Verteidigungsminister Boris Pistorius will die deutsche Gesellschaft „kriegstüchtig“ machen und fordert einen „Mentalitätswechsel“. Außerdem erklärt er Kritik an NATO oder EU zur Gefährdung der nationalen „Sicherheit“. „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte“, äußerte Pistorius Ende Oktober.
In einer Rede an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr vor rund 300 Offizieren hat Pistorius erklärt, die 100 Milliarden Euro Sonderschulden („Sondervermögen“), die Kanzler Olaf Scholz unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Kriegs zur Aufrüstung der Bundeswehr bereitgestellt hatte, reichten allenfalls bis 2027 oder 2028 aus.
Vizekanzler Robert Habeck spricht sich bereits heute ausdrücklich für ein zweites Schuldenprogramm zur Finanzierung der weiteren Waffenbeschaffung aus. Weil Deutschland militärisch auf Bündnisse angewiesen sei, erklärt Pistorius Kritik an NATO und EU zur Gefährdung der „Sicherheit Deutschlands“; er engt damit die Bandbreite öffentlich akzeptierter Meinungen weiter ein. Darüber hinaus dringt er auf einen „Mentalitätswechsel“ in der Bevölkerung hin zu größerer „Wehrhaftigkeit“.
„Krieg in Europa“
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat damit die deutsche Bevölkerung erneut auf einen möglichen Krieg einzuschwören versucht. Bereits in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ hatte der Minister erklärt: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte.“ [1] Dem fügte er kurz darauf in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk im Hinblick auf den Ukraine-Krieg hinzu, es gebe aktuell „eine Kriegsgefahr in Europa … durch einen Aggressor“; darauf sei die Bevölkerung „mental nicht eingestellt“. Das müsse sich jetzt ändern. [2] „Wir müssen in der Lage sein“, betonte Pistorius, „einen Krieg … führen zu können“. Dabei schränkte er seine Forderung noch auf „einen Abwehrkrieg, einen Verteidigungskrieg“ ein.
Neue Sonderschulden
Pistorius hatte sich zudem zur Aufrüstung der Bundeswehr geäußert. Demnach sind zwei Drittel des sogenannten Sondervermögens von 100 Milliarden Euro, das Bundeskanzler Olaf Scholz sofort nach dem Beginn des Ukraine-Krieges bereitgestellt hatte, bereits in konkreten Projekten vertraglich gebunden. Damit sei bis etwa 2027/28 genügend Geld da. Danach aber werde „das Sondervermögen verbraucht sein“, hatte Pistorius in einer Rede an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr betont. Wolle man dann weiterhin umfassend aufrüsten – in einem Rahmen, wie ihn das Zwei-Prozent-Ziel der NATO stecke –, dann bedeute dies, das Volumen des Militärhaushalts müsse von da an „summa summarum 20 Prozent mehr“ beinhalten „als heute“. [3] Das wären, da sich der aktuelle Bundeswehrhaushalt auf etwas über 50 Milliarden Euro beläuft und 2024 auf 51,8 Milliarden Euro anwachsen soll, rund zehn Milliarden Euro pro Jahr. Wirtschaftsminister Robert Habeck plädiert dafür, statt einer regulären Erhöhung des offiziellen Wehretats erneut ein „Sondervermögen“ für die Bundeswehr zu schaffen. [4] Den Begriff Sondervermögen hat inzwischen sogar der Bundesrechnungshof gerügt und darauf hingewiesen, es handle sich faktisch um „Sonderschulden“. [5]
„Führung übernehmen“
Daran, dass die Bundeswehr lediglich zur Landesverteidigung aufrüsten soll, hat Pistorius selbst Zweifel geweckt. So erklärte er vor der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr, die sogenannte regelbasierte internationale Ordnung werde „weltweit“ immer stärker in Frage gestellt: „Krisenhafte Entwicklungen erfolgen in engerer Taktung und oft nicht vorhersehbar, Schlag auf Schlag“. [6] Deshalb müsse Deutschland „international Führung übernehmen“. Dies sei „nicht als Führungsmacht, sondern als Führungspartner“ zu tun; schließlich bildeten mehr denn je „unsere Bündnisse den Rahmen für unser Handeln“. Aktuell etwa bringt sich die Bundeswehr im östlichen Mittelmeer in Stellung. Zwar heißt es, dies geschehe lediglich, um etwaige Evakuierungsmaßnahmen durchführen zu können. [7] Doch haben Berliner Politiker bereits angedeutet, Deutschland werde nicht fernbleiben, falls Israel militärische Unterstützungsleistungen benötige. [8] Die Beteiligung an einem Krieg im Nahen Osten, womöglich im EU- oder im NATO-Rahmen, hätte mit Landesverteidigung nichts mehr zu tun. Dasselbe gilt zudem für die kontinuierliche Beteiligung der Bundeswehr an gegen China gerichteten Bündnismanövern in der Asien-Pazifik-Region. [9]
Das akzeptierte Meinungsspektrum
Dabei lässt die Bedeutung der Bündnisse für Deutschland laut Pistorius Kritik an EU oder NATO nicht mehr zu. Der Minister erklärte dazu: „Parteien, die jetzt fordern, die EU müsse sterben und Deutschland müsse die NATO verlassen …, gefährden die Sicherheit Deutschlands.“ [10] Welche Folgen sich aus einer angeblichen Gefährdung der „Sicherheit Deutschlands“ für diejenigen ergeben, die die „Gefährdung“ mit Kritik an NATO oder EU vermeintlich verursachen, ließ Pistorius offen. Jedenfalls engt sich damit das Spektrum der öffentlich akzeptierten Meinungen in der Bundesrepublik noch ein weiteres Stück ein. Spätestens seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs werden Äußerungen zu Russland, die noch anderes als eine schroffe Ablehnung beinhalten, systematisch ausgegrenzt. [11] Ähnlich verhält es sich mit Ansichten zu China. Seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober und dem Beginn des israelischen Kriegs im Gazastreifen werden nun auch palästinensische Positionen konsequent aus der deutschen Öffentlichkeit verdrängt. [12] Das Pistorius’sche Verdikt gegen Kritik an NATO und EU fügt der Tabuzone, bei deren Bruch man in der Öffentlichkeit informelle Sanktionen befürchten muss, weitere Elemente hinzu.
„Die Gesellschaft neu aufstellen“
Pistorius verlangte, seine Forderungen zusammenfassend: „Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ [13] Die deutsche Gesellschaft habe seit 1990 weder Krieg noch echte Kriegsgefahr im eigenen Lande erlebt. Daran aber müsse man sich jetzt gewöhnen: „Das ist ein echter Mentalitätswechsel.“ Dem schloss sich im ARD-Interview Christian Mölling, Sicherheitsexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), an. Erforderlich sei „das Verständnis der Bevölkerung, einen möglichen Krieg tatsächlich mitzutragen“, erklärte Mölling: „Das ist, glaube ich, das Schwerste.“ Schließlich sei die Bundesrepublik seit 1990 „vom Krieg entwöhnt worden“. [14] Um sie nun wieder daran zu gewöhnen, sei „eine große Anstrengung“ erforderlich. Mölling schlägt daher die Ausrufung einer „sicherheitspolitische[n] Dekade“ vor. In deren Rahmen gelte es, fordert der Experte, „nicht nur die Bundeswehr, sondern die Bundesrepublik insgesamt kriegstauglich zu machen“.
[1] Dominik Rzepka: Pistorius sieht Gefahr eines Kriegs in Europa. zdf.de 29.10.2023.
[2] Pistorius: Bundeswehr muss Abwehrkrieg führen können. deutschlandfunk.de 31.10.2023.
[3] Pistorius betont Deutschlands Rolle als „Führungspartner“. sueddeutsche.de 27.10.2023.
[4] Habeck fordert mehr Geld für Bundeswehr nach dem Sondervermögen. zeit.de 28.10.2023.
[5] Sondervermögen: Anzahl und finanziellen Umfang reduzieren. bundesrechnungshof.de.
[6] Pistorius betont Deutschlands Rolle als „Führungspartner“. sueddeutsche.de 27.10.2023.
[7] S. dazu Einsatz im östlichen Mittelmeer.
[8] S. dazu Der Westen im Zielkonflikt.
[9] S. dazu Kriegsübungen in Südostasien (II).
[10] Pistorius betont Deutschlands Rolle als „Führungspartner“. sueddeutsche.de 27.10.2023.
[11] S. dazu Die dritte Front.
[12] S. dazu „Zum Schweigen gebracht“.
[13] Dominik Rzepka: Pistorius sieht Gefahr eines Kriegs in Europa. zdf.de 29.10.2023.
[14] Gefahr eines Kriegs in Europa? Sicherheitsexperte stimmt Pistorius zu. tagesschau.de 30.10.2023.
Text: Der Beitrag erschien zuerst auf www.german-foreign-policy.com
Symbolbild: Pixabay
Schreiben Sie einen Kommentar