Der prophetische Don Quijote
Selbstverständlich hatte er die Rekrutenschule absolviert und war eingerückt, als die Schweizer Regierung im Juli 1914 die Mobilmachung anordnete. Aber nun den Fahneneid schwören und womöglich auf Menschen schießen? Das ging zu weit. Er verweigerte Schwur und Waffe und erwartete sein Todesurteil. Die Offiziere waren jedoch derart fassungslos, dass sie den 27-Jährigen umgehend in eine Anstalt einwiesen.
Dabei war der Geschäftsführer des Berner „Ratskellers“ keineswegs krank, sondern nur konsequent: Die „Menschheitskatastrophe Krieg“ verstieß für ihn gegen das Gebot der Nächstenliebe – dass man sich auf „Geheiß einiger gekrönter Häupter gegenseitig“ umbrachte, fand er unerträglich. Nach ein paar Monaten mussten sie den „gebesserten Psychopathen“ laufen lassen; seine Arbeitsstelle war er aber los.
Aus der bürgerlichen Existenz gekegelt, beschloss er, nur noch seinem Gewissen folgend für den Weltfrieden zu kämpfen – zunächst in Bern, wo er bei Nationalräten und der Generalität vorstellig wurde, dann, 1917, in Zürich, wo er nach einer Rede mit dem Ruf „Vorwärts, holt die Arbeiter raus!“ zwei Munitionsfabriken lahmlegte. Er sammelte Spenden für die Friedensarbeit, hielt sich mit Bücher- und Gemüsehandel über Wasser und machte mit Friedensmärschen und Hungerstreiks nicht nur seine Frau unglücklich.
Keine Gewaltaktion ließ der Radikalpazifist unkommentiert, weder den Überfall Japans auf die Mandschurei noch die Kriegstreiberei Deutschlands, weder den Algerienkrieg noch die Besetzung der Westbank. In hunderten Briefen forderte er die Verantwortlichen auf, ihn zu Friedenskonsultationen zu empfangen, er verlangte Rederecht bei der Uno und protestierte – meist allein, mit weißer Fahne – in Berlin, Washington, Moskau, Paris …
Seine Versuche, die Schweizer Regierung in die Friedensarbeit mit einzubinden, blieben erfolglos. Doch auch die Justiz gelangte nicht an ihr Ziel: Seine Wohnortgemeinde Zumikon widersetzte sich immer wieder seiner Entmündigung.
Wer war der 1976 verstorbene, unbeirrbare Prophet, der Walter Ulbricht die Mauer abkaufen wollte und noch mit 83 Jahren gegen den Vietnamkrieg marschierte?
Text: Brigitte Matern
Auflösung des Rätsels
In unserem Rätsel fragten wir nach dem Schweizer Pazifisten Max Daetwyler (1886–1976). Der gelernte Textilkaufmann und ehemalige Geschäftsführer des Berner „Ratskellers“ saß für seine Friedensaktionen immer wieder im Gefängnis und kassierte unzählige Geldbußen, die er jeweils langsam und in Raten abstotterte. Zu „Dättis“ Friedensprojekten gehörten die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa nach Schweizer Vorbild und eine internationale Kriegsächtungskonferenz (zu der er die Regierungschefs der Welt persönlich einlud und um Anmeldung beim Bundesrat bat). Ein detailliertes Bild seines unermüdlichen Einsatzes zeichnet Stephan Bosch in „Max Daetwyler. Der Friedensapostel“, Rüffer & Rub, Zürich 2007. brm
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