freiheit spüren kann, können Sternstunden entstehen.

seemoz: Gibt es auch jüngere Dirigenten, den es vor allem um Macht geht? Der Job füttert ja schließlich das Ego ungemein?

Venzago: Ich habe auch in meiner Generation schon Leute erlebt, denen es vor allem um Macht geht.

seemoz: Ist „Macht“ vielleicht nicht das richtige Wort?

Venzago: Doch, diesen Leuten geht es darum. Und ich finde „Macht“ schon das richtige Wort, denn während der Proben hast Du ja die Alleinherrschaft. Du musst nichts zulassen. Du kannst den Musiker:innen sagen, Du und Du, Ihr spielt das so, und wenn ihr das nicht tut, kriegt Ihr ein Problem. Du kannst als Dirigent den Orchestermitgliedern das Leben zur Hölle machen.

Ich selbst könnte mich gar nicht so verhalten, denn für mich hat unser Beruf eine dienende Komponente. Wir sind die Stellvertreter der Komponisten, wollen ihre Musik erlebbar machen, die Musiker:innen zu Höchstleistungen inspirieren und nicht knebeln. Auch bei unserer oft sehr hohen Arbeitsbelastung will ich den Alltag erträglich gestalten.

Das Gespräch führte Harald Borges.
Bilder: Privatbesitz

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