Bouquiniste In Marseille 2

Die Bedeutungslosigkeit der Schriftsteller

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Bouquiniste In Marseille 2
Schwindende Relevanz: Fassade eines Antiquariats in Marseille

Einst spielten Autor:innen und ihre Bücher eine große Rolle in der Gesellschaft und bei der Entwicklung einer aufgeklärten Zivilisation. Doch das scheint vorbei zu sein. Der Schriftsteller Jochen Kelter befürchtet mit den neuen Medien eine Pulverisierung der öffentlichen Meinungsbildung.

Früher einmal waren Schriftsteller und Literatur maßgebend für die Meinungsbildung der Gesellschaft und nicht nur der Aristokratie und der „gehobenen Stände“, also des betuchten Bürgertums, sondern auch der einfachen Leute. Das hing damit zusammen, dass es neben dem gedruckten Wort von Autoren wenig Möglichkeiten der öffentlichen Meinungsbildung gab: Plakatierungen, Predigten von der Kanzel und Aushänge der Behörden – also allesamt Mitteilungen der jeweils Herrschenden. Literatur im weitreichenden Sinn und ihre Autoren waren somit fast die einzigen, die Opposition wagten, wenn auch zumeist mit Risiko verbunden.

Das beginnt mit dem Anschlag von Luthers 95 Thesen gegen die katholische Hierarchie im Oktober 1517 an der Schlosskirche in Wittenberg. Im 17. Jahrhundert dann die Kritik des irischen Autors und Satirikers Jonathan Swift („Gullivers Reisen“) an der englischen Aristokratie. Im 19. Jahrhundert galt Charles Dickens, der damals schon in den USA publizierte, als der berühmteste englische Autor. Oscar Wilde, der im prüden viktorianischen England seine Bisexualität offen lebte, wurde 1895 zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Zusammen mit Rede- und Schreibverbot und einer öffentlichen Hexenjagd erholte er sich davon nicht mehr.

Zwischen Zivilcourage und Exil

In der US-amerikanischen Literatur, die mit Washington Irving, der auch in Europa rezipiert wurde, gab es immer wieder Autoren, die sich mit der Gesellschaft und ihren Lebensformen auseinandersetzten: etwa die „Beat Generation“ (Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti) und Autoren, die sich gegen den Vietnamkrieg der USA und (damals schon) die ökonomische Globalisierung wandten. Dazu gehört auch der Linguist Noam Chomsky.

In Deutschland, dem Nachzügler der modernen europäischen Literatur, war Theodor Fontane als Autor des Realismus („Effi Briest“, Balladen) Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts einer der Bekanntesten. Im Revolutionsjahr 1848 nahm er in Berlin an Barrikadenkämpfen teil, verfasste politische Schriften, erlebte, nachdem er bei der reaktionären Neuen Preussischen Zeitung gearbeitet hatte, eine Liberalisierung Preußens, bereiste als Journalist England (im Mutterland der Presse hatten sich schon lange vorher Autoren auch als Journalisten betätigt) und Frankreich, wo er im deutsch-französischen Krieg kurz in Gefangenschaft geriet und sich furchtbar vor den Aufständischen der Pariser Kommune fürchtete. Deutsche schwankten schon immer zwischen Revolution und der Angst vor der eigenen Zivilcourage.

Dann aber kam schon wieder eine Revolution, die „Machtergreifung“ Adolf Hitlers am 30. Januar 1933. Viele deutsche (und nach 1938 auch österreichische: Joseph Roth) Autoren flohen ziemlich bald: so Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger; Thomas Mann und andere folgten zögerlich spät; Erich Kästner gar nicht. (1)

Die endgültige Flucht in die Sicherheit nach Spanien (Walter Benjamin) erfolgte dann oft von Marseille aus über die Pyrenäen oder nach Übersee (USA, Südamerika). Aber Marseille glich mehr und mehr einer Mausefalle, um das die Nazis, die Nordfrankreich besetzt hatten, und das Vichy-Regime die Schlinge immer enger zogen. Bis 1943 halfen mutige US-Amerikaner und ihre einheimischen Helfer, aber auch politische Flüchtlinge, die Fluchtwege über die Berge und das Mittelmeer offen zu halten. (2)

Nach dem Krieg kehrten viele dieser Autoren (nicht alle, Thomas Mann blieb in der Schweiz) zurück nach Westdeutschland, die spätere BRD, oder nach Ostdeutschland, die spätere DDR. Sie waren nicht immer willkommen, waren für die Bevölkerung Drückeberger, Feiglinge oder Schlimmeres. Und der neuen Generation von Autoren, die aus dem Krieg heimkehrten, blieben sie fremd.

„Unsterbliche“ und andere Franzosen

In Frankreich, dem Geburtsland der bürgerlichen und proletarischen Revolutionen, wo Ende des 18. Jahrhunderts die Monarchie abgeschafft und unter Geburtswehen die republikanische Staatsform eingeführt wurde, erreichte die Macht der Schriftsteller in der zweiten, der goldenen Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Apotheose, ihre Vergöttlichung.

Gustave Flaubert etablierte (lange vor Theodor Fontane) die Form des modernen Romans etwa mit „Madame Bovary“. Stéphane Mallarmé schuf die hermetische, enigmatisch verfeinerte Lyrik, die diese Urgattung aller Literatur zur Angelegenheit von Eingeweihten und Spezialisten machte. Honoré de Balzac schrieb, immer in Geldnot, ein riesiges Romanwerk von bislang unbekanntem Umfang. Emile Zola erfand mit der Streitschrift J’accuse, in der er den zu Unrecht degradierten und in die Verbannung geschickten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus gegen den Antisemitismus des Generalstabs verteidigte, die engagierte Literatur.

Und dann war da noch Victor Hugo, der literarische Übervater des Jahrhunderts, der sich mit Napoleon III. anlegte, der sich 1851 an die Macht geputscht und sich selbst zum Kaiser erklärt hatte. Seinetwegen verbrachte er zwanzig Jahre im Exil, die meiste Zeit auf der Kanalinsel Guernsey. Bereits mit vierzig Jahren gehörte er zu den „Unsterblichen“ der Académie française. Er schrieb Romane wie „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Les Misérables“, die bis heute zum literarischen Kanon gehören, und schuf mit „Hernani“ ein modernes Theaterstück, das mit der seit Corneille und Racine im 17. Jahrhundert sakrosankten Einheit von Zeit und Ort brach. Er, der über Jahrzehnte eine außereheliche Beziehung pflegte, setzte sich zudem für Frauenrechte ein.

Beerdigt wurde er im Tempel der Republik, dem Panthéon. Den Weg dorthin von seiner Wohnung in der nach ihm benannten Strasse säumten zeitgenössischen Berichten zufolge zweihunderttausend Menschen.

Exoten im Menschenzoo

Mit dem Journalismus kannten sich Schriftsteller ab dem 19. Jahrhundert bestens aus. Auch das Radio stellte sie im 20. Jahrhundert nicht vor große Probleme. Mit dem Fernsehen änderte sich das bereits. Es bedeutete eine technische Revolution, die allmählich von breiten Schichten zur Information und vor allem zur Unterhaltung angenommen wurde.

Die zweite technische Revolution (nach der ersten im 19 Jahrhundert mit ihrer Mechanisierung der Schwerindustrie) stellt sie allerdings vor Probleme. Mit dem Aufkommen von gänzlich neuen Produktionsformen mit Hilfe von computergesteuerten Arbeitsvorgängen begann eine neue ökonomische Ära, die nun durch ChatGPT und künstliche Intelligenz die Arbeitswelt umkrempelt: Immer weniger Menschen werden für immer neuere, komplexere und massenhafte Produktion benötigt. Dadurch ergeben sich logischerweise neue Tätigkeiten und Berufe meist ohne sozialen Schutz und zeitliche Sicherheit. Beispielsweise entsteht so das prekäre Gewerbe der Influencer, die Werbung – auch zweifelhafte politische – betreiben.

Die Gesellschaft löst sich auf in (Interessen-) Gruppen und Grüppchen, die Erwerb mit Freizeitaktivität verbinden, eine bis dahin unbekannte Form der menschlichen Existenz. Information (über Amazon und Tiktok) und Unterhaltung vermischen sich ebenfalls. Leit- und Vorbilder sind nicht mehr gefragt. Jeder Mensch ist sein eigener Herr und Meister und löst Gott ab. In dieser schönen neuen Welt ist kein Platz mehr für Schriftsteller, die Lebenswege nachzeichnen und historische oder gesellschaftliche Wege weisen. Literatur und Autoren als Lebensbegleiter haben ausgedient.

Sie werden nur noch für eine kleine Minderheit und als gesellschaftlicher Luxus gehalten, etwa durch Nobelpreiszeremonien oder vergleichbare Auszeichnungen wie den Booker-Price und andere nationale Buchpreise. Literatur (und damit ihre Urheber) dienen nur noch als Exoten – wie in einem Menschenzoo.

Text: Jochen Kelter
Foto: Pit Wuhrer

(1) Uwe Wittstock; „Februar 33 – Der Winter der Literatur“, Verlag C.H.Beck, 2021
(2) Uwe Wittstock: „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“, Verlag C.H. Beck, 2024

3 Kommentare

  1. stephan schulz

    // am:

    „Jeder Mensch ist sein eigener Herr und Meister und löst Gott ab“ – schön wär‘s, aber statt gottgleich und selbst entscheidend durch die Welt zu gehen, dominiert bei vielen von uns die Angst vor Orientierungslosigkeit und die Überforderung mit der eigenen Entscheidung.

    „Leit- und Vorbilder sind nicht mehr gefragt“ – genau das stimmt eben nicht: in unserer Orientierungslosigkeit suchen wir den Leitwolf, den An- und Verführer. In den USA („alles so schön bunt hier, kann mich gar nicht entscheiden“ – Nina Hagen) läuft bereits die Mehrheit hinter einem solchen Verführer her, er muss nur laut genug sein („wer alt war, galt als weise und wer laut war, galt als stark“ – F.J. Degenhardt).

    Auch uns war die Ampel „zu bunt“, zu wenig einseitig und der Kanzler war eben kein Leitbild (zugegebenermaßen war er sogar kommunkationsbehindert).

    Es liegt nicht an der „zweiten technische Revolution“, z.B. an den internetbasierten Kommunikationsmöglichkeiten als solchen. Würden wir diese zu einer echten Begegnung nutzen, könnten wir dadurch aus unserer Vereinzelung herauskommen und so der unüberschaubaren Vielfalt unserer heutigen Welt begegnen. Schriftsteller sind dabei herzlich eingeladen, aber nicht als Leit- und Vorbilder, sondern als Menschen die sich einbringen und einer (gegebenenfalls kritischen) Auseinandersetzung stellen. Gemeinsam könnten wir dann neue Ideen entwickeln, statt uns vorgefertigten Meinungen mit unseren „likes“ anzuschließen.

  2. Gisela Hermann

    // am:

    Ich bin überzeugt, Schriftsteller haben definitiv noch eine Zukunft! Auch in einer zunehmend digitalen Welt, in der neue Medien und Technologien eine immer größere Rolle spielen, bleibt die Bedeutung von Schriftstellern sicher erhalten. Der Bedarf nach erzählerischen Inhalten – seien es Bücher, Artikel, Drehbücher oder digitale Erzählformen – wird weiterhin bestehen.
    Das sieht man am Bücherangebot und den vielen Buchhandlungen.
    Die kreative und emotionale Dimension des Schreibens bleibt sicher unersetzlich. Das kann KI nicht leisten und kein Mensch wird Gott ablösen auch wenn jeder „sein eigener Herr und Meister“ sein mag.

  3. Robert Becker

    // am:

    Volle Zustimmung. Allein den Begriff des „Influencer“ gesellschaftsfähig zu machen, wäre vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen, handelt es sich doch um nichts anderes als mehr oder weniger versteckte Manipulation des Individuums. Von der totalen Kommerzialisierung sozialer Beziehungen und Kontakte garnicht erst zu sprechen.

    Das ganze rechte Spektrum hat das Handy und die sozialen Medien ja bekanntlich als geeignetes Mittel zum Zweck schon auserkoren. Man braucht bei dem ganzen Treiben tatsächlich kein Pessimist zu sein, um hier erhebliche Gefahren für die Gesellschaften zu sehen. Eine wie auch immer geartete Regulierung dürfte wahrscheinlich unumgänglich sein.

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