
Die Zusammensetzung des Bundestags und die bisherigen Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung zeigen: Noch nie in der Geschichte der BRD hatte ein:e Kanzler:in so viel Macht wie der wohl künftige Regierungschef – der Ex-Finanzmanager und Lobbyist Friedrich Merz. Ob das der ohnehin schon ramponierten „Brandmauer gegen rechts“ wohl gut tut?
Die geplante kleine Großkoalition aus Union und SPD unterscheidet sich an einer dramatischen Stelle grundlegend von allen bisherigen bundesdeutschen Regierungskoalitionen: Bildet die SPD mit Friedrich Merz eine solche Regierung, dann ist nicht nur sie, sondern der gesamte rechtsstaatlich orientierte Bundestag von diesem Moment an der Union, dem Kanzler Merz und dessen Richtlinienkompetenz ausgeliefert. Die rechtsstaatlich-demokratisch orientierten Fraktionen hätten keine Möglichkeit, diesen Kanzler legal zu stürzen oder mit einem Misstrauensvotum beispielsweise Neuwahlen zu erzwingen – weil Union und AfD zusammen die Mehrheit haben im Bundestag.
Um es zu verdeutlichen: Bei den Bundestagswahlen in der Vergangenheit wurden immer Union und SPD die beiden stärksten Parteien im Bundestag, mal lag die Union vorne, mal die SPD. Diese beiden stärksten Parteien hatten jederzeit die Möglichkeit, mit den anderen im Bundestag vertretenen rechtsstaatlich-demokratischen Parteien jeweils eigene Kanzlermehrheiten zu bilden; seitdem die AfD im Bundestag war, auch ohne die AfD.
Dies bedeutete, dass eine der beiden großen Parteien zwar den/die Bundeskanzer:in stellen konnte, die jeweils andere Partei aber zugleich auch die theoretische Möglichkeit eines Kanzlersturzes mittels konstruktivem Misstrauensvotum hatte.
Einst Koalitionen auf Augenhöhe
Koalitionen und Koalitionsverträge, die in der Vergangenheit unter diesen Voraussetzungen ausgehandelt und beschlossen wurden, waren „Koalitionen auf Augenhöhe“. Die Koalitionspartner hatten die Möglichkeit, sollte ein Koalitionsvertrag nicht eingehalten werden, die Koalition zu beenden, andere Partner zu suchen und gegebenenfalls eine:n neue:n Bundeskanzler:in zu wählen. Die grundgesetzliche „Richtlinienkompetenz“ hatte in diesen Koalitionen deshalb ihre Grenze. Ein Beanspruchen der Richtlinienkompetenz des/der Bundeskanzler:in gegen den Willen des Koalitionspartners hätte das Ende einer Koalition bedeuten können.
Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 23. Februar brachte nun die rechtsstaatliche Union als stärkste Partei und die mehr als verdächtig-rechtsextreme AfD als zweitstärkste Partei hervor. Das bedeutet, dass nur die Union eine Koalition mit Kanzlermehrheit mit anderen rechtsstaatlich-demokratischen Parteien bilden kann. SPD, die Grünen und die Linken können nur als kleinere Partner mit der Union koalieren. Eine Koalitionsmöglichkeit mit Kanzlermehrheit ohne die Union haben SPD, Grüne und Linke nicht.
Wenn jetzt die SPD in „Koalitionsgespräche“ mit der Union geht, wird am Ende keine „Koalition auf Augenhöhe“ stehen können. Denn die SPD hätte, nachdem sie mit der Union einen Koalitionsvertrag ausgehandelt und beschlossen und einen Unionskanzler gewählt hätte, im Falle eines Koalitionsbruchs durch die Union zwar die Möglichkeit, die Koalition zu verlassen. Sie hätte aber keine Möglichkeit, einen von ihr gewählten Bundeskanzler mit einem konstruktiven Misstrauensvotum durch einen anderen Bundeskanzler zu ersetzen.
SPD nur als Steigbügelhalter
In der Praxis einer Koalition mit der Union würde das bedeuten, dass die SPD, wenn der Unionskanzler erst gewählt ist, im Streitfall der Richtlinienkompetenz des Kanzlers ohnmächtig ausgesetzt ist. Die SPD wäre in einer solchen Koalition auf die Funktion eines Steigbügelhalters für einen Unionskanzler reduziert, der auf dem Pferd des Kanzleramtes sitzend und reitend keine Rücksicht mehr auf diesen Steigbügelhalter nehmen müsste. Kann sich die SPD aus staatspolitischer Verantwortung und aus Selbstachtung auf eine solche „Pseudokoalition“ einlassen?
Auch unter einer schwarz-roten Bundesregierung mit einem Unionskanzler bleibt die Mehrheit des Deutschen Bundestages schwarz-blau. Die innere Zerrissenheit der Union gegenüber der AfD, die inhaltliche, rhetorische sowie asyl- und migrationspolitische Nähe von Teilen der Union zur AfD, insbesondere in den ostdeutschen Ländern, und der rechtspopulistische Druck aus den Vereinigten Staaten könnten und würden für die Union eine große Versuchung bilden, von dieser schwarz-blauen Mehrheit Gebrauch zu machen, wenn es zur Durchsetzung von Positionen, denen sich die SPD verweigert, notwendig ist.

Ein Beispiel: Wollte Merz im laufenden Regierungshandeln ständige strikte Grenzkontrollen durchsetzen, dann könnte er das gegen den Willen seines Koalitionspartners zusammen mit der AfD realisieren. Die SPD wäre diesem Tun ausgeliefert. Denn: Es gäbe keine Allianz aus rechtsstaatlich-demokratischen Fraktionen, die den Unions-Bundeskanzler stürzen könnte. Die SPD könnte nur unter Protest zuschauen. Widerstand aus der Union selbst dürfte es so wenig geben, wie es Widerstand bei den Republikanern in den USA gegen Trump gegeben hat beziehungsweise gibt.
Diese machtpolitische systemische Fehlstellung und die daraus resultierende Versuchung existiert zunächst allein schon in der Parteien- und Koalitionskonstellation nach der Bundestagswahl des 23. Februar, ungeachtet der agierenden Personen.
Merz hat Misstrauen verdient
Nun wird man nicht leicht behaupten können, dass der Kanzlerkandidat der Union geeignet ist, die Hoffnung zu begründen, dass die Union im Gebrauch der schwarz-blauen Mehrheit zurückhaltend sein wird. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein. Dass Merz Misstrauen verdient, hat er öfter bewiesen, als ihm selbst lieb sein kann: Vor dem 29. Januar 2025 das Nie mit der AfD, am 29.1. dann das Mit der AfD, danach wieder Nie mit der AfD. Vor der Wahl Schuldenbremse unbedingt, nach der Wahl Sonderschuldenberge. Vor der Wahl Schulden abbauen, nach der Wahl Schuldenberge auftürmen. Was bedeutet das für Koalitionsverhandlungen und das Verhalten der SPD?
Wenn man sieht, wie Merz die Sondierungsgespräche geführt hat, welche inhaltlichen Positionen er auf der einen Seite geräumt, auf der anderen Seite eingenommen hat, entsteht der Eindruck: Hier macht einer schlichtweg alles, was notwendig ist, um zum Kanzler gewählt zu werden. Wenn dieses „All-in“-Spiel dann geklappt hat, würde es dann nicht seiner habituellen Unglaubwürdigkeit entsprechen, seine etwaigen Zusagen, wenn es ihm opportun erscheint, nicht einzuhalten?
Ein Entkommen aus dieser vertrackten Lage, entstanden durch die schwarz-blaue Mehrheit in Verbindung mit der Unglaubwürdigkeit des Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz, wäre eventuell durch den bereits im Bundestag diskutierten AfD-Verbotsantrag möglich, sofern er noch vor der Kanzlerwahl auf den Weg gebracht wird. Der auch von der Union mitzubeschließende Antrag auf Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ob die AfD verfassungswidrig oder von staatlicher Finanzierung auszuschließen ist, könnte so etwas wie eine Glaubwürdigkeitsversicherung darstellen.
Denn das könnte dazu führen, dass ein Unionskanzler, solange die Prüfung des Gerichts andauert, nicht von der schwarz-blauen Mehrheit Gebrauch macht. Ein solcher Antrag würde auch die „Brandmauer gegen rechts“ stärken, die noch besteht. Andernfalls droht diese „Brandmauer“ über kurz oder lang zu fallen.
Text: Thomas Weber. Der Autor promovierte in Klassischer Philologie, arbeitete über dreißig Jahre in unterschiedlichen Funktionen in Landes- und Bundesministerien. Von 2009 bis 2024 war er als Referatsleiter „Nachhaltigkeit“ im Bundesministerium der Justiz. Sein Beitrag erschien zuerst im Blog Bruchstücke, dessen Redaktion ihn uns zur Verfügung gestellt hat.
Fotos (Protest gegen den Auftritt von Friedrich Merz am 5. Februar 2O25 in Singen; Kleinkundgebung am 8. Februar 2025 in Füssen): Pit Wuhrer
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