„Man hat die Bemerkung machen wollen, dass große Komponisten oft starke Esser sind; man nennt in dieser Rücksicht Händel, … Gluck und Bach und erklärt es aus dem großen Aufwand an Lebensgeistern, den ein solcher Mann beim Setzen oder Aufführen seiner Werke macht.“
Unter diesen Umständen ist es wohl kaum verwunderlich, dass dem Lebemann Georg Friedrich Händel sein bevorstehender Tod kräftig auf den Appetit schlug. „Vom October 1758 an nahm seine Gesundheit merklich ab, und die Lust zu essen, die sonst sehr stark bey ihm gewesen war, verließ ihn … Am sechsten April 1759 wurde sein letztes Oratorium [„The Triumph of Time and Truth“] aufgeführet, wobey er gegenwärtig war; und den vierzehnten starb er.“[1]
Neben der Verknüpfung von kompositorischem Einfallsreichtum und Esslust fällt uns Heutigen an diesen Zeilen des Nekrologen Friedrich von Schlichtegroll noch etwas anderes auf: Die Erwähnung eines letzten Oratoriums. Das Oratorium ist heute keine Gattung mehr, die irgendeine nennenswerte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt und sicherlich das Allerletzte, was man bei zeitgenössischen Tonsetzern anlässlich ihres Todes erwähnen würde.
Damals war das alles aber ganz anders.
Händel (1685-1759) hatte das Oratorium praktisch im Alleingang aus Rom nach England gebracht und dort zu einem Erfolgsmodell gemacht, für das die Leute kräftig Eintritt zahlten, insbesondere in der Fastenzeit, in der Opernaufführungen in London anscheinend untersagt waren. Seit 1733, also in seiner zweiten Schaffenshälfte, brachte Händel 21 seiner insgesamt 25 Oratorien in die englischen Konzertsäle und war dabei so erfolgreich (man denke nur an das „Hallelujah“ aus dem „Messias“), dass selbst Haydn bei seinen späteren London-Besuchen beeindruckt war und sich von Händel inspirieren ließ. Damals konnten Oratorien noch den Rang gesellschaftlicher Ereignisse erreichen. Wie weit das gehen konnte, bewies die mehrtägige Trauerfeier in der Westminster Abbey zu Händels 25. Todestag 1784: Man brachte das größte Orchester der bisherigen Geschichte zusammen, etwa 350-500 Instrumentalisten sowie Hunderte Sänger (die Angaben schwanken). Das alles dauerte mehrere Tage, wurde vom König kräftig befürwortet und endete mit einer grandiosen Aufführung von – Händels Oratorium „Messias“.[4]
Tempus fugit
Angefangen hatte das Händelsche Oratorienschaffen aber in Rom, mit „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ (deutsch etwa „Der Triumph der Zeit und der Ent-Täuschung“), das an diesem Freitag in Konstanz in der Barock-Reihe der Philharmonie zu hören sein wird.
Im März/April 1707 vertonte der damals 21-Jährige angehende Star-Komponist einen Text von Kardinal Benedetto Pamphilj[2] für vier Gesangssolist*innen und mindestens 18 Instrumentalisten. Der Kardinal war musikbegeistert und hatte Händel bei sich in seinem bescheidenen Palast aufgenommen, so dass eine Zusammenarbeit nahe lag. Da in Rom Opernproduktionen mit einem päpstlichen Bann belegt waren (sehr zum Ärger vieler genussfreudiger Kleriker, die die gerade einmal 100 Jahre alte Gattung Oper sehr zu schätzen wussten), wurden Kantaten und Oratorien zu einer opernhaften Musikform entwickelt, nur eben ohne große Bühne, Kostüme und Kulissen.
Die allegorische „Handlung“ (im Oratorium wird eigentlich ja nicht gehandelt, sondern „nur“ gesungen) in diesem Werk ist aus unserer Sicht nicht gerade hochdramatisch: Die Schönheit muss sich zwischen dem irdischen Vergnügen und den Freuden des ewigen Lebens entscheiden und wählt schließlich (nach einem Blick in den Spiegel, der ihr ihre Vergänglichkeit zeigt) angesichts der Vergänglichkeit alles Irdischen reuevoll die Liebe Gottes in der Einsamkeit statt Sex & Drugs:
Schönheit:
Ja, schöne Buße,
während ich bereuend bittere Tränen vergieße,
gib mir ein Büßergewand,
und während ich die Blumen von mir werfe,
gib mir Dornen.
In einer Einsiedelei
werde ich leben, aber immer alleine.
Denn ein eitles Ungeheuer
muss allein in abgelegenen Klöstern leben,
muss leben unter Ungeheuern.[3]
So weit, so schlecht, das ist natürlich alles theologische Narretei.
Aber der junge Händel hatte nicht nur sein Handwerk vor allem in der Oper am Gänsemarkt in Hamburg gelernt, sondern erwies sich schon jetzt als Herrscher über die Herzensergießungen und Gebieter über die Tränendrüsen seiner Mitmenschen – zumindest war er ein grandioser Unterhalter, dem immer eine anrührende oder mitreißende Arie einfiel.
Und wie so oft in Leben und Tod schließt sich letztlich auch hier ein Bogen: Händels letztes Oratorium „The Triumph of Time and Truth“, das am 11. März 1757 uraufgeführt worden war und das er 1759 noch kurz vor seinem Tode besuchte, als es ihm schon den Appetit verschlagen hatte, war eigentlich sein erstes: Es war nämlich eine Überarbeitung dieses seines ersten Oratoriums „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ von 1707, jetzt aber mit englischem Text.
Zur Aufführung
Die Südwestdeutsche Philharmonie arbeitet für ihre Barock-Reihe seit mehreren Jahren mit dem Dirigenten Jörg Halubek zusammen. Für Händels Jugendwerk „Il Trionfo del Tempo“ gibt es eine besondere Kooperation mit der Stuttgarter Musikhochschule. Die vier Gesangspartien wurden in einem hochschulinternen Wettbewerb an Studierende vergeben, darunter sind bereits Preisträgerinnen bedeutender Wettbewerbe. Darüber hinaus erhalten Studierende historischer Instrumente wie Laute, Cembalo und Blockflöte die Möglichkeit, an einem professionellen Konzertprojekt der historisch informierten Aufführungspraxis teilzunehmen.
Praktische Informationen
Georg Friedrich Händel: Il trionfo del Tempo e del Disinganno
Freitag, 28. Juni 2024 um 19.30 Uhr im Festsaal des Steigenberger Inselhotel, Konstanz
La Bellezza: Hyerim Kim, Sopran
Il Piacere: Lara Rieken, Sopran
Il Disinganno: Inès Lopèz Fernández, Alt
Il Tempo: Lars Tappert, Tenor
Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz, Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, Jörg Halubek hat die musikalische Leitung.
Eintrittskarten
– Karten- und Abobüro, Fischmarkt 2, 78462 Konstanz, Telefon: 07531 900-2816. Fax: 07531 900-122816, Mail abo@konstanz.de, Öffnungszeiten Mo. bis Fr. 9–12.30 Uhr.
– Theaterkasse im KulturKiosk, Wessenbergstr. 41, 78462 Konstanz, Telefon: 07531 900-2150, Mail Theaterkasse@konstanz.de, Öffnungszeiten Di. bis Fr. 10–18.30 Uhr, Sa. 10–13 Uhr.
– Tourist-Information Konstanz, Bahnhofplatz 43, 78462 Konstanz, Öffnungszeiten April bis Oktober: Mo bis Fr. 9:00–18:30 Uhr, Sa. 10:00–16:00 Uhr, So. 10:00–13:00 Uhr; November bis März: Mo. bis Fr. 9.30–18 Uhr, Mail counter@konstanz-tourismus.de
– Ortsverwaltungen Dettingen-Wallhausen, Dingelsdorf und Litzelstetten (jeweils Schalterverkauf)
– Internet: Über die Website der Philharmonie.
Text: Harald Borges unter Verwendung einer Medienmitteilung der Philharmonie und von Wikipedia, Bild: Marco Borggreve
Quellen
[1] Friedrich von Schlichtegroll, Nekrologe, zitiert nach Peter Schleunig, Geschichte der Musik in Deutschland. Das 18. Jahrhundert: Der Bürger erhebt sich. Reinbek bei Hamburg, 1984, S. 408. (Goethe und Schiller verspotteten Schlichtegroll übrigens 1797 im Musenalmanach: „Vor dem Raben sehet euch vor, der hinter ihr krächzet, das nekrologische Tier setzt auf Kadaver sich nur“.)
[2] Hans Joachim Marx, Händels Oratorien, Oden und Serenaten. Ein Kompendium, Göttingen 1998.
[3] Das Libretto lesen Sie hier.
[4] Eine ausführliche Würdigung dieser Feier, die von manchen Zeitgenossen als Götzendienst kritisiert wurde, findet sich in Christopher Hogwood, Georg Friedrich Händel, Stuttgart/Weimar 1992, S. 296-308.
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