Noch gehen die großen Demos gegen Rechtsextremismus weiter – beispielsweise am 24. Februar in Rottweil gegen den dort geplanten AfD-Landesparteitag. Aber was folgt? Sind die Aktionen ein Strohfeuer? Was bräuchte es für ein dauerhaftes Engagement? Und wer demonstriert da überhaupt? Das fragten wir den Soziologen Dieter Rucht, der seit Jahrzehnten Bewegungen und Protestformen untersucht.
seemoz: In diesen Wochen — und es hört noch nicht auf — gehen hunderttausende Bürger:innen gegen die AfD auf die Straße. Gibt es von einer unabhängigen Beobachterstelle einen groben Überblick, wie viele es ingesamt sind: zwei, drei oder gar vier Millionen?
Dieter Rucht: Ich kenne keine zusammenfassende quantitative Bilanz aus unabhängigen Kreisen. Vor allem mit Blick auf Proteste in kleineren Orten müsste man die Lokalpresse durchforsten, um flächendeckende Zahlen zu ermitteln. Hinzu kommt die Problematik von oft überhöhten Angaben der Organisatoren von Massenprotesten. Auf der Website demokratieteam findet sich eine fortlaufende aktuelle Zählung. Jedenfalls handelt es sich um eine Größenordnung, welche die der Friedensproteste in den 1980er Jahren, der bis dato größten Massenmobilisierung in der Bundesrepublik, schon jetzt übertroffen hat. Allein am letzten Wochenende im Januar gingen Presseberichten zufolge in 319 Städten rund 820.000 Menschen auf die Straßen.
Sie selbst konstatieren in Interviews: „Jetzt ist ein Damm gebrochen.“ Und: Es handle sich um „ein generalisiertes Aufwachen“ gegenüber den Gefahren von Rechts für die Demokratie. Warum ist der Damm gebrochen?
Dieter Rucht: Im Nachhinein finde ich meine Metapher des Dammbruchs nicht besonders treffend. Sie bedeutet, dass eine große, abrupt einsetzende Flut einen bereits bestehenden Schutzwall punktuell zerstört und sich dann auf ungeschütztes Terrain ergießt.
Wie beschreiben Sie diese Ereignisse dann heute?
Dieter Rucht: Es gibt schon länger diffuses Unbehagen und Unmut über das Erstarken anti-demokratischer und rassistischer Tendenzen. Bisher hat das kaum eine angemessene Ausdrucksform gefunden. Und all das manifestiert sich nun in diesen symbolischen Gesten des „Flagge-Zeigens“. Diese Gesten, vielfach weitergetragen und kommentiert über die Medien, verstärken sich wechselseitig, so dass es inzwischen Demonstrationen auch in kleineren Orten gibt.
Was war der Auslöser?
Dieter Rucht: Auslöser war das oder die sogenannten „Geheimtreffen“ diverser Rechtsradikaler. Deren Aussagen, die in den Berichten zitiert werden, sind nach meiner Wahrnehmung allerdings nicht neu. Schon in einem 2018 erschienenen Buch verkündete Björn Höcke „ein groß angelegtes Remigrationsprojekt“, das eine Politik „wohl temperierter Grausamkeit“ erforderlich machen werde. Somit wundere ich mich, dass interessierte und engagierte Bürger:innen gerade jetzt — oder erst jetzt? — davor erschrecken, was Rechtsradikale sagen und fordern. Wenn man unbedingt zu Metaphern greifen will, dann könnte man dieses große Bild zeichnen: Wir befinden uns in einer Phase der Sortierung von Strömungen und Gegenströmungen, welche aus vielen Quellen gespeist werden. Und beeinflusst wird diese Sortierung von trägen Tiefenströmungen, Winden und Stürmen und den Anziehungs- und Abstoßkräften stabiler Himmelskörper. Es geht in dieser Zeit um eine große Neusortierung gesellschaftspolitischer Kräfte.
Die demokratische Zivilgesellschaft ist von sich selbst begeistert: Toll, wie sich Millionen Menschen mit Wucht für Demokratie und gegen AfD zu Wort melden! Sollte man nicht die Kirche im Dorf lassen? Mein Gegenbeispiel: Allein im wohlhabenden Hessen wählten im vergangenen Oktober knapp 500 000 BürgerInnen die AfD …
Dieter Rucht: Demonstrationen sind nicht nur Signale an politische Gegner und die Öffentlichkeit, sondern auch Akte individueller und kollektiver Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung. Ähnlich wie Geldspenden für „gute“ Zwecke wirken sie entlastend. Man hat schließlich etwas getan. Überwiegt diese Haltung, so bleibt das Demonstrieren folgenlos. Es ist ein Strohfeuer, das schnell erlischt. Aber Demonstrationen können auch einen Einstieg sein, um sich anhaltend zu engagieren, weit über das bloße Signal, über die Geste hinaus. Damit wird eine Glut geschürt, die lange Zeit wirkt.
Als die NPD 1989 in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung einzog, protestierten spontan Tausende. Es gab einst Lichterketten nach rassistischen Anschlägen in den neunziger Jahren. Vor fünf Jahren mobilisierte das Bündnis „Unteilbar“ Hunderttausende, damit Hilfe für Geflüchtete und soziale Anliegen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Werden die Demonstrationen heute genauso bloße Strohfeuer sein?
Dieter Rucht: Eine auf die Zukunft bezogene Antwort fällt mir schwer. Die Lichterketten waren symbolische Gesten, aber bedeuteten für die Masse der Beteiligten keinen Einstieg in eine politische Auseinandersetzung oder gar in einen Kampf. Die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie haben jedoch einen direkten Bezug zu den organisierten politischen Kräften: Was machen Regierungen und deren Parteien? Was machen Oppositionsparteien gegen die AfD? Was unterlassen sie, wo begehen sie Fehler? Bei den Demonstrationen heute geht es also um Fragen politischer Macht, weniger um die Macht der Bilder.
Gibt es Erkenntnisse, wer heute auf die Straße geht? Die üblich Verdächtigen, links-liberale und kosmopolitisch gesinnte, meist studierte Mittelschichtler mit geringen bis keinen materiellen Sorgen? Also der neue junge Mittelstand, während der alte Mittelstand zusammen mit den Bauern gegen die Zumutungen der Ampel-Regierung Blockaden organisiert.
Dieter Rucht: Es gibt nur Eindrücke und Schlaglichter, aber keine Untersuchungen. Nach Augenschein und spontanen Aussagen Einzelner handelt es sich primär um den Mittelstand — übrigens aus allen Altersgruppen — und speziell das liberale bis progressive Bildungsbürgertum.
Was müsste geschehen, damit aus diesen Demonstrationen mehr wird als ein vorübergehendes Ereignis?
Dieter Rucht: Es müsste zumindest ein Teil der derzeitig noch „lose“ handelnden und demonstrierenden Bürger:innen bereit sein, künftig anhaltend in bestehenden und auch neuen Netzwerken und Gruppen aktiv zu werden. In manchen Orten, beispielsweise Ludwigsburg, gibt es solche Bestrebungen schon. Woanders versuchen bereits bestehende Bündnisse ihre politische Arbeit auszuweiten und zu verstetigen. An wiederum anderen Orten wird es bei zwei oder drei Demonstrationen bleiben. Dann kehrt wieder der Alltag ein.
Schaden oder nützen diese Demonstrationen der AfD?
Dieter Rucht: Das lässt sich derzeit schwer beantworten. Es gibt gegenläufige Tendenzen. Einerseits klingt angesichts der jetzigen Massenproteste der von der AfD missbrauchte Slogan „Wir sind das Volk“ zunehmend lächerlich. Die AfD gerät in die Defensive, mag auch einen Teil derer verlieren, die ohnehin nicht ganz von ihr überzeugt waren. Aber dass sie derzeit stark verunsichert sei oder gar panisch reagiere, wie es ein von mir geschätzter Kollege behauptet, kann ich nicht erkennen.
Welche Wirkung ist wahrscheinlich?
Dieter Rucht: Es ist wahrscheinlich, dass die nun im Gegenwind stehende AfD ihre Positionen noch entschiedener als bisher verficht. Die derzeitigen Meinungsumfragen und die Aussichten auf Wahlerfolge beflügeln sie. Ich rechne jedoch nicht mit einer großen Verschiebung der politischen Gewichte, sondern mit einer Verhärtung der Fronten in der politischen Debatte. Aufgrund dieser Verhärtung werden auch Teile der sogenannten Mitte der Gesellschaft, die sich bisher vor einer Positionierung gedrückt haben, eindringlicher nach ihrer „Haltung“ gefragt sein.
Wie drückt sich denn diese Verhärtung aus?
Dieter Rucht: Zur Verhärtung der Fronten trägt unter anderem der auf diversen Protestpodien vorgetragene Slogan bei: „Ganz Berlin (oder auch: München, Göttingen, … ) hasst die AfD“. Ich halte diesen Slogan nicht nur für unwahr, er steht auch im Widerspruch zur Meinung anderer Demo-Teilnehmer:innen, die Schilder wie „Hass ist keine Lösung“ oder „Gegen Hass und Hetze“ hochhalten.
Wie und für was könnte demonstriert werden, damit es der AfD schadet?
Dieter Rucht: Massenkundgebungen sind eine Sonderform der Kommunikation unter „Einverstandenen“, so der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Sie sind Barometer für Unzufriedenheit, Veränderungswünsche, Wut, manchmal auch Verzweiflung. Sie können Gegner einschüchtern, verstummen lassen oder auch zur Gegenmobilisierung anstacheln. Die AfD wird dadurch nicht ins Mark getroffen. Was die Partei jedoch träfe, wäre die fortdauernde aktive Stellungnahme und Gegenmobilisierung in den kleinen Räumen des Alltags: am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Elternversammlung, in der Kneipe. Vor allem auf dem Land und besonders im Osten hat sich die AfD als Kümmerer etabliert, dem es angeblich um die „wahren“ Interessen der „wahren“ Deutschen gehe und erst sekundär um Wählerstimmen. Dieses Bild lässt sich mit akademischen Diskursen und flammenden Reden nicht dekonstruieren. Das geht nur, wenn sich Bürger:innen konkret und praktisch einmischen und glaubwürdig zu Wort melden, in den Parlamenten, aber eben auch in der Schule, in Vereinen, am Arbeitsplatz. Das ist so — und trotzdem fürchte ich gerade, in Leerformeln zu verfallen.
Die AfD zu verbieten, jetzt weil sie in Umfragen bis zu 30 Prozent stark geworden ist — wie sehr schadet, wie sehr nützt das der Demokratie?
Dieter Rucht: Ein Verbot wäre eine Art von Kapitulation, ein Signal der Schwäche und nur vermeintlich ein Indiz für die „Wehrhaftigkeit der Demokratie“. Im Übrigen könnte die Partei unter neuem Namen und vielleicht etwas abgemilderter Rhetorik weitermachen. Und ein Verfahren, das ein Nicht-Verbot zur Folge hätte, würde als Erfolg der AfD verbucht. Angesagt ist eine politische Auseinandersetzung, keine juristische. Nicht ein einzelnes Urteil, sondern das Handeln von Millionen sollte „Wehrhaftigkeit“ herstellen und verkörpern, in einem ständigen gesellschaftlichen Prozess.
Ich komme zurück nach Hessen: Die AfD erreichte hier bei der Landtagswahl 2013 4,1 Prozent und zehn Jahre später wuchtige 18,4 Prozent. Was machen die anderen Parteien falsch?
Dieter Rucht: Wenn die anderen Parteien mehr als 80 Prozent auf sich vereinigen, machen sie nicht alles falsch. Wenn sie jedoch sukzessive an Stimmen verlieren, dann liegt das daran, dass sie zu viel versprechen, zu viele Phrasen dreschen, Entscheidungen unzureichend vorbereiten und begründen, zu wenig zwischen Haupt- und Nebenschauplätzen unterscheiden, sich zu oberflächlich mit den Erfolgsgründen ihres Hauptgegners AfD befassen, zu sehr auf Machterwerb statt auf Ideenwettbewerb ausgerichtet sind, zu einseitig als Apparate und Parteimaschinen und zu wenig als politisch „Bewegte“ agieren.
Im einst roten Hessen erreichen Konservative und Rechte und Rechtsextreme deutlich mehr als die absolute Mehrheit. Haben wir es vor diesem Hintergrund nicht mit einem gewaltigen Rechtsruck dieser Gesellschaft zu tun, bei dem die AfD gar nicht das Hauptproblem ist?
Dieter Rucht: Die Klassifizierung der Stimmen nach dem Links-Rechts-Schema ist unzureichend. Sie wird nachträglich an die jeweiligen Stimmanteile von Parteien angelegt. Wenn Wähler:innen entscheiden, dann orientieren sich die meisten nicht an Links oder Rechts. Sondern sie urteilen, wie ich eben ausführte, aufgrund eines komplexen Bündels von Gesichtspunkten, Informationen, Erwartungen und Wertungen, nicht zuletzt auch Gefühlen. Die Wähler:innen verorten sich selbst vielleicht auf der Links-Rechts-Skala ganz anders. Man kann aus vielen Gründen AfD wählen, man muss sich dabei subjektiv nicht als rechts oder gar rechtsextrem verorten. Klar ist: Die AfD an der Spitze und auf der Funktionärsebene ist de facto eine rechtsextreme und rassistische Partei. Das gilt auch für viele ihrer Wähler:innen, aber keineswegs für die Gesamtheit.
Interview: Wolfgang Storz. Das ungekürzte Gespräch ist auf Bruchstücke zu finden, dem „Blog für konstruktive Radikalität“
Fotos von der Anti-AfD-Demo in Singen am 27. Januar 2024: Pit Wuhrer
Schreiben Sie einen Kommentar