Hanno Loewy, Leiter des Jüdischen Museums Hohenems, spricht im Saiten-Interview über den Nahostkonflikt, Hoffnungsschimmer in Zeiten einer erstarkenden Rechten, alte Anfeindungen und das Konzept „seines“ Hauses, das vor kurzem den Rheintaler Kulturpreises verliehen bekam.
Saiten: An der Rheintaler Kulturpreisverleihung zum Goldiga Törgga hat man Ihnen obendrauf den originalen Spazierstock von Paul Grüninger überreicht. Sind Sie überhaupt ein Spaziergänger?
Hanno Loewy: Meine Frau und ich gehen sehr viel wandern, aber eher in unwegsamerem Berggelände, wo ich in der Regel stabilere Stöcke dabeihabe.
Wo befindet sich Grüningers Stock jetzt?
Im Moment liegt er noch zuhause auf dem Klavier. Er wird vermutlich bald als Leihgabe an einer Ausstellung über Flucht im Rheintal im Museum Prestegg in Altstätten zu sehen sein und dort einen ersten Ehrenplatz haben.
Der Preis der Rheintaler Kulturstiftung ging 2024 erstmals nach Österreich und erstmals nicht an eine Person, sondern an eine Institution. Was bedeutet Ihnen der Kulturpreis als Leiter der ausgezeichneten Institution?
Normalerweise gilt ja der Prophet nix im eigenen Land. Offenbar werden das Jüdische Museum Hohenems (JMH) und seine Arbeit aber auch in unserer unmittelbaren Region wahrgenommen, auch wenn wir manchmal herausfordernd sind und schwierige Fragen stellen. Das ist sehr bewegend. Natürlich haben wir auch viele internationale Gäste. Aber die Menschen in unserer Nachbarschaft sind uns – neben den Nachkommen der Hohenemser Jüdinnen und Juden – natürlich besonders wichtig.
Wie haben Sie die Preisverleihung in Heerbrugg Anfang November erlebt?
Der Abend war ausgesprochen lustig und angenehm. Die Musik von Karl Kave & Durian war der Hammer, eine echte Entdeckung für uns. Das hat so gut gepasst, diese Brücke zwischen St.Gallen und Wien, so wie Milo Rau auch diese Brücke darstellt. Denn jene, um die es in unserem Projekt hauptsächlich geht – die Menschen, die Ende der 30er-Jahre hier in Hohenems über die Grenze flüchteten –, waren zu einem sehr grossen Teil jüdische Proletarier:innen aus Wien, Schuhmacher, Tapezierer, Schneider:innen, auch viele Fleischhauer und so weiter. Diese Leute hatten oft einen osteuropäischen Hintergrund und waren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien geflüchtet. Sie sind das Gros der Menschen, die damals illegal und oft mittellos in die Schweiz einreisten.
Es ist eine hübsche Ironie, dass das Jüdische Museum einen Kulturpreis mit dem Namen „Goldiga Törgga“ – benannt nach dem aus der Türkei eingeführten Rheintaler Ribelmais – bekommt.
Das hat uns sehr amüsiert. Das JMH ist ja wohl eines der ersten Museen in der Region überhaupt, das sich mit dem Thema zeitgenössischer Migration beschäftigt hat. Und der größte Teil der Arbeitsmigrant:innen, die seit den 1970er-Jahren nach Vorarlberg kamen, stammt eben aus der Türkei.
Der Preis geht ja nicht „nur“ an das Museum, sondern auch ein bisschen an Sie. Sie leiten das JMH jetzt immerhin seit 20 Jahren. Wie sind Sie als Frankfurter damals überhaupt im beschaulichen Hohenems gelandet?
Nach Hohenems zu kommen, hatte schon eine gewisse Logik. Ich bin in Frankfurt aufgewachsen und habe da in den 90er-Jahren das Fritz Bauer Institut, ein Studien- und Ausstellungszentrum zum Thema Holocaust, aufgebaut. Ziemlich rasch nach der Gründung des JMH 1991 haben wir in Frankfurt erfahren, dass es in Hohenems ein spannendes, manchmal freches und offensive Fragen stellendes Museum gibt, das an Themen interessiert ist, die uns auch in Frankfurt bewegten. So schickten wir unsere Wanderausstellungen in der Regel auch nach Hohenems. Als meine Frau und ich in diesem Zusammenhang 1994 erstmals nach Hohenems fuhren, fanden wir den Ort schon irgendwie spannend. Es war Winter, wir sind durch den Schnee spaziert und haben am Funkensonntag einer „Hexenverbrennung“ beigewohnt. Wir haben also auch merkwürdige Dinge gesehen (lacht).
Und das hat euch dazu bewogen herzuziehen?
Vor allem haben wir den Mut und die Klugheit dieses Museums bewundert in diesem damals noch ziemlich tristen Hohenems, wo die Sattelschlepper mitten durch das Zentrum fuhren. Mittlerweile kann man hier gut flanieren, es hat sich einiges zum Guten verändert. Und Hohenems war nahe an den Alpen, mit denen meine Frau und ich unabhängig voneinander Ferienerinnerungen aus der Kindheit verbanden. Ab 1994 machten wir dann mit unseren Kindern jedes Jahr Urlaub in Sapün-Dörfji, das war unser Bullerbü in den Bergen. Und auf dem Weg lag immer Hohenems.
Wie wurden Sie Leiter des JMH?
Eigentlich hätte ich im Herbst 2003 bloß eine Eröffnungsrede für eine Ausstellung halten sollen. Doch der Sommer hatte weiterreichende Entscheidungen mit sich gebracht. Im Frühling wurde die Stelle des Museumsleiters ausgeschrieben, ich bewarb mich und erhielt nach zwei Interviews den Zuschlag. So kamen wir im Oktober 2003 zum Schnuppern hierher.
Wussten Sie, dass Sie so lange hierbleiben würden?
Uns war schon bewusst, dass das hier vorerst kein Ablaufdatum kennt. Wir wussten aber nicht, wie lange wir es hier aushalten würden. Entscheidend war auch, dass meine Frau bald eine gute Stelle am Gymnasium in Bregenz fand. Wir konnten uns gut auf das Leben hier und die Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen einlassen, teils vielleicht fast etwas zu gut.
Wie meinen Sie das?
2009 gab’s so einen Schlüsselmoment. Damals war Wahlkampf in Vorarlberg und der FPÖ-Spitzenkandidat und Landesrat führte eine heftige, ausländerfeindliche Kampagne. Beraten wurde die Vorarlberger FPÖ damals übrigens vom SVP-Spindoktor Alexander Segert. Sie [die Vorarlberger FPÖ] galt bis dahin eigentlich immer als der pragmatische wirtschaftsliberale Teil der Partei und weniger als ideologisch aufgeladener Parteiflügel um Jörg Haider. Wir als Museum haben dem FPÖ-Spitzenkandidaten ein paar kritische, auch ironische Fragen gestellt zu seinen Plakaten, zum Beispiel zu jenem, auf dem stand, dass es Elterngeld nur für „heimische Familien“ geben solle, um die angebliche islamische Überfremdung einzudämmen. Wir fragten, wer für ihn „heimisch“ sei, und gaben verschiedene Antworten zum Ankreuzen. Seine Reaktion darauf war, mir an einer TV-Wahlversammlung auszurichten, dass ich mich als „Exiljude aus Amerika“, der ein hochsubventioniertes Museum betreibe, hier mal nicht in die inneren Angelegenheiten und in den Wahlkampf einmischen solle.
Wie hieß der Politiker?
Das war Dieter Egger. Heute ist er Bürgermeister von Hohenems und hat sich ziemlich gewandelt. Damals flog er aufgrund dieses Eklats aus der Landesregierung, der damalige Landeshauptmann von der ÖVP hat die Zusammenarbeit mit der FPÖ verweigert, weil man die Aussage nicht zurücknehmen wollte. Später, als Egger entschied, Bürgermeister von Hohenems werden zu wollen, hat er sich öffentlich und in aller Form bei mir entschuldigt. Das war, hatte ich den Eindruck, durchaus aufrichtig und ernst gemeint. Seitdem fällt er nicht mehr mit fremdenfeindlicher Agitation auf, im Gegenteil: Er ist manchmal in Flüchtlingsfragen offener und anerkennender als manche Politiker:innen anderer Parteien. Und er hat erkannt, dass das Jüdische Museum und das ganze jüdische Viertel wichtige Impulse für die Stadtentwicklung gaben.
Die Entschuldigung
Dieter Eggers öffentliche Entschuldigung an Hanno Loewy im auszugsweisen Wortlaut: „Im Wahlkampf 2009 kam es von meiner Seite zu einer Äusserung Ihnen gegenüber, deren Tragweite mir damals nicht voll bewusst war. Es steht und stand mir zu keiner Zeit zu, Ihnen das Recht, sich politisch in diesem Land zu äussern, in irgendeiner Form abzusprechen. Es ist mir keinesfalls darum gegangen, Ressentiments zu bedienen. Meine Äusserung war aber missverständlich und unangebracht. Ich habe Sie und viele andere Menschen damit verletzt. Ich möchte mich daher in aller Form bei Ihnen für diese Äusserung entschuldigen und hoffe, dass Sie meine Entschuldigung annehmen.“
Das Museum hat hier in der Provinz eine andere Wirkung, als wenn es im „roten“ Wien stehen würde.
Es gibt in Wien auch ein Jüdisches Museum, aber das ist etwas anderes. Als das JMH in den 90ern in die Krise geriet – unter anderem auch, weil sich keine Leitung fand, die auch hier wohnen wollte –, hat man ein neues Leitbild erarbeitet. Darin steht: „Das Museum hat eine integrierende und irritierende Funktion.“ Es steht auch darin, dass das Museum mit Ironie und Selbstironie arbeiten soll. Das hat mich schon überzeugt, als ich das JMH noch von aussen betrachtete. Diese Schule der Zweideutigkeit war schon entwickelt im Haus.
Milo Rau hat in seiner Laudatio angetönt, dass die FPÖ – seit diesem Jahr erstmals stärkste politische Kraft in Österreich – dem Museum einiges Ungemach bereitet hat. Was hat er damit gemeint?
Also die FPÖ bereitet einem ja ganz allgemein viel Ungemach. Früher gab es immer mal wieder Angriffe aufs Museum und Versuche, das JMH auf die Rolle eines braven Heimatmuseums zurechtzustutzen. Als man in Vorarlberg daran ging, die Errichtung von Moscheen zu erschweren, hakten wir ein. Die Begründung war, Gebäude müssten „ortstypisch“ sein. Wir haben damals mehrere Veranstaltungen dazu gemacht, wie man „ortstypische Minarette“ bauen könnte. Interessant war später, dass mit der Entschuldigung von Dieter Egger ein Stück weit eine andere Qualität von Diskussionen möglich wurde. Das Museum und auch seine gesellschaftspolitische Haltung wurde nicht mehr infrage gestellt.
Dennoch: Der Rechtspopulismus erstarkt, nicht nur in Österreich.
Das ist sicher keine österreichische Eigenheit, wenn man nach Frankreich, Deutschland, nach Ungarn oder jetzt in die USA schaut. Das ist ja so spooky: Man macht gezielt Stimmung mit einer Ideologie, an die man selber offenbar nur teilweise glaubt. Denn gerade auch in Vorarlberg ist man dringend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Das weiß auch die wirtschaftsnahe FPÖ. Und trotzdem wird gehetzt und auf die Pflege der Traditionen als wichtigstes Integrationsmoment gepocht, einzig zum Machterhalt, weil man damit gegen jeden Sinn und Verstand polarisieren und mobilisieren kann – und das erfolgreich. Das Problem ist, dass damit ständig eine Bombe geladen wird, von der man nicht weiß, ob sie einmal hochgeht.
Die Aufmerksamkeit des Museums richtet sich auch auf die Gegenwart. Wird in Zeiten eines eskalierenden Krieges in Gaza und im Libanon ein solcher Aktualitätsbezug für ein Museum wie das JMH noch dringlicher?
Das Museum verhielt sich schon immer politisch, aber nicht tagespolitisch. Wir sondern nicht ständig irgendwelche Presseerklärungen ab. Ab und zu nutzen wir unsere Social-Media-Kanäle, wo wir zum Beispiel Lektüreempfehlungen zu aktuellen Themen verlinken. Eine Ausnahme war der 7. Oktober 2023. Da haben wir zusammen mit dem Institut für Islamische Theologie der Universität Innsbruck eine Erklärung abgegeben, die weitherum beachtet wurde. Es hat sonst nicht viele gemeinsame Erklärungen aus wissenschaftlichen Bereichen gegeben, die sich mit dem Islam und dem Judentum befassen. Unsere Erklärung war auch die Basis für die Bildungsarbeit, die wir in der Folge aufbauten. In Schulklassen und Jugendzentren haben wir Gespräche geführt sowie Lehrpersonen und andere Erwachsene weitergebildet oder beraten. Über 1100 Personen haben in den sechs Monaten nach dem 7. Oktober an unseren Programmen teilgenommen.
Haben die Gespräche gefruchtet bei den Jugendlichen, die sich teils auf den Pausenhöfen blutige Propagandavideos hin und her schicken?
Ich glaube, im Großen und Ganzen schon. Nicht immer. In einem Jugendzentrum gab es schon mal eine verschworene Gruppe, die die Sache Palästinas zu ihrer eigenen gemacht hat. Die waren zu keinem Gespräch bereit und dann ging halt nichts. Aber solche Vorkommnisse, bei denen man nicht wenigstens irgendwie ins Gespräch kam, blieben die Ausnahme. Und das ist das Wichtigste: Es ist schon ein wesentlicher Erfolg, wenn man ein Bewusstsein dafür schafft, dass man über das Thema reden kann und muss, dass unterschiedliche Blickwinkel darauf auszuhalten sind und dass die Realität nicht so einseitig ist. Es gibt auf beiden Seiten so viel von der Propaganda gewollte Desorientierung, die jegliche Gespräche verhindert, dass man zu beiden Seiten kritische Distanz halten muss. Der ganze postkoloniale Diskurs zum Beispiel, der ja durchaus mal legitime Themen und wichtige kritische Positionen hervorbrachte, ist mittlerweile zu einem Identitätsdiskurs verkommen, den ich persönlich politisch eher rechts als links verorte.
Sie sprechen die unreflektierte Übernahme von Hamas-Propaganda in gewissen linken Kreisen an?
Jüdinnen und Juden haben immer in Palästina gelebt. Und im 19. Jahrhundert haben sich Menschen aller Couleur dort niedergelassen. Sie alle haben ein Recht, dort zu leben. Gewisse Leute legen ihren politischen Forderungen aber die identitäre Behauptung zugrunde, Palästina sei sozusagen natürlicherweise ein ur-arabisches Land, in dem Jüdinnen und Juden Fremde seien. «Siedler-Kolonialist:innen», die dort eigentlich nicht hingehören. Die Folge sind Vertreibungsfantasien: Palästina müsse vom Westen, vom Imperialismus, vom Zionismus befreit werden.
Bei so viel Begriffsunschärfe wird jede Debatte unmöglich.
Ja, es werden so viele Diskurse miteinander vermischt und moralisch aufgeladen, dass allen, die widersprechen, mit Aggression begegnet wird. Milo Rau hat in Wien einen Prozess veranstaltet, bei dem auch eine jüdische Aktivistin und ein Aktivist der Bewegung Boykott, Divestment, Sanktionen (BDS) als Zeug:innen eingeladen waren. Beide verweigerten sich jedem Dialog, haben ihre Statements abgelesen und sind gegangen. Sie standen wohl auch unter Gruppendruck, der individuelle Auseinandersetzung nicht toleriert. Sie hielten es nicht für nötig, der anderen Person wenigstens zuzuhören, weil sie überzeugt sind, im Recht zu sein. Diese Gesprächsverweigerung ist eine Form von Gewalt, die zwangsläufig weitere Gewaltformen nach sich zieht. Das ist ein Grundproblem in diesem Konflikt. Auf beiden Seiten übrigens!
Welche Nachrichten erreichen Sie aus dem Konfliktgebiet von Familie und Freund:innen?
Ich habe nicht mehr viele Verwandte in Israel. Aber ich habe sehr viele Freund:innen, mit denen ich in Kontakt stehe. Sie werden angesichts der politischen Entwicklungen in Israel komplett depressiv. Eine grosse Resignation macht sich breit, und wer kann, versucht für sich oder zumindest die Kinder irgendwie europäische Pässe zu organisieren. Früher haben noch viele den Mythos vor sich hergetragen, Israel sei ein sicherer Hafen für alle Jüdinnen und Juden und diesen müsse man verteidigen.
Dass Israel kein sicherer Hafen mehr ist, ist nicht nur den Bedrohungen von außen geschuldet.
Die innerisraelische Dynamik trägt ihren Teil dazu bei. Und es wird nicht besser. Auch nicht dadurch, wenn man die ganze Zeit so tut, als sei Israel bloß das Opfer. Viele, die ich kenne, wollen nur noch weg, weil sie die Demokratie in Gefahr sehen. Die israelische Demokratiebewegung war groß, beeindruckend groß und sie ist es bis heute. Aber ein Großteil davon kämpft immer noch für eine «jüdische Demokratie», ohne zu realisieren, dass damit das eigentliche Problem der israelischen Demokratie verdrängt wird. Man kann nicht für eine Vierfünftel-Demokratie kämpfen oder – wenn wir den Gaza-Streifen und die Westbank dazurechnen, quasi „from the river to the sea“ – eine halbe Demokratie. Denn es leben dort gleich viele jüdische Israeli wie arabische Palästinenser:innen. Doch solange es auf beiden Seiten keine Bereitschaft dafür gibt, dass alle Menschen dort gleichberechtigt und souverän miteinander leben können, kommt man einer Lösung des Konflikts nicht näher. Unabhängig davon, ob es zwei Staaten sind oder nicht. Wer „Palestine will be free“ skandiert, will die Vertreibung der Jüdinnen und Juden. Und umgekehrt ist die anhaltende und aggressive jüdische Besiedlung der Westbank ein deutliches Signal, dass man an einer echten Zweistaatenlösung kein Interesse hat. Israel will das Westjordanland schlucken und das wird unumkehrbar sein.
Haben Sie die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung aufgegeben?
Ich muss gestehen, ich glaube nicht mehr daran. Ich glaube, dass eine Art von Teilsouveränität nötig sein wird. Vielleicht irgendwie nach Schweizer Vorbild, wo die Kantone eine kulturelle Souveränität besitzen, aber zum Beispiel keine militärische. Man kann mir vorwerfen, das sei illusorisch und naiv. Natürlich ist das heute weit weg von der Realität. Keine Illusion ist aber, dass die Besiedlung der Westbank weitergeht und weit und breit niemand in Sicht ist, der dies ernsthaft verhindert. Das Resultat ist ein Staat unter israelischer Souveränität. Die Frage ist nur, was ist das für ein Staat. Und diese Frage zu stellen, ist überhaupt nicht naiv, sondern realistisch. Es gibt Nebelkerzen, naive Vorschläge, man könnte ja ein paar Gebiete abtauschen, ein bisschen umsiedeln und die Landkarte neu zeichnen. Man tut so, als ob man Gott wäre. Aber Gott ist nicht im Spiel. Ausser Gewalt und Bürgerkrieg kommt dabei nichts raus, das zeigen alle historischen Beispiele. Wenn man die Siedler:innen gewaltsam zurückholen wollte, gäbe es einen innerisraelischen Bürgerkrieg. Und eine echte, gleichberechtigte Zweistaatenlösung ohne volle palästinensische Souveränität – zu der wohl auch eine eigene Armee gehörte – würde auf arabischer Seite niemand akzeptieren. Also, das sind nur Illusionen, Täuschungsmanöver.
Mit der aktuellen israelischen Regierung scheint keine Lösung möglich.
Das ist ja nicht einmal der Punkt. Es wird auch wieder andere Regierungen geben. Die Frage ist, ob sie andere Visionen hat. Lange lebte man in der Illusion, es gebe so etwas wie einen Status quo, den es zu verteidigen gelte. Dieser Status quo war aber eine schiefe Ebene. Nein, ich habe keine Hoffnung, dass sich irgendwann eine ernsthafte Zweistaatenlösung mit voller Souveränität umsetzen liesse. Niemand will das wirklich, ausser Politiker:innen in Europa, die sich damit trösten und davor schützen wollen, der Realität ins Auge zu sehen. Die Autonomiegebiete unter israelischer Kontrolle wären langfristig so etwas wie ein Bantustan. Das wäre nur eine neue Form des Konflikts. Kommt hinzu, dass der Konflikt von aussen kräftig angeheizt und beiden Seiten das Gefühl gegeben wird, sie hätten das Vorrecht, dort zu leben. Wenn beide Seiten hingegen akzeptieren würden, dass beide Bevölkerungen, die ja in sich total vielfältig sind, das Recht haben, dort gleichberechtigt zu leben, wäre das ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber im Moment steuern alle einfach immer weiter in die Sackgasse hinein.
Die Stimmen von außen helfen hier auch wenig, beispielsweise wenn der Schweizer alt-Grünen-Nationalrat Geri Müller die Botschaft der Gesellschaft Schweiz-Palästina verteidigt, dass der Hamas-Führer und Hauptverantwortliche für die Terrorattacken vom 7. Oktober, Yahya Sinwar, eine Ikone des Widerstands sei.
Das sind alles Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, ihr Ego damit aufpumpen, Öl ins Feuer zu giessen. Ein anderes Beispiel ist der deutsche Ex-Grünenpolitiker Volker Beck, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Der macht genau dasselbe, nur auf der anderen Seite.
Woher kommt der Mangel an Empathie für das Leid der Gegenseite, über den derzeit viel geschrieben und gesprochen wird?
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Vielen scheint es leicht zu fallen, den Gewaltblocker auszuschalten.
Beide Seiten bedienen sich diverser Delegitimierungsstrategien. Die einen sagen, die Jüdinnen und Juden seien Siedler-Kolonialisten und Verschwörer hinter den Weltmächten, die anderen sagen, ohne die jüdische Siedlungstätigkeit hätte sich das zuvor dünn besiedelte Gebiet gar nicht zu einem so prosperierenden Land entwickelt und in der Folge so viele Araber:innen angelockt. Bis hin zur völlig abstrusen, aber in vielen Köpfen vorhandenen Behauptung, Palästina sei ein Land ohne Volk gewesen, oder denen, die glauben, das Land sei den Juden von Gott versprochen worden und basta. Diese Delegitimierungsstrategien wenden auch jene an, die den Konfliktseiten von aussen den Rücken stärken.
Was kann ein Museum, das knapp 3000 Kilometer von Israel entfernt liegt, dagegen unternehmen? Was kann es zur Konfliktlösung beitragen?
Wir können den Blick freilegen auf Realitäten, die heute aus ideologischen Gründen zugeschüttet sind. Ich finde, unsere aktuelle Ausstellung über arabisch-jüdische Identitäten ist ein sehr gutes Beispiel für unsere integrierende und irritierende Herangehensweise. Sie zeigt, dass arabische und jüdische Kulturen keineswegs immer ein Gegensatz waren. Sie zeigt aber auch einen Aspekt auf, der im postkolonialen Diskurs gerne ausgeblendet wird: Dass eben nicht alle Jüdinnen und Juden aus Europa kamen, sondern dass ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels arabische und persische Wurzeln hat und damit kulturell ähnliche wie die Palästinenser:innen, die auch nicht alle aus dem Land selber stammen, sondern oft aus Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien, Iran, Irak, Marokko, Saudi-Arabien. Diese arabischen und persischen Jüdinnen und Juden haben ihrerseits oft genug auch eine Geschichte von Vertreibung erlebt. Ihre meist unfreiwillige Migration nach Israel wurde dann wiederum propagandistisch ins Positive gedreht: «Sei nicht traurig, dass du Bagdad verlassen musstest, sei froh, jetzt hier im gelobten Land zu sein!» Und damit hat man ihnen auch in Israel ihre Geschichte und Kultur genommen.
Was bedeutete das für die arabischen Juden und Jüdinnen?
Sie galten lange und teils bis heute als Juden und Jüdinnen zweiter Klasse. Das trug wesentlich zur innerisraelischen Gespaltenheit bei. Jene mit europäischen Wurzeln, die eher als liberal gelten, hatten und haben teils nur Verachtung für die arabischen Jüdinnen und Juden übrig. Sie haben zumindest wesentlich bessere Chancen auf einen EU- oder sonst einen westlichen Pass, sie haben einen Plan B, falls es in Israel einmal gar nicht mehr geht. Für die arabischen Jüdinnen und Juden gibts keine Rückfahrkarte. Und so wählen sie mehrheitlich rechtsnational. Aus ihrer Sicht sind die liberalen europäischen Jüdinnen und Juden verantwortungslose Spinner, die abhauen sollen, wenn sie sich nicht an der Verteidigung ihres Landes beteiligen wollen.
Zurück in unsere Grenzregion: Am Alten Rhein ist ein neues Gedenk- und Vermittlungszentrum angedacht, ein «Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus». Der Kanton St.Gallen hat sich beim Bund dafür beworben. Das JMH spielt dabei eine wichtige Rolle.
Für uns ist es gewissermassen die Weiterführung unseres 100 Kilometer langen Fahrradwegs mit den diversen Hörstationen, wo man Geschichten von Geflüchteten und Fluchthelfer:innen erfährt. Dieser entstand während der Coronazeit, als wir uns nebst den Führungen dem Rhein entlang weitere Outdoor-Aktivitäten einfallen lassen mussten. 2022 wurde der Radweg eröffnet, 2023 haben wir das Buch dazu präsentiert. Während wir noch am Buch arbeiteten, meldete sich der Kanton St.Gallen bei uns. Man überlege sich eine Bewerbung für das geplante Schweizer Memorial für die NS-Opfer, ob sich das Museum in irgendeiner Form beteiligen wolle.
Was war Ihre Antwort?
Wir fanden die Idee eines Memorials, das über blosse symbolische Gesten hinausgeht, grundsätzlich spannend. Und wir waren uns einig, dass das eigentliche Thema dieser Zeit für die Schweiz der Umgang mit Geflüchteten ist. Nicht nur – aber vielleicht erst recht – aus Sicht eines Grenzkantons. Das hat man im Kanton auch so gesehen. So kam es zu einer Kooperation, an der auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund wesentlich beteiligt ist. Wir haben vor gut einem Jahr mit Barbara Thimm eine Person einstellen können, die sich als Projektleiterin mit dem grenzüberschreitenden Vermittlungsort am Alten Rhein beschäftigt. Sie ist für uns ein absoluter Glücksfall, sie hat schon vielfältige Erfahrung in Gedenkstättenarbeit und zuletzt etwa am Genocide Memorial in Phnom Penh mitgewirkt.
Wie ist der Stand heute?
Im Sommer haben wir in St.Gallen eine Tagung mit 100 Teilnehmenden veranstaltet. Das war ein Highlight. Sie fand in jenen Hochschulräumen statt, wo damals die Menschen aus dem Theresienstadt-Transport untergebracht worden waren. Auf der Tagung kamen schweizweit wichtige Akteure miteinander ins Gespräch. Natürlich gibt es unterschiedliche Interessen, aber man hat sich politisch mittlerweile auf ein Denkmal in Bern und ein Vermittlungszentrum in Diepoldsau geeinigt. Die entsprechende Kulturbotschaft sollte der Bundesrat im Dezember verabschieden. Dann kann die konzeptionelle Ausarbeitung im Januar beginnen. Ein Teil davon wird sicher eine Ausstellung in einem Gebäude unmittelbar an der Grenze sein. Im Zentrum steht die Geschichte der Geflüchteten, hier an der Grenze. Aber es geht zugleich um die Geschichte aller Schweizer Grenzen in jener Zeit, um den Umgang der Schweizer Gesellschaft mit Flucht und Asyl, um Fluchthelfer:innen und Behörden, aber auch um die Öffentlichkeit jener Jahre. Und um das Erleben der Grenzlandschaft, mit Verbindung zum Hörweg an den Radrouten, der sich dort entlang zieht.
Und wohin steuert das JMH in Zukunft?
2026 gehe ich in Rente, wohin das Museum danach steuert, müssen meine Nachfolger:innen entscheiden. Ich werde jedenfalls nicht am Sessel kleben bleiben, das tut weder mir noch dem Sessel noch dem Museum gut. Was sicherlich ansteht, sind bauliche Maßnahmen. Wir haben letztes Jahr erstmals über 20’000 Gäste verzeichnet und dieses Jahr werden es nicht weniger sein. Räumlich stossen wir da langsam an Grenzen und wir müssen uns überlegen, wo man noch an- oder ausbauen könnte. Dieser Prozess ist in Gang gesetzt und, bis ich pensioniert werde, hoffentlich auch auf dem Weg.
Interview: Roman Hertler
Fotos: Andri Vöhringer
Das Gespräch erschien zuerst im Dezember-Heft des St. Galler Kulturmagazins „Saiten“ und auf der Saiten-Website. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Printexemplare des Magazins gibt’s u.a. im Buchladen Schwarze Geiß, Konstanz.
Aktuelle Sonderausstellung im Jüdischen Museum Hohenems: „Yalla. Arabisch-jüdische Berührungen“. Bis 24. August 2025.
Befreiung und Scham – Holocaust-Gedenktag mit Hanno Loewy:
27. Januar, 18 Uhr, Museum Prestegg, Altstätten. Ab August 2025 gibt es dort in Zusammenarbeit mit dem JMH eine Sonderausstellung über die Zeit des Zweiten Weltkriegs im St.Galler Rheintal.
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