Es gab mal eine Zeit, in der erschien in fast jedem deutschsprachigen Kanton der Schweiz eine regionale AZ – eine Arbeiterzeitung. Und zwar täglich. Aber das ist schon eine lange Weile her. Inzwischen sind – ohne genauen Plan, aber voller Absicht – die Schweizer Printmedien politisch immer weiter nach rechts gedriftet. Und das hat Folgen, wahrscheinlich auch für die Parlamentswahl im November.
Das Lob kommt von ganz oben. Von der Bühne des Schützenhauses Albisgüetli in Zürich, ausgesprochen von jenem Mann, der mit sehr viel Macht, noch mehr Geld und zuweilen auch mit dreisten Lügen die Medien in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten zu beeinflussen suchte: Christoph Blocher. Es ist der 20. Januar 2023, das Wahljahr hat gerade begonnen, und die [rechtsnationale, d. Red.] Schweizerische Volkspartei (SVP) will mit einer nächsten Initiative die Migration beschränken. Die mediale Themensetzung scheint zu funktionieren: „Es gibt Lichtblicke, das ist schön”, zeigt sich Blocher zufrieden.
„Der NZZ-Chefredakteur, schauen Sie mal diesen Lichtblick an!” Er zitiert einen Artikel, in dem [NZZ-Chefredakteur] Eric Gujer die gescheiterte Integration von Migrant:innen in Berlin beklagt. „Es ist ein Anfang, dass es die Journalisten zugeben.” Dann erwähnt Blocher einen doppelseitigen Artikel aus der SonntagsZeitung mit dem Titel „Willkommen in der 9-Millionen-Schweiz”: Hervorragend sei der Text, ganz sachlich. „Endlich erwachen sie!”, ruft Blocher in den Saal.
Die Behauptung, dass fast alle Medien und die meisten Journalist:innen links ticken, ist in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Sie hat auch den Aufstieg von Multimilliardär Blocher und der SVP begleitet, ähnlich wie die Attacken gegen die vermeintliche Classe politique.
Doch ausgerechnet das Lob von Blocher im Albisgüetli zeigt, dass eine Veränderung in Gang ist. Die Medien – so zumindest der subjektive Leseeindruck – sind im Wahljahr vollgestellt mit SVP-Interpretationen. Zuwanderung und Wokeness erscheinen als die großen Übel der Zeit, während soziale Entwicklungen wie etwa steigende Preise und Mieten deutlich weniger Beachtung finden. Auch die Rettung der [Großbank] Credit Suisse wirkt schon wieder wie eine ferne Episode, trotz immenser Risiken für die Volkswirtschaft durch die neue Megabank UBS.
Ist tatsächlich ein Rechtsruck der Medien in Gang? Eine Entwicklung in dem Sinn, dass die Themen und Denkarten rechter Parteien mehr Platz finden als linke?
Ein Jongleur wird Journalist
Den Artikel über die „9-Millionen-Schweiz” hat Rico Bandle geschrieben. In der kleinräumigen Schweiz kennt man sich bekanntlich meist von irgendwo, Rico kenne ich aus der Jongliergruppe der Kantonsschule St. Gallen. Er war beim Schultheater der Star der Gruppe, ging später mit einem Zirkus auf Tournee. Für die richtige Wirkung beim Jonglieren braucht man nicht nur Geschicklichkeit, sondern muss auch eine Unschuldsmiene aufsetzen können: Hoppla, ein neuer Ring ist im Spiel! Wo kommt denn der plötzlich her?
Spricht man Bandle beim Treffen in einem Zürcher Café auf den Artikel zur „9-Millionen-Schweiz” an, zeigt er sein unschuldiges Artistengesicht von früher. „Null Absprachen” habe er mit der SVP gehabt, als er den Artikel vorbereitete, den er pünktlich aufs neue Jahr veröffentlichte. Er habe SVP-Parteisekretär Peter Keller, der früher mit ihm auf der Weltwoche-Redaktion arbeitete, sogar um den Initiativtext angefragt, um ihn als Primeur bringen zu können. Doch Keller habe abgewunken, man sei damit noch nicht so weit. Wie gesagt, keine Absprache. „Man muss als Journalist einfach die Nase im Wind haben. Die Migration und ihre Folgen sind ein Thema in der Bevölkerung. Und es war klar, dass die SVP mit ihrer Initiative kommt.”
Bandle definiert sich selbst politisch als „ultraliberal”: für Selbstverantwortung, Freiheit und möglichst wenig einschränkende Regeln. Den Eindruck, dass der Journalismus nach rechts rücke, teilt er nicht: „Dass einzelne Artikel wie meiner Beachtung finden, hat damit zu tun, dass der Mainstream weiterhin links steht”, findet Bandle. „Die Behauptung, dass eine irgendwie orchestrierte Rechtswende stattfindet, tönt für mich wie eine Verschwörung.”
Tatsächlich ist die Medienproduktion im Alltag häufig sehr zufällig. Will man zeigen, ob und wie sich die Ausrichtung der Medien verschiebt, sucht man deshalb besser nicht nach einem großen Plan. Sondern analysiert drei Ebenen: die Eigentumsverhältnisse der Medien, die persönlichen Seilschaften von Journalist:innen sowie die politischen Deutungsmuster, die sie verbreiten. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich die Medien mit der Digitalisierung und den einbrechenden Werbeeinnahmen als Folge davon in einer tiefen Strukturkrise befinden, deren Ausgang weiterhin völlig offen ist.
Tettamantis Offensiven
Wie dramatisch diese Krise ist, zeigen zwei Zahlen: Der inflationsbereinigte Werbeumsatz ist gemäß einer Zusammenstellung des liberalen Thinktanks Avenir Suisse von 3,3 Milliarden Franken im Jahr 2000 auf heute lediglich 0,7 Milliarden gesunken. Gewiss, viel von diesem Geld fließt über digitale Marktplätze, die Stellen vermitteln oder Autos verkaufen, weiterhin in die Medienkonzerne. Bloß steht es dort nicht mehr für die Finanzierung des Journalismus zur Verfügung, sondern für das Wohl der Aktionär:innen. Im Vergleich zur Situation vor zwanzig Jahren muss man deshalb von einem Rumpfmediensystem sprechen.
Die Abwärtsspirale von etablierten Medienmarken ermöglichte es wiederum rechten Financiers, ihren Einfluss zu vergrößern. Just um die Jahrtausendwende, als der Werbeboom der Medien in der Schweiz seinen Zenit erreichte, ritten sie ihren ersten erfolgreichen Angriff. Drei weitere sollten folgen. Bis heute werden diese Angriffe viel zu selten im Kontext erzählt.
Als Erstes kaufte der Tessiner Finanzspekulant Tito Tettamanti 2002 die Jean Frey AG, zu der die Weltwoche damals gehörte. Diese sollte vom liberalen Traditionsblatt erklärtermaßen zum rechten Oppositionsorgan werden, mit Chefredaktor Roger Köppel an der Spitze. Später verkaufte Tettamanti die Weltwoche zu einem Spottpreis an Köppel weiter.
2010 folgte der zweite Angriff: Tettamanti schnappte sich die Basler Zeitung (BaZ), nach einem vierjährigen Versteckspiel trat Christoph Blocher offiziell als Miteigentümer in Erscheinung. Mit Lügen – „Ich bin weder direkt noch indirekt beteiligt” – hatte Blocher eine Beteiligung zuvor stets abgestritten. Auch bei der BaZ sollte ein publizistischer Rechtskurs eingeschlagen werden: Chefredaktor wurde der bisherige Weltwoche-Vize Markus Somm.
Der nächste große Angriff folgte 2014 auf die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Weil dort Aktionär:innen maximal ein Prozent der Aktien halten dürfen, ist eine Einflussnahme via Aktionariat kaum möglich. Um den gesellschaftspolitisch offeneren Kurs der damaligen NZZ zu beenden, versuchten rechtsliberale Kreise um den Verwaltungsratspräsidenten Etienne Jornod, Markus Somm als Chefredaktor zu installieren.
Der Putsch misslang, Eric Gujer kam stattdessen zum Zug – und sollte die rechten Erwartungen mehr als erfüllen. Dass sein von Christoph Blocher gelobter Leitartikel gegen Migrant:innen in Berlin spielt und nicht in Bern, ist kein Zufall: Zum Rechtsruck der NZZ trägt bei, dass man in Deutschland wachsen will und dort beispielsweise mit dem Newsletter Der andere Blick auch ein nationalistisches Publikum um die AfD adressiert.
Somms Werbeeinlage
2020 folgte der letzte Versuch: Markus Somm kaufte die Satirezeitschrift Nebelspalter, unterstützt von siebzig reichen Geldgeber:innen, die je 100.000 Franken einschossen. Wie geht es Unternehmersohn Somm, der am liebsten über das freie Unternehmertum schreibt und unlängst ein Buch darüber veröffentlichte, wie das Unternehmen Schweiz so reich wurde?
Markus Somm gibt sich am Telefon erstaunlich gut gelaunt. Erstaunlich, weil er in einem Videopodcast mit „Inside Paradeplatz” zugab, dass er weder mit den Einnahmen noch mit der Wirkung des zum Politportal umgebauten Nebelspalters bisher zufrieden sei. Es zählt erst 4500 Abonnent:innen. Primeurs sind augenscheinlich Mangelware. Bereits spricht CH Media von Somms Scheitern als Publizist. Mit der WOZ unterhält sich Somm ausführlich über den „Nebelspalter”, die Schweiz und die Welt. Leider will er beim Gegenlesen dann aber nur eine bestimmte Auswahl von Zitaten autorisieren. Hier also ein Memo von Somm, um den Titel seines Newsletters zu zitieren. Exklusiv in eigener Sache:
„Was in den Mainstreammedien zu lesen war, ist von A bis Z falsch: Wir sind sehr gut auf Kurs, unsere Abonnentenzahlen sind für ein digitales Bezahlmedium beachtlich, und wir haben Produkte, wie etwa den Podcast Bern einfach oder mein Memo, wo wir auf riesige Reichweiten kommen. Bern einfach bringt es auf 130.000 Downloads pro Monat. Die erreichten Zahlen entsprechen dem Businessplan, die Geldgeber sind äußerst zufrieden mit der Leistung. Dass es zu häufigen Personalwechseln kommt, ist doch ganz normal bei der Gründung eines Start-ups. Die politische Großwetterlage ist auf alle Fälle sehr gut für dissidente Medien, wie der Nebelspalter eines ist. Im Übrigen freue ich mich, dass noch im September der Nebelspalter mit einer neuen Website erscheint: Wir stärken, wo wir gut sind.”
So weit dieser kurze Werbespot für den Nebelspalter. Etwas Werbung können die Rechtsaußenblätter offenbar gebrauchen. Denn auch wenn ihre Chefredaktoren nichts lieber als den freien Markt predigen: Sie sind dort oft nicht besonders erfolgreich, trotz der Anschubfinanzierung schwerreicher Mäzen:innen.
Die BaZ mussten Blocher und Somm an die heutige TX-Gruppe [vormals Tamedia AG, d.Red.] verkaufen, nachdem der Rechtskurs zum Leser:innenschwund geführt hatte. Stieg die Auflage der Weltwoche nach dem Amtsantritt von Roger Köppel auf über 90.000 Exemplare, beträgt sie heute gemäß [halboffizieller, d.Red.] WEMF-Statistik lediglich noch 39.000. Vor diesem Hintergrund sind die Endlosselbstgespräche, die Köppel auf seinem Daily-Videokanal führt, wenig verwunderlich: Sie bringen immerhin noch Werbeeinnahmen.
Vielleicht liegt darin die Tragik von Somm und Köppel: Auch wenn sie sich weiterhin in einer Dissidenz wähnen – was angesichts der seit 175 Jahren bürgerlich regierten Schweiz schon immer eine etwas absurde Vorstellung war –, ist ihre Aufgabe erfüllt. Rechte Kampfblätter verlieren an Wirkung, wenn auch die großen Medien ihren Ansätzen und Interpretationen mehr Raum geben. Dass dies passiert, hat auch mit dem eigenen Nachwuchs zu tun.
Fortsetzung folgt.
Text: Kaspar Surber. Der Artikel erschien zuerst in der Schweizer Wochenzeitung WOZ.
Grafiken und Foto: Pit Wuhrer
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