Anfang März kommt es zu einer der sozialpolitisch bedeutendsten Volksabstimmungen in der Schweiz: Wird die staatliche Rente AHV künftig dreizehn (statt bisher zwölf) Mal ausgezahlt? Die Bürgerlichen mobilisieren gegen ein „Ja“. Trotzdem könnten die Gewerkschaften dieses Mal gewinnen. Eindrücke von einer Kundgebung in St. Gallen.
Die rüstige Rentnerin macht sich nicht ärmer, als sie ist. Sie ging in den Ruhestand, als die Pensionskassenrenten* noch nicht im Sinkflug waren. Die Rente der geschiedenen ehemaligen Lehrerin, Hausfrau und Mutter ist zwar besser als die vieler anderer Frauen in ihrem Alter. Aber sie sagt: „Die Preise sind deutlich gestiegen. Lebensmittel, Strom oder Krankenkassenprämien setzen auch mir zu. Ich muss genau kalkulieren. Ich könnte eine 13. AHV-Rente gut brauchen.“ Dieser Meinung sind mit ihr wohl die meisten der hundert Personen, die sich am vorletzten Samstag zur Kundgebung für die 13. AHV-Rente auf dem Kornhausplatz in St. Gallen eingefunden haben.
Die Gewerkschaftsinitiative bewegt die Gemüter wie kaum eine Abstimmung in den vergangenen fünfzig Jahren. Denn sie betrifft alle. Meist lässt sich die Gemütslage an Leser:innenkommentaren oder in den sozialen Medien besser ablesen als auf Kundgebungen. Die Stimmen pro 13. AHV-Rente scheinen klar in der Mehrheit zu sein.
„Reine Panikmache“
Spürbar ist auch Wut. Das bürgerliche Establishment bietet gerade alles auf, um ein sich abzeichnendes „Ja“ in ein „Nein“ zu drehen. Altbundesrät:innen von Adolf Ogi bis Doris Leuthard predigen von ihren finanziell gut gepolsterten Sesseln herab den Bürger:innen Maßhalten. Das kommt bei vielen Menschen nicht gut an. Zumal die pensionierten Magistrat:innen dieses Jahr – wie alle Bundesangestellten – in den Genuss eines Teuerungsausgleichs kommen. Ein Prozent Teuerungsausgleich, das bedeutet für die Altpolitiker:innen 2341 Franken im Jahr. Fast so viel wie eine 13. AHV-Maximalrente.
Die bürgerliche Panikmache nimmt Bettina Surber an der Kundgebung in ihre Rede auf. Im Kantonsparlament führt die Sozialdemokratin ihre Fraktion, die 43-Jährige bewirbt sich für die St. Galler Kantonsregierung. Würde sie im März gewählt, sässen zwei Sozialdemokratinnen im Gremium und stärkten dort die soziale Frage im ansonsten konservativen Kanton. „Die Bürgerlichen, die Wirtschaftsvertreter:innen sowie Banken und Versicherungen sind in Aufruhr. Jetzt versuchen sie, uns allen Angst einzujagen, mit einem Ja würden wir die AHV an die Wand fahren.“ Das sei reine Panikmache. „Lassen wir uns nicht verrückt machen!“
Nationalrätin und Gewerkschafterin Barbara Gysi verweist auf die AHV-Renten, die nicht – wie in der Verfassung festgeschrieben – existenzsichernd seien. Ein Stärkung sei auch für die Frauen wichtig, denn in der AHV wird unbezahlte Care-Arbeit angerechnet. An diesem Samstag ist der Auflauf nicht besonders gross, was in der Ostschweiz nicht überrascht. Die Menschen hier sind im Allgemeinen nicht demonstrationsfreudig. Barbara Gysi erzählt später von einem AHV-Anlass an ihrem Wohnort Wil. Der Saal sei brechend voll gewesen.
Jahrzehnte des Fortschritts
In Bezug auf die AHV gab es ab 1951 eine hohe Reformaktivität – zugunsten der Renten. Von den fünfziger bis in die siebziger Jahre wurden diese sechsmal erhöht. Die achtziger Jahre waren dagegen das Jahrzehnt des Pensionskassenobligatoriums. Das stoppte den weiteren AHV-Ausbau – fatalerweise. Denn die Pensionskassenrenten sind inzwischen im Sinkflug. Der letzte grosse AHV-Wurf gelang Bundesrätin Ruth Dreifuss 1997 mit der Einführung der Pflege- und Betreuungsgutschriften, die die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern allmählich ausglichen: So sind aktuell die durchschnittlichen AHV-Renten der Frauen gleich hoch wie jene der Männer – anders als bei den Pensionskassenrenten.
Seit Ende der neunziger Jahre bekämpfen Bürgerliche die AHV und wirken auf ein tieferes Rentenniveau hin. Bis zur Abstimmung über die Erhöhung des Rentenalters der Frauen konnten diese Angriffe an der Urne abgewehrt werden. Doch eine Erhöhung der Renten gelang seither nie mehr.
Paul Rechsteiner ergreift am Samstag als Letzter das Wort. Einer der Väter der 13. AHV-Rente – Rechsteiner entwickelte die Idee bereits vor über zwanzig Jahren zusammen mit anderen – erinnerte an den „unwürdigen“ Generationenkonflikt vor Einführung der AHV: „Die Jungen, die eine Familie gegründet hatten und Geld brauchten, mussten oft auch noch für ihre Eltern aufkommen. Diese Abhängigkeit gibt es nicht mehr, heute kann man sich daran kaum mehr erinnern.“ Das Verhältnis der Generationen sei heute gut, dank der AHV. Auch darum seien die Rentnerinnen heute die „grösste Kinderkrippe“ der Schweiz. Der Ausbau der Renten sei daher ökonomisch und gesellschaftlich richtig und finanzierbar, die höheren Renten stärkten die Solidarität und den Zusammenhalt der Generationen.
Nach der Rede kommt ein Unternehmer auf Rechsteiner zu. Er sei pro AHV, aber skeptisch, was die Finanzierung der 13. Rente angehe. Nach den Erklärungen Rechsteiners will er jetzt womöglich dennoch ein Ja in die Urne legen. Der Troubadour der St. Galler Linken, Hans Fässler, gießt derweil die Stimmung in Reime und singt Strophe um Strophe zur Melodie von „O Tannenbaum“. Die letzte lautet: „Stabil allein, das schenkt nicht ein / Die Rente muss auch grösser sein / Und 13-mal kostet nicht viel / Und ist ein Schritt zu diesem Ziel. O AHV! O AHV …“
* In der Schweiz gibt es, vereinfacht ausgedrückt, drei Säulen zur Altersversorgung: a) Die staatliche Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist obligatorisch für alle, die in der Schweiz leben, und soll im Alter die Grundkosten decken. b) Die berufliche Vorsorge der Pensionskassen ergänzt in vielen Fällen die AHV. c) Dazu kommt für jene, die es sich leisten können, die private Säule im Rentensystem.
Text: Andreas Fagetti. Der Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung WOZ vom 15. Februar. Auf der WOZ-Website ist auch Fagettis Leitartikel „Fortschritt oder soziale Erosion“ zu lesen.
Foto: Joshiko Kusano für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB
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