Am Sonntag ist nach 471 Tagen Krieg endlich ein hoffentlich permanenter Waffenstillstand in Gaza eingetreten. Menschen feierten ausgelassen in den Straßen und machten sich zurück in ihre zerstörten Häuser, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Aber wie geht es weiter? Die Konstanzer Gruppe „Rettet Gaza“ hat für den kommenden Samstag eine Demo angekündigt.
Nach über fünfzehn Monaten unablässiger Bombardierung kehrt in Gaza mit dem Beginn des Waffenstillstands endlich Ruhe und die Hoffnung auf Frieden und Wiederaufbau ein. Es ist berührend, die Menschen in Gaza wieder feiern zu sehen – und zu sehen, wie sie sich auf den Weg in ihre zerbombten Häuser machen, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Vieles lässt sich über diesen Waffenstillstand und diesen Krieg sagen.
Eine der eindrücklichen Erkenntnisse ist die Sinnlosigkeit des Mordens. Wie viele Monate und wie viele Tausende Tote hat es gebraucht, bis sich auf israelischer Seite die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es in diesem Krieg nichts zu gewinnen gibt? Bereits vor über zwei Monaten hatte der ehemalige Verteidigungsminister Yoav Gallant festgestellt, dass es für die israelische Armee in Gaza nichts mehr zu tun gibt.
Israel hatte in den vergangenen fünfzehn Monaten alle erdenkbaren Methoden der Kriegsführung eingesetzt. Bereits Monate, nachdem alle Krankenhäuser in Gaza mehrfach zerstört worden waren und eine überwältigende Anzahl an Völkerrechtsexperten die israelischen Handlungen als Völkermord einstuften, drehte die israelische Armee in Punkto Brutalität mit dem „Generalsplan“ noch einmal auf: Ziel war, den gesamten Norden Gazas vollständig auszuhungern und in Schutt und Asche zu legen. Der Plan war so extrem, so brutal und so gegen jede Regeln der Kriegsführung, dass selbst der ehemalige israelische Verteidigungsminister Moshe Yaalon die Taktiken als „ethnische Säuberung“ und Kriegsverbrechen verurteilte.
Viel Elend, kein Fortschritt
Während es die Armee zwar schaffte, eine hohe Anzahl an Zivilist:innen zu ermorden, gelang es ihr zu keinem Zeitpunkt des Krieges, die militärische Gegenwehr zu brechen. Auch fünfzehn Monate, nachdem die israelische Armee Beit Hanoun im Norden Gazas zum ersten Mal eroberte, starben regelmäßig israelische Soldaten zum Teil in zerbombten Häusern – zuletzt vergangene Woche in Beit Hanoun.
Mit anderen Worten: Selbst Massenmord konnte die militärische Stärke der Hamas nicht brechen und Gaza ethnisch säubern, auch nicht im Norden. Und dies trotz aller Versuche und aller erdenklichen Unterstützung von Israels Verbündeten, allen voran den USA, gefolgt von Deutschland und weiteren NATO-Staaten.
Nun ist diese Erkenntnis zumindest ins Team des neuen US-Präsidenten Donald Trump durchgesickert, das wohl Benjamin Netanjahu gezwungen hat, einem Waffenstillstand zuzustimmen – einem Waffenstillstand wie er, nahezu identisch, bereits im Mai vergangenen Jahres von der Hamas akzeptiert wurde. Und selbst damals waren die Bedingungen für den Deal alter Tobak, der zum wiederholten Male durchgekaut worden war.
Untragbarer Status quo
In fünfzehn Monaten Völkermord haben sich die Bedingungen der Hamas nicht verändert: Geiselaustausch gibt es nur bei einem permanenten Waffenstillstand, humanitärer Hilfe, einem vollständigen Rückzug der israelischen Armee aus Gaza, einem Ende der Blockade und einem Wiederaufbauplan. All dies verläuft in insgesamt drei Phasen. Phase eins ist jetzt beschlossen und auch wenn Netanjahu seiner Koalition versicherte, dass der Krieg nach dieser Phase genauso weitergeht wie jetzt, gibt es gute Chancen, dass er damit nicht recht hat. Denn wenn der Krieg nach Phase 1 weitergeht, steht die israelische Armee vor demselben Problem wie in den vergangen fünfzehn Monaten. Sie kann Zivilist:innen ermorden, militärisch jedoch nichts erreichen.
Selbst mit mörderischem Vorgehen konnte Israel sich nicht des selbst geschaffenen „palästinensischen Problems“ entledigen. Der vergangene Krieg hat vor allem eines gezeigt: Ohne eine diplomatische Lösung, die allen Menschen im gesamten historischen Palästina, unabhängig von ihrer Religion die gleichen Rechte zusichert, wird es keinen Frieden geben. Und während zwar die Palästinenser:innen die große Wucht der Folgen spüren, sind auch die Kosten in Israel zu hoch. Auch wenn es wohl noch Jahre dauern wird, bis diese Erkenntnis wirklich in Israel durchsickert – der Status quo ist nicht tragbar. Für niemanden.
Dieser Waffenstillstand ist zu aller erst die Folge des militärischen Versagens Israels – zumindest im Hinblick auf das erklärte Ziel, Hamas zu beseitigen, oder auf das weniger deutlich, aber durchaus auch kommunizierte Ziel, den Gazastreifen ethnisch zu säubern . Einen Sieg der Hamas oder gar der Palästinenser macht das trotzdem nicht daraus.
Über hunderttausend Tote …
Nach offiziellen Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums sind mindestens 47.000 Menschen getötet worden. Dies ist höchstwahrscheinlich eine Untertreibung. Eine kürzlich erschienene Studie kam zu dem Schluss, dass alleine für den Zeitraum bis Juni 2024 die Todeszahlen um etwa 40 Prozent über dem berichteten Wert lagen und damit alleine in diesem kurzen Zeitraum 64.000 Menschen ermordet wurden (statt der berichteten 38.000).
Eine deutlich früher erschienene Studie ging davon aus, dass die Todeszahl durch indirekte Todesfälle wie Krankheit, Hunger und Verletzungen auch nach einem Waffenstillstand noch um den Faktor vier auf 186.000 Menschen steigen werde. Und ein im Oktober veröffentlichter offener Brief von US-amerikanischen Ärzten und Krankenpflegern, die in Gaza im Einsatz waren, kam zu dem Schluss, dass bis Oktober mindestens 118.000 Menschen oder 5,4 Prozent der Bevölkerung Gazas gestorben sind.
Zu den Toten kommen die Verletzten – viele davon schwer mit amputierten Gliedmaßen. Nach offiziellen Zahlen sind rund 110.000 Menschen in diesem Krieg verletzt worden. Pro Kriegstag haben etwa zehn Kinder eines oder beide Beine verloren. Hinzu kommen die Hungernden – nahezu die gesamte Bevölkerung leidet unter schwerer Nahrungsmittelknappheit – und die Traumatisierten. Alleine die Folgen der Traumata wird eine ganze Generation verändern.
… und kaum intakte Gebäude
Eine kürzlich erschiene Studie stellte fest, dass 87 Prozent der Kinder Gazas unter schweren Angststörungen leiden und 96 Prozent der Kinder denken, dass ihr Tod kurz bevor steht. Tiefe Kindheitstraumata beeinflussen eine Person ihr Leben lang. Durch ein Trauma wird das sich entwickelnde Nervensystem von Kindern umgelenkt, so dass sie auch Jahrzehnte später noch sehr wachsam und ängstlich sind.
All dies trifft auf eine komplett zerstörte Infrastruktur. Jedes Krankenhaus in Gaza wurde in den vergangenen Monaten mehrmals komplett zerstört, viele der Ärzt:innen gefoltert und ermordet. 65 Prozent des Ackerlandes sind vernichtet – und Berichten zufolge waren bereits im Juli 63 Prozent der Gebäude in Gaza zerstört.
Im Anbetracht dieser Zerstörung ist klar: Selbst wenn jetzt, wie angekündigt, wieder mehr humanitäre Hilfe nach Gaza kommt, werden noch viele Menschen sterben. Und wenn die Unterstützung nicht kommt, erst recht. Es braucht jetzt ganz dringend sehr viel humanitäre Hilfe, ein Ende der Blockade und internationale Anstrengungen beim Wiederaufbau.
Eingeschränkte Meinungsfreiheit – in Deutschland
Die Region hat große Umwälzungen hinter sich und noch viele vor sich. Für den Moment jedoch überwiegt die Hoffnung, dass die Menschheit einen Schritt weg von der Eskalationsspirale gemacht hat und es zaghafte Schritte in Richtung Frieden in der Region geben kann. Über die geopolitischen Implikationen ließen sich Bücher füllen, und werden sicherlich auch gefüllt. Der US-Imperialismus wurde nackter, sichtbarer. Für Menschen auf der ganzen Welt. Hyperimperialismus titelte das sozialistische Forschungsinstitut The Tricontinental eine große Studie vor einem Jahr. Israel muss sich vor Gericht wegen Völkermord verteidigen und gegen Netanjahu und Gallant wurden Haftbefehle erlassen.
Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen das Massaker in Gaza formierte sich weltweit, allen voran in die USA selbst. Gaza wurde zum wichtigsten Grund, weshalb Wähler:innen, die 2020 noch für Joe Biden stimmten, 2024 nicht Kamala Harris wählten; das offenbarte erst letzte Woche eine Umfrage.
Insbesondere die Student:innenproteste im Frühling 2024 sorgten in Kombination mit Demonstrationen von mehreren hunderttausend Demonstrant:innen für weltweites Aufsehen. In Deutschland konnten die Proteste nie an das US-Niveau anknüpfen. Dennoch formierte sich auch hier beträchtlicher Widerstand. Mit den Protesten kamen die Repressionen. Die NGO Civicus stufte die Meinungsfreiheit in Deutschland im Dezember 2023 von „offen“ auf „eingeschränkt“ herab – zum Teil aufgrund von Repressionen insbesondere gegen Klimaschützer:innen der Letzten Generation, zum Teil auch gegen palästinasolidarische Demonstrationen.
In den vergangenen fünfzehn Monaten wurden pauschale Demonstrationsverbote erlassen, Demonstrationen gestoppt, Aktivist:innen verhaftet und angeklagt, Kongresse gestürmt und Professor:innen gefeuert. Parallel dazu wurde der Konflikt genutzt, um weiter gegen Ausländer:innen zu hetzen – auch von Leuten aus der einst liberalen Mitte. Aber die hatten sich zuletzt ohnehin der extremen Rechten angenähert, die sie zu bekämpfen vorgibt.
Eine Vision von Fortschritt und Würde
Was bleibt also nach diesen fünfzehn Monaten unerdenklichen Grauens, das per Livestream in die Welt getragen wurde? Vor allem die Zerstörung und der Tod. Der Journalist aus Gaza Malak Hijazi schrieb anlässlich des Waffenstillstands:
„Ein Waffenstillstand mag zwar die Bomben zum Schweigen bringen, wirft aber eine viel schwerwiegendere Frage auf: Was kommt als Nächstes? Ein Waffenstillstand mag die unmittelbare Zerstörung stoppen, aber er wird den Gazastreifen nicht wieder lebenswert machen. Bombardierte Stadtteile bauen sich nicht von selbst wieder auf.“
Die Menschen brauchen Häuser, Schulen, Kliniken, sauberes Wasser und Strom, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus aber, so Malak Hijazi „brauchen wir eine Regierung, die ihre Bürger in den Mittelpunkt stellt –eine Regierung, die in der Lage ist, den Gazastreifen unter einer gemeinsamen Vision von Fortschritt und Würde zu vereinen. Ohne sie werden selbst die gut gemeinten Wiederaufbaubemühungen ins Stocken geraten.“
Und weiter: „Dieser Krieg wird nicht mit dem letzten Luftangriff enden. Seine Auswirkungen werden in den Trümmern, im Kampf um den Wiederaufbau und in der ständigen Angst, dass der Waffenstillstand nicht halten wird, nachwirken. Die Menschen in Gaza brauchen mehr als nur Worte der Solidarität. Wir brauchen sinnvolle globale Maßnahmen zur Unterstützung des Wiederaufbaus und zur Gewährleistung der Verantwortlichkeit.“
Zusammengefasst: Dieser Krieg wird nicht mit dem letzten Luftangriff enden. Auch das Sterben endet so nicht. Die Blockade in Gaza muss endlich aufhören, eine sinnvolle politische Lösung muss gefunden werden. Und davor brauchen die Menschen vor allem Essen, Trinken, Medikamente und Hilfe beim Wiederaufbau.
Auch für uns in Deutschland bleibt die Frage: Wie weiter, nachdem nahezu die gesamte politische Klasse und ihre Medien voller Eifer einen Völkermord unterstützte und auf jene eingeprügelte, die anderer Meinung sind.
Fünfzehn Monate Völkermord neigen sich hoffentlich dem Ende, aber die gewaltigen Veränderungen, die dadurch angestoßen wurden, beginnen erst jetzt, richtig Form anzunehmen. Der Krieg mag zu Ende sein, der Konflikt ist es noch lange nicht.
Text: Manuel Oestringer von Rettet Gaza Konstanz
Fotos oben © Wikimedia commons, Aktion Markstätte © Rettet Gaza Konstanz, Mahnwache Münsterplatz © pw
Aufruf zur Demo am Samstag
„Die Blockade in Gaza muss beendet und eine politische Lösung gefunden werden, die allen Menschen in der Region gleiche Rechte sichert, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion“, heißt es in einem Aufruf der Konstanzer Gruppe Rettet Gaza. „Und davor benötigen die Menschen im Gaza vor allem: Nahrungsmittel, Trinkwasser, Medikamente und Unterstützung beim Wiederaufbau. Daher gehen auch die Proteste hier vor Ort weiter, denn mit dem letzten Luftangriff endet nicht das Sterben im Gaza.“
Samstag, 25. Januar, 14 Uhr, Herosépark, Konstanz
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