Wirtschaftswissenschaftler*innen der Universität Konstanz haben in einem Kooperationsprojekt mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Elf- bis Siebzehnjährigen als Verlierer der pandemiebedingten Schulschließungen in Deutschland identifiziert.
Während der Corona-Pandemie hat die psychische Gesundheit von Jugendlichen in einem außerordentlichen Ausmaß gelitten. Inwieweit Schulschließungen zu dieser Krise beigetragen oder sie sogar verursacht haben, war bislang weitgehend unbekannt. Christina Felfe, Professorin für Angewandte Mikroökonomie an der Universität Konstanz, und ihr Team können nun in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigen, dass Schulschließungen während der ersten Pandemiewelle zu einer erheblichen Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen geführt haben. Die Auswirkungen waren am stärksten bei männlichen Jugendlichen, bei den jüngeren Jugendlichen und bei Familien mit begrenztem Wohnraum zu spüren. Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Science Advances nachzulesen.
„Unser Ziel war es zu untersuchen, was die Schulschließungen in dieser so sensiblen Phase im menschlichen Leben bewirkt haben, in der soziale Bindungen, Kontakte zu Rollenmodellen, zu Lehrpersonen, aber auch zu Mitschülerinnen und Mitschülern ausschlaggebend für eine gesunde Entwicklung sind“, sagt Christina Felfe. Als Volkswirtschaftlerin interessiert sie sich für die Kosten-Nutzen-Analyse der Maßnahmen, wobei unter Kosten der Schaden verstanden wird, den die Schutzverordnung verursachte. Wie viel trugen also Schulschließungen zur Eindämmung der Pandemie bei, und was sind in diesem Sinne die Kosten?
„Natürliches Labor“ Deutschland
Für ihre Untersuchung nutzten sie und ihre wissenschaftlichen Mitarbeitenden Judith Vornberger, Patrick Schneider und Judith Saurer die föderale politische Struktur in Deutschland. Da die 16 deutschen Bundesländer Bildungshoheit besitzen, konnten sie selbst über Schulschließungs- und Wiederöffnungsstrategien entscheiden. Dieses „natürliche Labor“ ermöglichte es den Forschenden, die Auswirkung der unterschiedlichen Dauer von Schulschließungen auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen zu erschließen.
Dafür werteten sie alle landesspezifischen Corona-Schutzverordnungen aus, erstellten so einen Datensatz zu den länderspezifischen Strategien für Schulschließungen und -wiedereröffnungen, den sie gemeinsam mit den Daten der COPSY-Studie (Corona und Psyche) des UKE auswerteten. Abgefragt wurden in der COPSY-Studie Depressionsskalen, psychosomatische Beschwerden und sozio-emotionale sowie Verhaltensschwierigkeiten, ohne dass es sich um klinisch diagnostizierte Krankheiten handelte.
„Jedes Bundesland hat seine eigene Strategie gefahren. Wir haben für unsere Studie die Tatsache genutzt, dass nicht alle Jugendliche gleich lang zu Hause waren“, so Christina Felfe. Je nachdem, in welcher Klassenstufe eine jugendliche Person war und in welchem Bundesland sie gelebt hat, war sie kürzer oder länger zu Hause. Durch die Isolierung länderspezifischer Eigenschaften konnte der Vergleich bundesweit durchgeführt werden.
Die Familien wurden alleingelassen
Die Wissenschaftler*innen fanden heraus, dass es Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren während der ersten Pandemiewelle im Durchschnitt wesentlich schlechter ging. Diese Verschlechterung des Wohlbefindens ist auf die Schulschließungen zurückzuführen. Ganz besonders sind die Elf- bis Vierzehnjährigen betroffen, die schlechter mit der neuen Situation umgehen konnten als die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen. Jungen kamen mit Schulschließungen schlechter zurecht als Mädchen. In Haushalten mit begrenztem Wohnraum litten die Jugendlichen am meisten unter der Belastung durch Schulschließungen. „Die bundesweite Verschlechterung kann vollständig durch die Schulschließungen erklärt werden. Die Familien wurden weitgehend mit der beispiellosen Situation zu Hause alleingelassen, einschließlich der Mehrfachbelastung, Arbeit, Schule und Familienleben unter einen Hut zu bringen“, macht Christina Felfe deutlich.
„Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Schulen gestärkt werden und sie unterstützen, um die Kinder und Jugendlichen für künftige Krisen resilienter zu machen. Dazu brauchen wir niedrigschwellige, nachhaltige und langfristige Konzepte und Strukturen, um Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen aufzufangen und ihnen Hilfen anzubieten“, sagt Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der COPSY-Studie und der Forschungsgruppe „Child Public Health“ der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE.
Die Studie Christina Felfe, Judith Saurer, Patrick Schneider, Judith Vornberger, Michael Erhart, Anne Kaman, Ulrike Ravens-Sieberer, The youth mental health crisis: Quasi-experimental evidence on the role of school closures finden Sie hier.
Text: Universität Konstanz/red.
Bild links: Christina Felfe, Professorin für Angewandte Mikroökonomie an der Universität Konstanz. Copyright: Universität Konstanz, Bild rechts: Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der COPSY-Studie und der Forschungsgruppe „Child Public Health“ der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Copyright: UKE/Axel Kirchhof.
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