
Man kannte ihn als Praktiker, als Linken, der sich jahrzehntelang dafür engagierte, die Utopie des bezahlbaren Wohnraums in Konstanz umzusetzen. Weniger bekannt – aber nicht weniger wichtig – waren seine theoretischen Überlegungen zur Veränderung der Welt. Wir haben mit Herbert Rünzi einen großen Denker verloren. Durch Mängel im System der medizinischen Notfallversorgung leider unnötig früh.
Zumindest den Bewohner:innen der Chérisy, die dort schon länger leben, dürfte Herbert Rünzi noch bekannt sein. Über viele Jahre bildete er zusammen mit Dieter Bellmann die Geschäftsführung der Neuen Arbeit GmbH. Die beiden waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus einer ambitionierten Projektidee ein praktischer Erfolg wurde: Ein leerstehendes Kasernenareal ohne ausreichend dotierte Eigenmittel in bezahlbaren studentischen Wohnraum zu verwandeln benötigte tatsächlich Einfallsreichtum, Einsatzwille und Durchhaltevermögen.
Herbert war über viele Jahre für die Finanzen und alle Buchhaltungsaufgaben der Neuen Arbeit verantwortlich. Ein ausgebildeter Buchhalter war er nicht, er hatte Sozialwissenschaften in Konstanz studiert. Als kluger Kopf und mit Zahlen vertraut, konnte er sich die trockene Materie problemlos aneignen. Ein glücklicher Umstand war für seinen beruflichen Werdegang als Mit-Geschäftsführer allerdings schon vonnöten.
Das Haus am Höhenweg und die Chérisy
Herbert wohnte in den 1970er und 1980er Jahren längere Zeit im Haus der ESG (Evangelische Studierenden- und Hochschulgemeinde Konstanz) am Höhenweg in Konstanz. In diesen Jahren war das stattliche Haus ein beliebter Treffpunkt für politische Initiativen aller Art. So traf sich auch das Linksdemokratische Forum (LDF) Ende der 70er Jahre im Höhenweg. Und der ESG e.V. nahm sich schon früh der studentischen Wohnungsnot in Konstanz an, und mietete, quasi als Bürge, Wohnungen für Wohngemeinschaften an – eine Wohnform, die im bürgerlichen Konstanz damals oft noch misstrauisch als „Kommune“ beäugt wurde. Aus diesen Aktivitäten entwickelte sich dann das Chérisy-Projekt.
Wohl auch für ihn selbst überraschend, kam Herbert so zu einer beruflichen Tätigkeit, die ihn für den Rest seines Arbeitslebens ausfüllen sollte. Als Führungsperson in einer Organisation zu arbeiten, die auf basisdemokratische Grundsätze, auf Mitsprache der Beteiligten und auf Eigeninitiative setzt, war herausfordernd und nicht immer ein reines Vergnügen. Intern wie extern hakte es häufiger und so mancher hitzige Konflikt musste ausgestanden werden.
Herberts Naturell, bescheiden zu sein, stoisch zu bleiben und reflektiert zu handeln, waren hier von Vorteil. Er behielt die Übersicht und auf ihn konnte man sich verlassen. Am Ende ist es gut herausgekommen. Die Chérisy hat sich als ein Wohn-, Arbeits- und Kulturraum in Konstanz etabliert, der sich von den üblichen Wohngebieten unterscheidet und ein Zuhause mit eigenem Flair bietet.
Wissenschaft als Lebensinhalt
Man könnte jetzt meinen, die Entwicklung und Führung der Neuen Arbeit hätte Herbert gänzlich in Beschlag genommen und er wäre in diesem Projekt vollumfänglich aufgegangen. Dem war nicht so. Seine große Leidenschaft gehörte weder dem Immobiliensektor noch der betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung, sondern der Wissenschaft. Herbert war ein brillanter Kopf und so strebte er nach Abschluss des Magisterstudiums eine Promotion an.
Die bereits im Erststudium gewonnenen Erkenntnisse wollte er mit einer Doktorarbeit vertiefen. Inhaltlich ging es dabei um die kritische Rekonstruktion der Kapitaltheorie von Karl Marx. Im Jahre 1985 legte er dann seine Dissertationsprüfung ab und 1987 erschien sein Werk „Der Heißhunger nach Mehrarbeit. Zur Kritik und Korrektur von Marx‘ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft“ in einem kleinen Verlag.
Damit waren aber weder alle Fragen geklärt noch sein Wissensdurst gestillt. Neben der Geschäftsführertätigkeit arbeitete Herbert weiter an einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Wir haben uns über viele Jahrzehnte regelmäßig zum Nachmittagstee getroffen. Neben der kritischen Erörterung der politischen Weltenlage ging es dabei häufig um die Ausarbeitung seiner Theorie.
Stieß er auf offene, ungeklärte Punkte, dann konnte Herbert wochenlang über eine Klärung nachdenken, ein begrenzendes Zeitfenster ließ er nicht gelten. Er beleuchtete die Sache von allen Seiten, und solange er keine für ihn befriedigende Darstellung gefunden hatte, musste er weiter nachdenken.
Ohne Zeitdruck bei Hegel
Als Privatgelehrter, der das Denken als Hobby und in der Freizeit praktizierte, war er keinem fremden Druck ausgesetzt. Er musste keine Artikel veröffentlichen, aufwendige Forschungsanträge stellen oder Lehrveranstaltungen vorbereiten: Er war nur sich selbst und seinem Verständnis von wissenschaftlicher Qualität und Redlichkeit verantwortlich. Die Kehrseite war, dass er eben in keinen größeren Diskussionskreis eingebunden war; sein Austausch beschränkte sich auf wenige Personen.
Das gründliche und vorurteilsfreie Räsonieren, das keinen Zeitdruck kannte, führte dazu, dass sich seine Arbeiten in die Länge zogen und nicht fertig wurden. Über viele Jahrzehnte hinweg hat er akribisch an der Überarbeitung und Erweiterung seiner Dissertation gearbeitet.
Eine wichtige Quelle für sein Nachdenken über den Kapitalismus wurde dabei neben Karl Marx der Sozialphilosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Eine herausfordernde Lektüre zweifelsohne. Herbert war immer wieder verblüfft über die Einsichten Hegels, die jener theoretisch formulierte, obwohl die historischen Gegebenheiten noch gar nicht reif dafür waren. An so einem vielschichtigen Theoretiker konnte er sich bestens abarbeiten.
„Mit Marx über Marx hinaus“
Im Jahr 2019 veröffentlichte Herbert dann endlich seine Überlegungen zu «Das Kapital» in Buchform unter dem Titel „Mit Marx über Marx hinaus“. Eine kurze Besprechung habe ich vor Jahren in seemoz publiziert. Herbert nahm in den letzten Jahren noch an Debatten über Inhalt und Ursprung des Wertbegriffs bei Karl Marx teil, eine umfassende Würdigung seiner eigenen Marx-Rekonstruktion fand bislang nicht statt und steht noch aus.
Ausgehend von dieser Rekonstruktion arbeitete Herbert an der Ausformulierung seiner eigenen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die nichts Geringeres als die umfassende wissenschaftliche Darstellung der bekannten Bereiche Ökonomie, Politik und Privatheit ins Auge fasste. Dieses Mammutprojekt konnte er nicht mehr abschließen; es liegen zahlreiche Manuskripte vor, veröffentlicht ist nichts. Auch weil Herbert der Meinung war, dass erst das Ganze entwickelt werden müsse, bevor an eine Veröffentlichung zu denken ist. Erst wenn die Wissenschaft einen Kreis geschlagen hat, der Anfang zum Ende kommt und mit ihm das Ende wieder auf den Anfang verweist, ist die Theorie rundend. Das Wahre ist das Ganze, wie Hegel vielsagend formulierte.
Rein persönlicher Selbstzweck war das Theoretisieren allerdings nicht. Herbert wollte die inneren Zusammenhänge der kapitalistischen Gesellschaften erkennen und darstellen, um klarzumachen, welche grundlegenden Veränderungen nötig sind, um ein besseres Leben für alle zu erreichen. Die Erkenntnis der bestehenden Verkehrs- und Sozialformen sollte den Mitmenschen Argumente für ein Verändern und Neugestalten der modernen Gesellschaften an die Hand geben.
Allerdings gab der politische, aber auch geistige Zustand genau dieser Gesellschaften Herbert wenig Anlass zur Hoffnung. Der Weg zu fundamentalen Veränderungen schien ihm weit, wenig deutet daraufhin, dass die ökologische Krise bewältigt werden, ein Ausstieg aus dem Wachstumszwang gelingen könnte. Er pflichtete jenen Stimmen bei, die konstatierten: Wir leben in barbarischen Zeiten!
Zwar nahm Herbert immer wieder an öffentlichen Debatten, Vorträgen und Veranstaltungen teil, ergriff dann auch das Wort, doch ein politischer Aktivist war er nicht; gehörte keiner politischen Gruppierung an. Tagespolitische Scharmützel waren seine Sache nicht, zentral für ihn war die Klarheit im Denken. Ironischerweise erhielt er für seine intellektuelle Leistung, die ihm besonders wichtig war, die erhoffte Anerkennung und Aufmerksamkeit der Fachgemeinde beziehungsweise der interessierten Öffentlichkeit nur spärlich, während er mit seinem berufspraktischen Einsatz für das Chérisy-Projekt tatsächlich bleibende Spuren hinterlassen hat.
Der Einschnitt
Ein Herzinfarkt am 2. Januar 2023 hat sein gewohntes Leben stark erschüttert und in eine unerwartete Richtung gelenkt. Zwar waren die Rettungskräfte relativ zügig vor Ort, aber leider fand der Notarzt 90 Minuten lang kein aufnahmebereites Krankenhaus im Bodenseeraum.
Die notwendige kardiologische Versorgung verzögerte sich sehr lange. Das eher harmlose Gerinnsel wurde nicht rechtzeitig aufgelöst, das Resultat war ein dauerhaft stark beschädigter Herzmuskel und eine bleibende gravierende Herzschwäche. Auf geliebte Hobbies wie Sport (Joggen und Fitness-Training) oder das auswärtige Tango-Tanzen musste er von nun an verzichten. An ein Fertigstellen seiner theoretischen Überlegungen war ebenfalls nicht mehr zu denken.
Geblieben ist ihm bis zuletzt die Freude und Lust am Kochen. Herbert war ein begeisterter und vorzüglicher Koch – zuweilen kochte er auch für große Anlässe. Aufgewachsen in einem Elternhaus im Hotzenwald (Südschwarzwald), das neben dem Gemüseanbau und der Waldwirtschaft auch einen Gasthof betrieb, kam er schon früh mit dem Kochen in Berührung. Diese Leidenschaft hat er sein Leben lang gerne und ausgiebig gepflegt. Neugierig probierte er neue Rezepte, fremdländische Gewürze und exotische Zutaten aus. Glücklich die, die in den Genuss seiner kulinarischen Kreationen kamen. In den letzten Februarwochen ist jedoch auch dies belastender und anstrengender geworden.
Wir verlieren mit Herbert einen feinen Menschen, einen sehr lieben Freund und einen großen Denker. Es war ihm wichtig, dass sich die Menschen umeinander kümmern, sich fraglos beistehen und unterstützen – dafür wollte er keinen Dank.
Herbert Rünzi starb am 2. März 2025. Die Trauerfeier und die Beisetzung auf dem Allmannsdorfer Friedhof fanden bereits statt.
Text: Uli Weigel / Foto: privat
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