
Als einzige Stadt, die in Baden-Württemberg einem Landkreis angehört, leistet sich Konstanz ein eigenes Sozial- und Jugendamt. Zu dessen 100-jährigem Jubiläum publizierte das Stadtarchiv eine Festschrift. In einem Dutzend Beiträge schildern die Autor:innen die Geschichte und die aktuellen Herausforderungen der städtischen Institution.
Das Buch richtet sich explizit an die breite Öffentlichkeit, obgleich mancher Beitrag eher ein sozialpädagogisch vorgebildetes oder ein speziell an der Stadtgeschichte interessiertes Publikum anspricht. Sein Titel „Kommunale Fürsorge am Bodensee“ führt indes in die Irre. Es geht nicht um die Bodenseeregion, sondern ausschließlich um die Stadt Konstanz, und beschäftigt sich auch nicht mit der ganzen Bandbreite kommunaler Fürsorge, sondern mit dem Aufgabenbereich des städtischen Jugendamts.
Den besten Überblick über das Sammelwerk liefert bemerkenswerterweise der letzte Beitrag „Die Besonderheiten des Konstanzer Sozial- und Jugendamts“, verfasst vom aktuellen Amtsleiter Alfred Kaufmann. Hier, nicht am Anfang, sollte man mit dem Lesen beginnen.
„Die Beiträge“, so Kaufmanns fehlplatzierte Einführung, „beleuchten (…) einerseits Meilensteine der organisatorischen Entwicklung, aber andererseits auch ausdrücklich die Veränderungen in der rechtlichen Grundhaltung, der kontinuierlich erweiterten Ausgestaltungen der Hilfeleistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in Konstanz.“
Weiter schreibt Kaufmann: „Größeren Raum nimmt auch die Auseinandersetzung mit dem Thema kommunale Selbstverwaltung ein. Dieses Thema hat für das Jugendamt Konstanz eine zentrale Bedeutung, weil es in Baden-Württemberg das im Moment einzige Jugendamt einer kreisangehörigen Gemeinde ist. Wie es dazu kam, warum es so ist, wird eindrücklich dargestellt und von den Autoren … positiv bewertet.“
Im Dienste des Führers
Nach einleitenden Grußworten von Politikern und von Professor Reinhard Wiesner, dem Doyen und (als Ministerialbeamter) „Vater“ des aktuellen deutschen Kinder- und Jugendhilferechts, skizziert Herausgeber Jürgen Klöckler die Geschichte des Konstanzer Jugendamts von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik. Kern seines Beitrags ist die Gleichschaltung des alsbald mit dem Fürsorgeamt (heute: Sozialamt) zusammengelegten Jugendamts in der NS-Zeit: einerseits durch das Einsetzen einer parteihörigen Amtsleitung, andererseits durch die Anstellung zuvor arbeitsloser und selbst von der Fürsorge abhängiger „alter Kämpfer“ auf den unteren Ebenen, weiter durch die Verschiebung von Aufgaben an die Hitlerjugend und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV).
Interessant, aber nicht weiter Thema, ist die personelle Kontinuität von der Nazizeit in die frühe Bundesrepublik. Der 1934 eingesetzte Amtsleiter Ludwig Eberhard amtierte (mit Unterbrechung als Wehrmachtsoffizier) bis 1970.

Nach Jürgen Klöckler schreibt Jürgen Treude, von 1998 bis 2011 Leiter des Sozial- und Jugendamts, auf knapp hundert Seiten über die „Eigenständigkeit und Entwicklung der Jugendhilfe seit den 1950er Jahren“. Gut illustriert mit Fotos, Grafiken, Tabellen und Zeitungsausschnitten richtet sich dieser Beitrag mit seinem Überblick über die Entwicklung der vielfältigen Arbeitsfelder des Jugendamts doch vor allem an das Fachpublikum. Laien werden etwa mit der „Synopse Rechtsgrundlagen RJWG – JWG – SGB VIII“ nur wenig anfangen können. Lokalhistorisch Interessierte indes erfahren, gut mit Quellen belegt, warum Konstanz 1953 seine Eigenständigkeit aufgab und sich dem Landkreis anschloss,.
Vom Polizeirecht zur Sozialpädagogik
Greifbarer wird die Entwicklung der Jugendhilfe vom Polizei- und Ordnungsrecht des Obrigkeitsstaats hin zur modernen „sozialpädagogischen Leistungsverwaltung“ in Günter Wagners Beitrag „Von der Fürsorgeerziehung zum professionellen, differenzierten Jugendhilfeangebot – die sozialpädagogische Entwicklung des Jugendamts Konstanz“. Wagner, 1990–2011 Leiter der Abteilung Sozialer Dienst, beschreibt hier auch anhand von Fallgeschichten den Übergang von die Familie ersetzender zu familienergänzender Hilfe, also weg von der Einweisung in Heime und Pflegefamilien hin zu einem breiten Repertoire sozialpädagogischer Unterstützung kriselnder Familien.
Waren Sozialarbeit und Jugendhilfe zunächst vor allem Hilfe in Einzelfällen, gab es in den 1970er Jahren eine Wende hin zu Gruppen- und Gemeinwesenarbeit: In Konstanz beginnend mit dem Sozialzentrum Stockacker, das neben Sozial- und Familienberatung auch Hausaufgabenhilfe und Förderprogramme für benachteiligte Kinder anbot.
Wagner erinnert daran, dass das Sozialzentrum seinerzeit auch ehrenamtliche Helfer, darunter auch Studierende, in sein Programm einbezog und so „die Entfremdung zwischen den sogenannt sozialschwachen Familien und den übrigen Bürgern der Stadt Konstanz verringert wird.“
Kein Kampf ums Juze?
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem Wandel der Amtsvormundschaft (Barbara Behrensmeier), der Entwicklung der Kindertagesbetreuung (Clemens Luft), und der Geschichte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Mandy Krüger). Hier geht es dann auch um das stadteigene Jugendzentrum, eingerichtet 1978 zunächst in der gerade von der französischen Armee verlassenen Klosterkaserne und alsbald umgezogen an den heutigen Standort in der Jägerkaserne.
Bislang fehlt eine zusammenfassende Darstellung der (autonomen) Konstanzer Jugendzentrumsbewegung, die wohl 1973 mit einer Hausbesetzung im Rosenlächerweg begann und Mitte der 1990er mit den Bauwägen der Initiative „Unser Juze“ auf dem heutigen Sea-Life-Gelände ausklang. Und zu der im weiterem Sinn auch der Jugendtreff „Mauerblümchen“ (heute „Contrast“) und das besetzte Haus am Fischmarkt gehörten.
Krügers Beitrag streift immerhin den Streit um die Selbstverwaltung des „Juze“ in der Jägerkaserne, das 1991 durch die Stadt unter dem Vorwand eines Umbaus geschlossen und zwei Jahre später unter neuem, nunmehr von Mitarbeiter:innen des Jugendamts entwickeltem und geleiteten Konzept wieder eröffnet wurde. Neue, etwa durch Erschließen von bislang unbekannten Archivalien gewonnene Erkenntnisse zu dieser „Verstaatlichung“ liefert Krüger nicht.

Im Buch finden sich zwischen den Beiträgen eingestreut Interviews mit früheren Sozialdezernenten des Landkreises (Axel Goßner) und der Stadt (Claus Boldt; warum nicht auch Wilhelm Hansen?), mit früheren und aktuellen Amtsleiter:innen (Christa Herrmann, Jürgen Treude, Alfred Kaufmann), schließlich mit einer früheren Mitarbeiterin (Monika Nootz).
Amt am Limit
War bis zur Seite 334, also nahe dem Ende des Buchs, abgesehen von den braunen Jahren im Großen und Ganzen alles prima im Amt, zieht mit dem Beitrag von Wolfgang Seibel, emeritierter Professor für Öffentliche Verwaltung, ein düsterer Schatten auf: Die Arbeitsbelastung und Personalfluktuation im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), also der zentralen Anlaufstelle für Familien in schwierigen Lebenslagen. In einem 2023 an den Jugendhilfeausschuss und den Gemeinderat gerichteten Hilferuf beklagt die Behörde, zwei Drittel der Mitarbeitenden hätte ihre Stelle in den letzten fünf Jahren aufgegeben und den ASD verlassen, man könne aktuell nur noch einen Notbetrieb aufrechterhalten.
„Makropolitische und gesellschaftliche Problemlagen“, so Seibel, „zu denen soziale Ungleichheit und Migrationsbewegungen gehören, [erzeugen] ganz neue, zum Teil dramatische Herausforderungen für die Jugendämter, … die nicht zu bewältigen sind.“ Schon gar nicht mit einem „Personalbestand, der sich im Umbruch befindet“, bedingt vor allem „durch einen negativen Zirkel aus physisch und psychisch belastender Aufgabenbewältigung.“
Seibel fordert deshalb verstärkte Anreize für die Personalrekrutierung – wovon allerdings der aktuelle Gemeinderat wenig hält, versagte er doch kürzlich zum Beispiel den städtischen Angestellten die Teilnahme am „Firmenfitness“ (seemoz berichtete).
Was fehlt?
Kein Thema ist im Buch die – wohl auch der Personalsituation geschuldete – Übertragung von Aufgaben nicht nur an die herkömmlichen, gemeinwohlorientierten Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Arbeiterwohlfahrt, sondern jetzt auch an profitorientierte freie Träger der Jugendhilfe wie etwa das nicht ganz unproblematische Unternehmen Flexflow (mehr zu dieser Firma in Kontext:Wochenzeitung Nr. 725). Auch über die Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hätte der Rezensent gern mehr erfahren, kommen solche Fälle in der Grenzstadt Konstanz doch sicher des Öfteren vor. Sei’s drum.

Zur Anschaffung empfohlen sei das Werk vor allem Lokalhistoriker:innen, Sozialpädagog:innen, Jugendrechtler:innen und jenen, die sich für Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung interessieren. Alle anderen mögen allenfalls mal in der Bibliothek einen Blick hineinwerfen – oder warten, bis sie es zu welchem Anlass und von wem auch immer geschenkt bekommen. Es ist – wie viele Geschenke – an sich ein gutes Ding, aber nicht unbedingt das, was man gerade erträumt oder brauchen kann.
Text: Ralph-Raymond Braun
Fotos: Pit Wuhrer
Jürgen Klöckler (Hg.): „Kommunale Fürsorge am Bodensee. Das Konstanzer Jugendamt 1925 bis 2025“. 372 Seiten, 18 Euro. UVK Verlag.
Außer mit der Festschrift feiert das Jugendamt seinen runden Geburtstag auch am Freitag mit einem Festakt für geladene Gäste im Bodenseeforum. Den Festvortrag hält Dr. Reinhard Wiesner.
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