Die deutsche Diskussionskultur krankt an der ihr selbst auferlegten Selbstzensur, wenn es um den Konflikt Israel und Palästina geht. Ein TV-Talk bei Markus Lanz illustriert dies eindrücklich.
Das Sprechen über Israel fällt vielen Deutschen schwer. Im Diskurs schwingt immer die Last der Vergangenheit mit: Aufgrund des millionenfachen Mordens von Jüdinnen und Juden lässt das viele einen Bogen schlagen, Israel zu kritisieren – besonders nach dem schrecklichen Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023. Der israelische Philosoph Omri Boehm, der auch eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, brachte diese verquälten und zögerlichen Positionsbezüge der deutschen Politikerinnen und Intellektuellen einmal auf folgende Formel: Die Haltung der Deutschen sei „eine unachtsame Art der Achtsamkeit“.
Sensibilisiert durch den Historikerstreit
Als Geburtsdatum des achtsamen deutschen Diskurses, zumindest in der politischen Elite, kann der „Historikerstreit“ von 1986 gelten. Damals hat Jürgen Habermas eine Debatte ausgelöst, um dem apologetischen Umgang mit dem Holocaust einiger deutscher Historiker entgegenzutreten. Überraschenderweise schaffte es diese sehr intellektuell geführte Diskussion, die massenmediale Erinnerungskultur in Deutschland zu prägen und einen Konsens darüber herzustellen, dass in der Mehrheitsgesellschaft revisionistische Geschichtsbilder nicht mehr salonfähig waren.
Damit war, wenn auch spät, auch das Erinnern an den Holocaust in der breiten Öffentlichkeit verankert. Zum Glück! Aber es hatte auch Konsequenzen, wie nun Deutsche über Judentum und Israel sprechen. Von den späten 1980er Jahren an bis zum Aufstieg der geschichtsrevisionistischen AfD galt der kommunikative Grundsatz der «Achtsamkeit» in allen Bezügen, wenn es um Jüdinnen oder Juden sowie Israel geht.
Die Achtsamkeitsregel hatte etwas Befreiendes. Aber sie brachte auch viele deutsche Intellektuelle, so Böhm, dazu, sich einer Selbstzensur zu unterwerfen. Wenn es um Fragen der israelischen Politik gehe, so kritisiert Boehm im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches „Israel – eine Utopie“, weichen die Deutschen aus.
Verräterisches Schweigen
Als Beispiel führt er den Philosophen der Diskursethik Jürgen Habermas an. Bei seinem Besuch in Israel 2012 wollte er gegenüber den Interviewern der Zeitung Haaretz keine Position zur israelischen Politik beziehen. Habermas begründete sein Schweigen damit, dass es nicht die „Sache eines privaten deutschen Bürgers meiner Generation“ sein könne, Urteile über Israel zu fällen.
Boehm sagt dann über die Flucht eines öffentlichen Intellektuellen in die Privatsphäre: „Schweigen ist hier selbst ein Sprechakt, und zwar ein höchst öffentlicher.“
Auch ich selbst kannte lange dieses beklemmende Unbehagen. Lieber über die Shoah sprechen als über Israel. Alles ist zu komplex, zu undurchschaubar, zu stark mit der deutschen Vergangenheit verknüpft.
Unhinterfragte Nibelungentreue
Immerhin war es bei mir und vielen anderen mehr eine Scheu, ein Urteil zu fällen, als sich ganz eindeutig auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Dies hat sich seit dem 7. Oktober 2023 geändert.
Wenn auch in den ersten Tagen noch die Abscheu gegenüber dem Hamas-Terror in allen Teilen der deutschen Öffentlichkeit vorherrschte und unisono das brutale Morden, Vergewaltigen von Frauen, Verschleppen von Geiseln unisono verurteilt wurde, änderte sich rasch die Situation. Während sich die Weltöffentlichkeit immer mehr über die Art der israelischen Kriegsführung in Gaza empörte, zeichnet sich bis heute Deutschland mehrheitlich durch seine unhinterfragte Nibelungentreue zu Israel aus. Statt zu schweigen, wurden nun Glaubensbekenntnisse für Israel abgelegt, wurde die bedingungslose Loyalität zum Eintrittsbillett, um den politischen Salon betreten zu dürfen.
Seither befällt ein Dauer-Alarmismus die politische Öffentlichkeit in Deutschland. Die „unachtsame Achtsamkeit“ prägt nunmehr die Diskussionskultur. Im Vergleich zur internationalen Berichterstattung, wie beispielsweise der New York Times oder der israelischen Zeitung Haaretz, erscheint es mir so: Große Teile der deutschen Medienlandschaft übernehmen unrecherchiert die Pressemitteilungen der israelischen Armee. In politischen Talk- und Informationssendungen, selbst im Bundestag, wird kritiklos nacherzählt, was israelische Militärs und Politiker für ihre gegen die Genfer Konventionen verstossende Kriegsführung als Rechtfertigung vorbringen. Es ist nun deutsche Staatsraison, sich bedingungslos hinter die Politik von Benjamin Netanjahu zu stellen.
Damit verlässt Deutschland den Pfad der früher stark betonten Menschenrechtspolitik. Ausgerechnet Deutschland muss man hinzufügen, das bei der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs ein maßgeblicher Treiber war. Als außenstehender Beobachter hätte die Bundesrepublik die Chance, den polarisierenden Diskurs zwischen Palästinensern und Israelis abzumildern.
Stattdessen sind hier schwarz-weiß-malende Meinungsmacher und Scheuklappen tragende Nahostexpertinnen in der Öffentlichkeit omnipräsent. Selten wird zwischen Juden und Israel unterschieden, zwischen dem Gemeinwesen Israel und seiner rechtsextremen Regierung, zwischen der islamistischen Hamas und den Palästinensern.
Ohne Wischi-Waschi
Gutes Beispiel dafür lieferte die Sendung bei Markus Lanz am 9. Oktober. Gegen drei Diskutanten und den Moderator, allesamt Vertreter deutscher Staatsraison, versuchte die ausgewiesene Nahostexpertin Kristin Helberg ihre Gegenposition darzulegen. Eine Frau, die nicht nur faktenreich argumentierte, sondern auch ohne Wischi-Waschi-Position überzeugte.
Sie sprach Israel das Recht zu, sich gegen die terroristische Hisbollah zu verteidigen, sie identifizierte die Hamas als Terroristenbande, anerkannte das Selbstbestimmungsrecht Israels, bejahte deutsche Lieferung von Luftabwehrsystemen, stellte sich aber gegen deutsche Exporte von Offensivwaffen. Wenn die deutsche Staatsraison vor allem einschließt, dass die Sicherheit Israels einen unhintergehbaren Stellenwert in der deutschen Politik besitzt, ist Kristin Helberg voll auf dieser Linie.
Aber nach ihrer Meinung darf sie nicht nur von der Seitenlinie zuschauen, wenn die militärischen Reaktionen unter dem Oberkommando einer „rechtsradikalen, zum Teil faschistischen Regierung“ völlig unverhältnismässig werden. Dabei erinnerte sie an die Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Gaza und wies auf den Report US-amerikanischer Medizinerinnen und Ärzte hin, welche die Opferzahlen wesentlich höher als die von dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium einschätzen.
In einem Ärzte-Brief an Präsident Joe Biden wird auch erwähnt, wie immer mehr unterernährte Frauen aufgrund der fehlenden Muttermilch dem langsamen Tod ihrer Säuglinge zusehen müssen.
Reizwort Genozid
So umsichtig Helberg auch argumentierte, schreckte sie mit dem Tabuwort „Genozid“ die Talk-Runde auf. Dabei erwähnte sie nur, dass dieser kriegsrechtliche Straftatbestand international diskutiert wird. Moderator Lanz auferlegte indes der Nahost-Expertin eine Selbstzensur: „Den Begriff des Genozids machen wir uns hier nicht zu eigen.“ Was Helberg nicht tat, die ausdrücklich nur die international geführte Diskussion erwähnte. Allein das Benennen dieser Wahrheit genügte, um auf dem News-Channel Focus online einen Artikel mit dem Titel aufzuschalten: „Nahostexpertin schockt mit Genozid-Vorwurf“.
Die verkorkste deutsche Diskussionskultur wirft viele Fragen auf: Wäre es nicht an der Zeit, eine Vermittlerposition einzunehmen – sicher immer im Einvernehmen auch mit der deutschen Verantwortung gegenüber den Nachfahren des Holocausts? Sollten wir uns nicht über die Gräben hinweg solidarisch zeigen mit den Getöteten, Gefolterten und Vertriebenen auf beiden Seiten? Sollten wir nicht als Mindeststandard unserer Haltung zu Israel und zu Palästina eines gelten lassen: die Wahrung des humanitären Völkerrechts. Kristin Helberg hat dies getan.
Text: Delf Bucher, der die Nachveröffentlichung seines zuerst im Blog Zeitenwende publizierten Beitrags freundlicherweise genehmigte.
Bilder: Folgen eines israelischen Angriffs auf eine Schule im Gazastreifen am 10. August 2024: CC BY-SA 4.0_wikimedia commons / Talkrunde Lanz am 9. Oktober 2024: Screenshot.
Schreiben Sie einen Kommentar