Eine Ausstellung der Stolperstein-Initiative im Gewölbekeller des Konstanzer Kulturzentrums widmet sich zwei lange vernachlässigten Opfergruppen des NS-Regimes. Es geht um jene mehr als 300 Konstanzer:innen, die zwischen 1934 und 1945 Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Morden wurden.
Am Nordostrand des Konstanzer Friedhofs, nahe den Kriegsgräbern, erinnern drei graue Stelen an die „Opfer von Euthanasie und Unmenschlichkeit“. Die das Mahnmal umgebende öde Rasenfläche ist ihrerseits von einem Sockel aus Steinplatten eingefasst, auf denen etwa 160 Namen eingraviert sind – manche nur mit Initialen, andere verwittert und kaum noch zu entziffern. Auf einer Platte liegt ein Blumengebinde, eine andere wurde wohl kürzlich gereinigt, insgesamt wirkt die Anlage aber eher vernachlässigt und in die Jahre gekommen.
Stehen wir hier vor einer reinen Gedenkstätte oder vor einem Massengrab, in dem tatsächlich sterbliche Reste bestattet sind? Und was war das Schicksal derer, an die hier erinnert wird? Eine erklärende Tafel sucht man vergebens.
Wer Antworten sucht, findet diese nicht auf dem Friedhof, sondern im Gewölbekeller des Kulturzentrums. Hier erinnert die Initiative „Stolpersteine für Konstanz – gegen Vergessen und Intoleranz“ mit der Ausstellung „Es konnte alle treffen“ an die Konstanzer Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“, wie das NS-Regime euphemistisch den Massenmord an Menschen mit geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderungen verbrämte.
Im Räderwerk der NS-Rassenhygiene
319 Opfer konnten die Ausstellungs- und Buchmacher:innen Sabine Bade und Roland Didra in mühseliger Archivarbeit namentlich identifizieren. Da indes viele Akten angesichts des ausgebliebenen Endsiegs noch von den Nazis und wohl auch später vernichtet wurden, dürfte die Gesamtzahl der Konstanzer Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder, die zwischen 1934 und 1945 unter Zwang unfruchtbar gemacht oder im Rahmen der „Euthanasie“-Morde vergast oder totgespritzt wurden, noch um einiges höher sein.
Ins Räderwerk der NS-Rassenhygiene gerieten nicht nur Kranke. Gefährdet war auch, wer die Fürsorgekassen belastete, nicht den vermeintlich nötigen Bildungsstand aufwies oder wer von den geltenden sozialen oder ideologischen Normen abwich. Es konnte alle treffen, an deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder „erbbiologischen Qualität“ Zweifel bestanden.
Von den Erbsen zur Zwangssterilisation
Und das konnte leicht passieren. So erinnere ich mich an ein Schulheft meiner damals 16-jährigen Mutter. Es beginnt im Schuljahr 1940/41 mit dem Foto eines properen, in die Stulle beißenden Jungen, untertitelt mit „Gesundes Volk! Gesunde Kinder!“
Ging es im Schulheft vom Vorjahr noch um Rasse und Volksgemeinschaft, standen nun die Mendelschen Regeln der Vererbung auf dem Lehrplan – ausgehend von den Erbsen (mit denen Gregor Mendel seine Versuche begann), dann die Augenfarbe, weiter mit der Rassenmischung („Muss ein Volk untergehen?“) und zuletzt zu den Erbkrankheiten. Merke: Sogar hinter einem gesunden Erscheinungsbild (Phänotyp) kann sich ein krankes Erbbild (Genotyp) verbergen, das an die Kinder weitergegeben wird. In diesem Gedankengebäude ist es geradezu zwingend, „Erbkranke“ an der Weitergabe ihrer Gene zu hindern.
Täterprofile
Zwei Mediziner, die dies in Konstanz mit besonderem Eifer taten, lernen wir im Gewölbekeller näher kennen. Da war Amtsarzt Ferdinand Rechberg (1900-1980), ein überzeugter Nationalsozialist, der als Leiter des Gesundheitsamts zuerst die Anträge auf Sterilisation stellte, um dann als Beisitzer des Erbgesundheitsgerichts über seine Anträge mitzuentscheiden. Rechbergs Karriere nahm nach kurzem Knick am Ende des NS-Regimes in der jungen Bundesrepublik wieder Fahrt auf und beförderte ihn 1954 auf den Chefsessel des Psychiatrischen Landeskrankenhaus Reichenau (heute ZfP). In dieser Position ein gefragter Gutachter in Wiedergutmachungsfragen, durfte er nun über die Entschädigung eben jener Opfer entscheiden, die er in der Nazi-Zeit hatte sterilisieren lassen.
Ein differenziertes Bild zeichnet die Ausstellung von Arthur Kuhn (1889–1953 und nicht verwandt mit dem für seine Medikamentenversuche berüchtigten Münsterlinger Psychiatriedirektor Roland Kuhn). Bald nach deren Machtantritt von den Nazis anstelle seines politisch missliebigen Vorgängers als Anstaltsleiter eingesetzt, stellte Arthur Kuhn die „Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz“, wie das ZfP vor dem Krieg hieß, mit großen Eifer in den Dienst der nationalsozialistischen Rassenhygiene. So durchforstete er auch die Krankenakten längst entlassener Patienten nach „erbkranken“ Kandidaten für die Zwangssterilisation.
Ganz anders jedoch war seine Einstellung zur Tötung seiner Patient:innen, die ab Sommer 1940 mit den berüchtigten grauen Bussen abgeholt und zur Vergasung nach Grafeneck und ins hessische Hadamar gebracht wurden. Hier lehnte er es ab, beim Erstellen der Todeslisten mitzuwirken. Auch Kuhn steht für das schnelle Vergessen der Nazigräuel in der jungen Bundesrepublik. Als bloßer Mitläufer eingestuft, leitete er von 1949 bis zu seinem Tod wieder die Reichenauer Anstalt.
Vertuscht und verdrängt
Nach Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden widmet sich die Ausstellung als drittem Thema der Aufarbeitung nach 1945. Während die allermeisten Täter, ob sie nun als Mediziner oder Juristen bei den Eugenik-Verbrechen mitwirkten, schnell wieder in Amt und Würden kamen, bleibt den Opfern bis heute die Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus versagt.
Eine Tafel im Gewölbekeller ist dem eingangs erwähnten, 1984 auf dem Konstanzer Friedhof errichteten Mahnmal gewidmet. Hier sei nur soviel verraten, dass die Stelen nicht nur an die Eugenik-Verbrechen der Nazis erinnern, sondern mit ihrer Vorgeschichte darüber hinaus auch ans Vertuschen und Vergessen-Wollen der Nachkriegszeit. Zum Schämen. Und vielleicht steht auch deshalb auf dem Friedhof keine erklärende Tafel.
Wie auch das Amtsgericht, vormals Sitz des Erbgesundheitsgerichts, das Gesundheitsamt oder das Krankenhaus, in dem die zu Sterilisierenden operiert wurden, jede öffentliche Erinnerung an die mit ihren Institutionen verbundenen Untaten vermissen lassen. Anders das Zentrum für Psychiatrie Reichenau, wo ein vom Konstanzer Künstler Alexander Gebauer gestaltetes Mahnmal der ermordeten Patienten gedenkt. In Konstanz jedoch haben Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Opfer keinen Ort der Erinnerung.
Vom Gedenken zu neuen Fragen
Wer sich intensiver mit dem Thema (und dem Konstanzer Vertuschen- und Vergessenwollen) beschäftigen will, dem sei das der Ausstellung zugrunde liegende Buch „Es konnte alle treffen“ empfohlen, ein, so der Untertitel, „Gedenkbuch für die Konstanzer Opfer von NS-Zwangssterilisation und Euthanasie-Verbrechen 1934–1945“. Ja, es ist ein Gedenkbuch, das, wie ja auch die Stolperstein-Initiative, vor allem die Opfer die Anonymität entreißen und ihre Schicksale aufzeichnen will.
Nun zeichnet es eine gute wissenschaftliche Arbeit aus, dass sie nicht nur neue Erkenntnisse bringt, sondern auch neue Fragen aufwirft. Etwa die Auseinandersetzung damit, inwiefern oder ab wann die früher ja auch in demokratisch verfassten Ländern wie den USA, der Schweiz oder den skandinavischen Staaten praktizierte Zwangssterilisation ein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht war.
Mehr erfahren hätte ich gern auch über die Konstanzer Zeit von Ludwig Sprauer (1884–1962). 1930–33 Amtsarzt in Konstanz, stieg er zum obersten Medizinalbeamten Badens auf und war damit die höchste Instanz für die Abwicklung der „Euthanasie“-Morde im Südwesten. Dafür zu lebenslänglicher Haft verurteilt und 1951 bereits wieder begnadigt, verbrachte Sprauer seine letzten Lebensjahre mit Beamtenpension wieder in Konstanz.
War Widerstand möglich?
Über das ZfP wissen wir, dass Direktor Arthur Kuhn zwar das eine oder andere Leben rettete, indem er Patient:innen aus der Anstalt entließ oder als „unabkömmliche Arbeitskraft“ von den Transportlisten strich – wofür dann eben andere in die grauen Busse steigen mussten und zur Vergasung gebracht wurden, sodass im Ergebnis doch jede:r zweite Patient:in getötet wurde. Andere badische Anstalten, etwa die Illenau (Achern) hatten eine deutlich geringere Tötungsrate. Da stellt sich mir zuletzt die Frage: War Widerstand überhaupt möglich? Und wenn ja, unter welchen Umständen konnte er wirksam sein?
Dergleichen Fragen hätten jedoch den Rahmen des Konstanzer Gedenkbuchs gesprengt. Aber dass sie einem überhaupt in den Sinn kommen und zum Weiterdenken animieren, ist eben auch ein Verdienst des Buchs.
Text: Ralph-Raymond Braun
Die Ausstellung: noch bis 31. März 2024 im Gewölbekeller des Kulturzentrums Konstanz, Münsterplatz, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So/Feiertag 10–17 Uhr. Eintritt frei.
Das Buch: Sabine Bade / Roland Didra: „Es konnte alle treffen. Gedenkbuch für die Konstanzer Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Verbrechen 1934-1945“. Mit einem Vorwort von Aleida Assmann. Hartung-Gorre Verlag Konstanz 2024, ISBN 9783866288034. 24,90 Euro.
Fotos (von der Ausstellungseröffnung am 27. Januar 2024, vom Konstanzer Friedhof und vom Mahnmal des ZfP Reichenau): Pit Wuhrer
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