Zwischen Ampel-Parteien, Union, AfD und BSW herrscht Konsens: „Irreguläre Migration“, also Flucht, muss bekämpft werden. Wir sollten an das Prädikat „demokratische Partei“ mehr Anforderungen stellen als nur eine, nämlich: nicht die AfD zu sein. Das schreibt Seán McGinley, ehemaliger Geschäftsführer des baden-württembergischen Flüchtlingsrats.
Stellen Sie sich vor, die folgenden zwei Sätze wären alles, was eine Partei in ihrem Wahlprogramm zum Thema Flucht und Asyl schreiben würde: „Ernsthaft politisch Verfolgte müssen in Deutschland Asyl finden können. Zu einer menschenwürdigen Behandlung gehört auch, dass Asylbewerber hier arbeiten können.“ Das ist zwar ziemlich dünn und lässt einiges an Interpretationsspielraum, doch die Aussagen sind nicht falsch und heben sich positiv ab gegenüber dem, was aktuell im politischen Diskurs von fast allen Seiten diskutiert wird.
Diese zwei Sätze stammen aus dem Wahlprogramm der AfD zur Bundestagswahl 2013 und sind tatsächlich die einzigen Aussagen zu Flucht und Asyl, die darin enthalten sind. Es dauerte nicht lange, bis die Partei ganz andere Töne anschlug – ersichtlich bereits im Programm zur Europawahl 2014. Wie sehr sich die AfD seitdem radikalisiert hat, ist hinlänglich bekannt und die Sorge um ihren wachsenden Einfluss sowie der Protest dagegen berechtigt und wichtig.
Im gleichen Zeitraum allerdings fand ein Radikalisierungsprozess in den anderen Parteien statt (mit Ausnahme der Linken, denn der sich radikalisierende Teil hat sich abgespalten und das BSW gegründet), der dazu geführt hat, dass der Bundestag mit über 95 Prozent Zustimmung Maßnahmen beschließt, die weit radikaler sind als das, was vor einigen Jahren die AfD gefordert hat. Das neue „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ beispielsweise, mit Haftlagern an Europas Außengrenzen. Das Framing, die „irreguläre Migration“ müsse unterbunden werden, ist zum unwidersprochenen Konsens von AfD, Union, den Ampel-Parteien SPD, FDP, Grüne und BSW geworden.
Hatte sich vor zehn Jahren sogar noch die AfD grundsätzlich zum Recht auf Asyl bekannt, fordern nun auch Unionspolitiker wie zuletzt prominent Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen dessen Abschaffung. Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke will rechtswidrige Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen. Innenministerin Nancy Faeser führt Grenzkontrollen ein, die sie ein Jahr zuvor noch als wirkungslos bezeichnet hatte, und über allem schwebt der Wunsch von Bundeskanzler Olaf Scholz, „endlich im großen Stil abzuschieben“.
Legale Fluchtrouten gibt es kaum
Die Grünen tragen diese Maßnahmen innerhalb der Bundesregierung nicht nur mit. Eine Bundesratsinitiative von Baden-Württemberg und anderen Ländern mit schwarz-grüner Regierung fordert noch weitergehendere Maßnahmen für mehr Abschiebungen und gegen „irreguläre Migration“, als im von der Bundesregierung vorgelegten und von vielen Expert:innen als verfassungswidrig eingeschätzten „Sicherheitspaket“.
Führende Persönlichkeiten der Partei vertreten das herrschende Meisternarrativ „Irreguläre Migration muss gestoppt werden“ aus voller Überzeugung. Wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt: „Wir müssen die irreguläre Migration begrenzen, sonst kommt das Asylrecht unter die Räder“, offenbart er anschaulich die Heuchelei derjenigen, die versuchen, menschenfeindliche Politik mit hehren Absichten zu rechtfertigen.
Denn: Europa hat dafür gesorgt, dass „irreguläre Migration“ de facto die einzige Möglichkeit ist, das Asylrecht in Anspruch zu nehmen. Der Kampf gegen „irreguläre Migration“ ist ein Kampf zur Verhinderung von Fluchtmigration und gegen die Inanspruchnahme des Asylrechts. Es ist ein Kampf dafür, dass zukünftig noch mehr als die bisherigen 80 Prozent der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, in Ländern des globalen Südens bleiben sollen.
Das Framing von Flucht als „irreguläre Migration“ und damit als etwas Kriminelles und Bedrohliches ist die Grundlage dafür, dass quasi jede Maßnahme wie eine Art Notwehr als legitim erscheint. Zumal Horst Seehofers Postulat, die Migration sei die „Mutter aller Probleme“, mit wenigen Jahren Verzögerung zum Konsens im politischen Diskurs geworden ist. Sie kriegen keinen Arzttermin? Finden keine bezahlbare Wohnung, keinen Kita-Platz für Ihre Kinder? Sie haben Angst vor Kriminalität? Die Migrant:innen sind schuld!
Da alle relevanten politischen Kräfte dieses Framing übernommen haben, wird nur noch darüber diskutiert, wie das vermeintliche Grundübel „irreguläre Migration“ gelöst werden könnte. Als würden sich dann alle anderen gesellschaftlichen Missstände in Luft auflösen. „Wenn man nur einen Hammer hat, sieht jedes Problem aus wie ein Nagel“, sagte der Psychologe Abraham Maslow. Und wenn es in jeder Talkshow, jeder Bundestagsdebatte und jeder Bierzeltrede nur noch darum geht, dass „irreguläre Migration“ die Wurzel aller Probleme ist und kaum jemand diese Prämisse in Frage stellt, dann muss man sich nicht wundern, wenn viele Menschen das glauben – und entsprechend wählen.
Keine Maßnahme hat zu mehr Kita-Plätzen geführt
Das Versprechen, das „Problem“ der „irregulären Migration“ zu „lösen“ und damit alle oder zumindest viele andere echte Probleme unserer Gesellschaft, ist natürlich ein Taschenspielertrick. Und zwar derjenigen, die nicht willens oder nicht in der Lage sind, darüber zu sprechen, dass jahrzehntelang kaputtgesparte Infrastruktur, eine Umverteilung von unten nach oben, die Vergötterung der „schwarzen Null“ und Steuerhinterziehungen in Milliardenhöhe vielleicht auch etwas damit zu tun haben, warum in einem so reichen Land so vieles nicht funktioniert.
Dann schon lieber immer mehr Gesetzesverschärfungen gegen Migrant:innen, die seit mindestens zehn Jahren in einer solchen Regelmäßigkeit und Intensität vorangetrieben werden, dass sie kaum mehr zu überblicken sind. Allerdings hat keine dieser Maßnahmen dazu geführt, dass es mehr Wohnungen, Kita-Plätze oder freie Zahnarzttermine gibt.
Also was tun? Natürlich noch mehr, noch härtere Gesetzesverschärfungen! Bekanntlich ist die Definition von Wahnsinn: immer wieder das Gleiche tun und andere Ergebnisse erwarten. Echt Wahnsinn, unsere „demokratischen Parteien“.
In ihren Bemühungen, uns vor einer Machtergreifung der AfD zu bewahren, lassen sie sich auch von Verfassung, Europarecht und Menschenrechten nicht aufhalten. FDP-Finanzminister Christian Lindner sprach dies im September offen aus, als er sagte, man könne bei Bedarf internationales oder europäisches Recht sowie das Grundgesetz ändern. Es dürfe keine „Denkverbote“ in der Migrationspolitik geben. „Denkverbote“ gibt es für Lindner scheinbar nur in Bezug auf die Schuldenbremse, die ja aus seiner Sicht nicht in Frage gestellt werden darf, weil sie in der Verfassung steht.
Nicht Gerichte, sondern das Deutsche Volk und die Politik sollten entscheiden, wer in Deutschland Asyl bekommt – das hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kürzlich im Bierzelt auf dem Gillamoos-Volksfest gefordert. Hätte vor fünf Jahren Björn Höcke diesen Satz gesagt, wäre dieser mit Sicherheit in die Sammlung der schlimmsten AfD-Zitate eingegangen, welche die Verfassungsfeindlichkeit der AfD belegen. Schließlich wird damit die Überwindung des Rechtsstaatsprinzips und der Gewaltenteilung gefordert. In der NS-Zeit wurde das Kriterium des „gesunden Volksempfindens“ ins Gesetz geschrieben und damit der politisch-ideologisch motivierten Willkür im Justizwesen auch ganz formal die Tür geöffnet.
Es gibt keine roten Linien mehr
Warum erzeugen solche Forderungen „demokratischer“ Politiker:innen keinen Aufschrei? Weil wir einen Kipppunkt schon überschritten haben. Hier ist etwas ins Rutschen geraten. Es gibt überhaupt keine inhaltlichen roten Linien mehr, auch nicht die Verfassung oder die Menschenrechte. Während wir alle – zu Recht und verständlicherweise – auf die AfD schauen und uns Gedanken darüber machen, wie ihr Aufstieg noch aufzuhalten ist, zeigen die „demokratischen Parteien“ eine deutliche Bereitschaft, genau die Werte über Bord zu werfen, die sie vorgeblich vor der AfD schützen wollen. Es fällt nicht so sehr auf, weil die anderen Parteien in ihrem Radikalisierungsprozess der AfD seit Jahren immer mit zeitlicher Verzögerung folgen.
Das Schlimme und Gefährliche an den menschenverachtenden Positionen der AfD ist nicht, dass sie von der AfD vertreten werden, sondern dass sie menschenverachtend sind. Deshalb sollten an das Prädikat „demokratische Partei“ mehr Anforderungen gestellt werden, als nur eine, nämlich: nicht die AfD zu sein.
Möglich, dass Deutschland es hinbekommt, sich zu faschisieren ohne Regierungsbeteiligung der AfD. Wer kann das noch verhindern? Die politische Ebene – zumindest die institutionelle und parteipolitische – ist verloren, weil spätestens mit dem Versinken der Linken in der Bedeutungslosigkeit die einzige Stimme verschwinden wird, die sich dem herrschenden Framing in der Migrationspolitik entgegenstellt. Bereits jetzt wird sie kaum mehr wahrgenommen. Im nächsten Bundestag werden zum einen Überzeugungstäter:innen und Hetzer:innen sitzen, die aus voller Überzeugung die autoritäre Entwicklung vorantreiben, und zum anderen rückgratlose Opportunist:innen, Heuchler:innen und Lügner:innen, die Positionen vertreten, von denen sie selbst wissen, dass sie falsch sind.
Es bleiben noch die Zivilgesellschaft, die Medien und die Gerichte als Akteure, die zumindest theoretisch der fortschreitenden autoritären und menschenrechtsfeindlichen Lawine etwas entgegensetzen können. Es ist kein Zufall, dass diese drei Akteure ins Visier derjenigen geraten, die die letzten Barrieren zu einem autoritär-nationalistischen Staat abbauen wollen.
Text: Seán McGinley. Der Beitrag des ehemaligen Geschäftsführers des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg erschien zuerst in der Wochenzeitung Kontext.
Foto: Joachim E. Röttgers
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