Zsuzsanna Gahses experimentelles, witziges und geistreiches Spiel mit der Sprache in ihrem aktuellen Werk «Zeilenweise Frauenfeld» kann auf mehrere Arten gelesen werden. Der Schriftsteller Jochen Kelter über das Buch einer Kollegin, die von einer sprachbegeisterten Leserschaft seit langem hoch geschätzt wird.
Zsuzsanna Gahse ist in Budapest geboren, kam nach dem ungarischen Aufstand gegen das stalinistische Regime 1956 nach Wien, lebte in Kassel und Stuttgart und seit vielen Jahren in der Schweiz, und ist seit geraumer Zeit in Müllheim im Kanton Thurgau daheim. Sie erhielt zahlreiche Preise, u.a. den aspekte-Literaturpreis, den Italo-Svevo-Preis, nicht zuletzt 2019 den gut dotierten Grand Prix Literatur des Bundes.
Gleichwohl ist sie vor allem Insidern, Literaturkennern bekannt. Das dürfte an ihrer experimentellen Schreibkunst liegen, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht. Es ist keine uns gewohnte Erzählliteratur der fortlaufenden, logisch oder psychologisch nachvollziehbaren Handlung. Der Titel «Zeilenweise Frauenfeld» bringt es auf den Punkt. Da ist zunächst Frauenfeld, der überschaubare Hauptort des Kantons Thurgau, dessen Innenstadt man anhand des Buchs ablaufen kann. Von der Promenade und dem Regierungsgebäude in der Oberstadt durch die kleine Altstadt bis hinunter zum Bahnhofvorplatz und noch weiter hinunter zum Flüsschen Murg. Ober- und Unterstadt werden im Süden durch die Rheinstrasse verbunden (der hier weder durch- noch vorbeifliesst), die hinauf und hinunter aber immer wieder die ältere, schwarz gekleidete Frau mit ihrer Einkaufstasche geht. Eine von mehreren wiederkehrenden Figuren.
Zum anderen verweist die Titelzeile «Zeilenweise» darauf, dass diese Prosa (weder Roman noch Erzählung) nur ausnahmsweise aus mehr als einer bis drei Zeilen besteht. So formen die 150 Seiten ein luftiges Buch, das man relativ schnell lesen kann. Betonung auf «kann». Eine Schlüsselstelle findet sich auf Seite 39: «Meisterwerke» entstehen «nicht durch die Identität des Urhebers, sondern dadurch, dass sich der Urheber dem Werk aussetzt.» «… wo sollte der Urheber … die innere Einheit seiner eigenen Person hernehmen?» Radikaler Modernismus.
Der aber ist gepaart mit Witz. Gahse liebt Wörter. Findet in ihnen immer neue Assoziationen oder paart sie zu Stabreimen. Sie bindet die Wörter ein in die Wirklichkeit um uns herum und erlaubt sich Absurditäten. «Mit der Mozartperücke gibt es einen geschützten Innenraum für den Kopf. Einen Fluchtraum. / Diesen Fluchtraum hat der findige Mozart genutzt, um Wolfgang und Amadeus zu werden.» Gespaltene Persönlichkeiten, auf keinen klaren Nenner zu bringende Menschen treffen auf eine Sprache, die die Dinge, die sich uns entziehen, nur ungefähr benennen kann (die Sprachwissenschaft bezeichnet das als „Nominalismus“). Das ergibt bei ihr einen bunten Kosmos aus Menschen und Wörtern, die überall herumschwirren.
Frauenfeld, so genau seine Topographie auch beschrieben wird, ist somit austauschbar gegen vergleichbare Ortschaften mittlerer Grösse. Das wird auch deutlich, wenn die Autorin immer mal wieder grosse Städte wie Berlin oder Barcelona aufruft. Frauenfeld mit seinem zu warmen Sommer, den herumstromernden Menschen und den herumschwirrenden Wörtern ist überall.
Zsuzsanna Gahse: Zeilenweise Frauenfeld, Edition Korrespondenzen, Wien 2023, 150 Seiten, 24.00 EUR, 32.90 SFR, ISBN 152 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, mit Schutzumschlag und Lesebändchen, ISBN 978-3-902951-78-6.
Text: Jochen Kelter, Bild: JoachimKohler-HB via Wikipedia – This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.
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