Im Jahre 2006 fand in Konstanz der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas statt: der 46. Deutsche Historikertag. Etwa 3500 Gäste stießen auf ein Angebot von gerade mal 1000 Hotelbetten in nur 12 Vollhotels – ein Großteil der Teilnehmenden musste in der näheren und weiteren Region untergebracht werden. Und was hat sich seitdem getan? Ein Buch schafft Aufklärung.
Wie kein anderes Ereignis zeigte dieser Historikertag die Grenzen des touristischen Standorts Konstanz auf. 18 Jahre später finden wir hier eine völlig andere Situation vor: Das Bettenangebot der Hotels hat sich durch den Bau einer ganzen Reihe neuer Hotels auf über 4000 vervierfacht, die Zahl der Übernachtungen von 485 000 auf knapp eine Million verdoppelt. Wohl kaum eine touristische Destination in Deutschland kann in einem so kurzen Zeitraum mit einem so hohen touristischen Wachstum aufwarten wie Konstanz – ein Wachstum, das 60% über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt liegt.
Wie lässt sich dieser beispiellose Wandel beschreiben und erklären? Wo sind Ursachen zu verorten, welches sind die diesen Wandel bestimmenden Faktoren? Diesen Fragen geht Armin Müller in seinem Buch „Standort und Strategie“ nach. Müller konnte als Geschäftsführer des 46. Deutschen Historikertages wie als Projektmanager beim Stadtmarketing Konstanz reichlich praktische Erfahrungen sammeln, sein Buch erarbeitete er als „Studiengangsleiter Hotel- und Gastronomiemanagement“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Ravensburg.
Ein Kettenhotel nach dem anderen
Zunächst beschreibt der Autor den „Tourismusstandort im Wandel“ : Voraussetzung für den Boom neuer Hotelbauten nach 2007 war die fast vollständige De-Industrialisierung im Gebiet nördlich des Rheins, wo in den Jahren nach der Jahrtausendwende nicht nur ein gänzlich neuer Stadtteil – die Stadt am Seerhein – entstand, sondern auch große Flächen an Industriebrachen den Bau neuer Hotels erst ermöglichten: In nur wenigen Jahren entstanden 12 neue Hotels, die meisten von ihnen in den Arealen der ehemaligen Industrie, ein erheblicher Teil wiederum als Ableger international operierender Hotelketten wie IBIS, B&B oder Hampton by Hilton. Und – was auf den ersten Blick überrascht – meist in einer wenig attraktiven Lage, nämlich direkt an der Bundesstraße 33 oder in deren unmittelbarer Nähe, also an verkehrsreichen Standorten, inmitten von Lärm und Abgasen.
Konstanz nach der Jahrtausendwende – eine Boomtown für renditehungrige Investoren aus aller Welt, denen die Stadtpolitik bereitwillig Grundstücke auswies und Baugenehmigungen erteilte. Kein Wunder, dass so viel Wachstum in der Stadt nicht nur auf Begeisterung stieß, sondern nicht endende Diskussionen über den sog. „Overtourismus“ provozierte. Das verbreitete Unbehagen an dieser Entwicklung war mit ein Grund dafür, dass in Konstanz bei der letzten OB-Wahl um ein Haar ein Kandidat aus der Partei „Die Linke“ das Rathaus erobert hätte.
Tourismus in Konstanz: Ein methodisch komplexes Feld
Nach dieser einleitenden Skizzierung der gesamtstädtischen Rahmenbedingungen (Makroperspektive) widmet sich das Buch in den Kapiteln 2 bis 5 einzelbetrieblichen Fallstudien. Der Autor untersucht zunächst die „traditionellen Hotels“ der Stadt, mit dem Fokus auf „neue Entwicklungen und Strategien“ (Kap. 2), und dann die „traditionelle Gastronomie“, mit dem Schwerpunkt „neue Strategien“ (Kapitel 3). Weitere Abschnitte sind den neuen Hotels als „neuen Akteuren am Markt“ (Kapitel 4) und den „neuen Gastronomien“ gewidmet. Der Anspruch: „die Entwicklung eines Standortes aus den Wechselwirkungen dieser beiden Ebenen, der Makroebene des urbanen Raumes und den Aktivitäten der Unternehmen auf der Mikroebene zu verstehen“.
Immerhin 15 von 55 Beherbergungsbetriebe werden so in größeren Fallstudien und kleineren Fallskizzen vorgestellt. Aufbereitet werden diese mit Hilfe eines Rasters aus der Marketingforschung, das neben „harten Faktoren“ wie ökonomischen Strukturmerkmalen und Kennziffern auch die „weichen Standortfaktoren“ berücksichtigen will – zum Beispiel die „räumlichen und baulichen Gegebenheiten“ oder „das soziale und kommunikative Miteinander von Bevölkerung und Gästegruppen“. Gefragt wird nach dem stadtgeographischen Standort eines jeden Betriebes, nach dessen Herkunft, nach Kompetenzen und Leistungen, nach den Werten und der Persönlichkeit und schließlich nach den Zukunftsvisionen eines Unternehmens. Eingebettet werden die Antworten auf diese Fragen in ein „4-Felder-Modell des touristischen Potentials“, das zum Beispiel auch „Geschichte und Kultur“ („History Marketing“) und „Urbanität und Heterogenität“ als Faktoren des „touristischen Potentials“ betrachtet.
Familienunternehmen verschwinden
Nichts könnte den Wandel, der hier im Gange ist, besser beleuchten als der Kontrast zwischen dem Verschwinden eines der letzten, von einer Familie geführten Hotels in der Kernstadt, des „Petershof“ (1926 – 2020), und der Ausbreitung der neuen Betriebe der Kettenhotellerie in unmittelbarer Nähe. Drei dieser Hotels tragen die Namen „IBIS“, „IBIS Styles“ und „IBIS Budget“, wobei diese drei Namen für drei von insgesamt 15 Hotelketten des französischen Accor-Konzerns stehen, der weltweit fast 4000 Hotels unter verschiedenen Kettennamen durch unterschiedliche Betreibergesellschaften bewirtschaften lässt.
Und nichts könnte das Unbehagen an dieser Entwicklung besser verdeutlichen als das in der Stadt hoch umstrittene Projekt eines Schweizer Investors, der mit seinem „Sea Palace“ – nomen es omen – genannten Luxus-Hotel auf dem Gelände des ehemaligen Sanatoriums Dr. Büdingen, inzwischen noch einmal umbenannt in „Buff Medical Resort Konstanz“ direkt am Konstanzer Seeufer zeigt, worum es hier im Kern geht: „Um die Verdichtung des städtischen Raumes versus den Erhalt von stadtnahem Naturraum“ beziehungsweise „um die Pflege öffentlicher oder gar Schaffung öffentlicher Räume gegen die Privatisierung des Bodenseeufers“ (S. 151).
Eine nicht zu Ende gedachte Hotelstrategie
Müllers Studie ist verdienstvoll, denn sie beleuchtet aus der Nähe Entwicklungen, die in nie gekannter Geschwindigkeit und Radikalität wesentliche Strukturen der Stadt verändert haben – und noch weiter verändern werden. Sein Buch trägt den Untertitel: „Ein Studienbuch“, richtet sich somit an Studenten und künftige Entscheidungsträger im Bereich von Tourismus, Hotel- und Gastronomiemanagement. Und da wären nun Fragen zu stellen, die im Rahmen dieses knappen Überblicks jedoch nicht gestellt und folglich auch nicht beantwortet werden konnten.
An erster Stelle müsste hier die Frage nach der demokratischen Legitimation wie die nach Sinn, Nutzen und Kosten dieser Wachstumsstrategie stehen. Eine Hotelstrategie wurde zwar 2018 vom Gemeinderat mit den Stimmen fast aller Parteien beschlossen, da waren aber die meisten der hier vorgestellten Hotels schon gebaut – mit Einzelgenehmigungen nach Baurecht, ohne ein schlüssiges und demokratisch legitimiertes Gesamtkonzept.
Ein Zweites: Der Klimawandel ist nicht nur in aller Munde, er ist seit der Jahrtausendwende zumindest auch überall mehr als deutlich zu spüren. Die Stadt Konstanz hat 2019 – symbolpolitisch höchst medienwirksam – als erste Stadt in Deutschland einen „Klimanotstand“ ausgerufen, nachdem man in den Jahren zuvor die Zahl der Übernachtungen auf eine Million verdoppelt und damit eine gewaltige Zunahme des motorisierten Individualverkehrs ausgelöst hat – eine zusätzliche Verkehrsbelastung, die bisher in keiner Klima-Bilanz auftaucht.
Auch ökonomisch werfen die von Müller präsentierten Zahlen eine Frage auf: Wenn sich das Bettenangebot im Hotelsektor in wenigen Jahren vervierfacht hat – weitere Betriebe kommen ja noch hinzu: Werden all diese Hotels auf Dauer eine genügende Auslastung und damit Rentabilität haben, oder werden weitere Familienbetriebe der Kettenhotellerie weichen müssen? Und welchen steuerlichen Gewinn hat die Stadt Konstanz aus den Filialen international operierender Hotelkonzerne, abzüglich aller Vorleistungen und Folgekosten?
Zur ökonomischen Bilanz dieser Entwicklung zählt auch die Frage nach den hier neu geschaffenen Arbeitsplätzen, die zumeist durch neuen Zuzug von außen besetzt werden. Die Menschen, die in diesen Hotels arbeiten, können in Konstanz oftmals keine (für sie bezahlbare) Wohnung finden. Die Folgen: Noch mehr Pendelverkehr, noch mehr Verkehrsbelastung, klimapolitisch verheerend.
Das sind Fragen, die in diesem Buch nicht gestellt werden, die sich bei der Lektüre aber zwingend aufdrängen. Schließlich – Müller spricht es selbst an verschiedenen Stellen an – ist mit dem Vordringen der Kettenhotellerie, die ja in der Architektur (außen wie innen) einem Konzept, einem „Style“ folgt, auch die Gefahr einer Uniformierung, eines Verlusts an städtebaulicher und architektonischer Vielfalt gegeben. Der Autor sagt es am Beispiel des ersten, 2010 eröffneten, IBIS-Hotels mit schlichten Worten: „Letztlich wurde ein standardisierter Funktionsbau nach Konzept und Design der Marke Accor realisiert“ (124).
Wer heute – mit dem Auto von Westen herkommend – auf der B 33 in die Stadt hineinfährt, kann insgesamt sieben dieser „Hotel-Funktionsbauten“ bestaunen und dabei den Eindruck gewinnen, dass hier städtebaulich eine große Chance vertan wurde.
Müller, Armin: Standort und Strategie. Hotellerie und Gastronomie in der Bodenseestadt Konstanz im Wandel. Ein Studienbuch. Berlin: Neopubli 2021. 206 S., Euro 19.90.
Text: Werner Trapp. Dieser Beitrag des Konstanzer Autors und Historikers wurde zuerst veröffentlicht in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung. Jahrgang 141, Heft (2023). Bilder: H. Reile
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