Der Anteil der älteren Menschen an unserer Bevölkerung wird auch in den nächsten Jahren ständig weiter zunehmen. Doch die Gesellschaft ist darauf schlecht vorbereitet. Im Gespräch mit Harry Fuchs und Thomas Sturm vom Konstanzer Stadtseniorenrat geht es um Chancen und Herausforderungen für ältere Menschen in einer Umgebung, in der für sie weniger Platz als für frühere Generationen ist.
Teil 2, Teil 1 finden Sie hier
seemoz: Die Teilnahme am Verkehr hält für ältere Menschen ganz andere Herausforderungen bereit als für jüngere.
Harry Fuchs: Wir sind, um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen, keineswegs gegen das Radfahren, sondern haben auch zahlreiche Radfahrer in unseren Reihen. Es geht uns vielmehr um etwas anderes: Die Radwege sind ja irgendwann nachträglich in die Stadt reingepflanzt worden. Sie sind also für die Fußgänger nicht gut, sie sind für die Radfahrer nicht gut, und sie sind auch für die Autofahrer blöd. Aus dieser Situation sind Konflikte entstanden. Mit etwas mehr Gesamtplanung hätte sich da wesentlich mehr erreichen lassen, außer an neuralgischen Punkten in der historischen Innenstadt vielleicht.
seemoz: Berüchtigt ist ja die Stelle vor Theater und Insel-Hotel.
Harry Fuchs: Die einzige Lösung wäre es gewesen, die Autos nur in eine Richtung fahren zu lassen.
seemoz: Sagen Sie das mal den Busfahrer*innen, der Feuerwehr oder den Lieferdiensten, dann werden Sie gelyncht. Sind das Problem vielleicht eher die 10 Prozent der Verkehrsteilnehmer auf allen Seiten, die sich nicht benehmen können oder wollen? Die benehmen sich auf dem Fahrrad als Rabauken, führen sich hinter dem Steuer eines Autos wie wahnsinnig auf und nehmen auch als Fußgänger keine Rücksicht.
Thomas Sturm: Ich wohne an der Fahrradstraße und kann jeden Tag beobachten, dass ein Teil der Radfahrenden einfach Anarchos sind. Speziell die Gruppe der 25- bis 40-jährigen Männer, die auf dem Rennrad sitzen, haben scheint‘s eine eingebaute Vorfahrt und schreien gern Fußgänger und langsamere Radler an, speziell auf der Fahrradbrücke. Oder die Mütter halten mit ihrem Kinderanhänger mitten auf der Brücke und beginnen einen Plausch mit ihren Freunden, die gerade vorbeikommen.
Harry Fuchs: Radfahrer denken nicht wie jemand, der ein Auto steuert, sondern sie denken wie Fußgänger. Sie sehen sich einfach als besonders schnelle Fußgänger. Wir werden all diese Probleme wohl nicht so schnell lösen können, sondern das muss sich über eine neue Disziplin im Straßenverkehr mit der Zeit von selbst einstellen. In anderen Städten funktioniert ein Miteinander im Verkehr, und irgendwann werden wir in Konstanz das auch noch lernen.
Thomas Sturm: Mir wurde zum Beispiel erzählt, dass in Münster, der Radstadt par excellence, ein ganz anderer Umgang miteinander herrscht. Man ist dort nicht der Drängler, der auf Teufel komm raus seine persönliche Bestzeit unterbieten muss.
Harry Fuchs: Dazu kommt noch ein weiteres Thema, das heute noch nicht so richtig sichtbar ist, aber in Zukunft eine große Rolle spielen wird. Das ist die zunehmende Zahl und Geschwindigkeit der Elektrofahrzeuge. Ich habe noch nie so viele und so schnelle Elektrorollstühle gesehen wie in letzter Zeit, und die fahren natürlich auch auf den Radwegen statt auf der Straße oder den Gehwegen. Das Problem ist, dass Sie das Verhalten der Elektrorollstühle als Radfahrer nicht richtig einschätzen können.
Mein Bruder beispielsweise ist, wenn sich eine Gefahr von hinten näherte, mit seinem Rollstuhl nicht ausgewichen, sondern hat schlagartig angehalten. Das ist eine Situation, die kein Radfahrer erwarten würde. Viele dieser Rollstuhlfahrer sind ja auch kognitiv nicht mehr so gut. Da müssen wir überlegen, wie wir solche Probleme in Zukunft vermeiden können. Das ist sicher nicht einfach und verändert die Lage auch für die Radfahrer ganz gewaltig.
seemoz: Auch die zunehmende Zahl an schnellen E-Bikes oder Pedelecs, die natürlich dauernd überholen wollen, macht selbst einen relativ komfortablen Radweg wie den entlang der Bahn in Richtung Allensbach heute schon an vielen Stellen deutlich zu schmal.
Harry Fuchs: Auch das ist sicher ein wichtiges Zukunftsthema. Aber es gibt drängendere Themen, denen wir uns widmen wollen. Wir möchten zum Beispiel in die Bevölkerung tragen, dass die Menschen ab 50 rechtzeitig an ihr Alter denken müssen. Heute haben wir nicht mehr die Kinder, die ihre Eltern daheim versorgen können. Wenn man dann die 70 oder die 80 erreicht, merkt man, dass langsam nicht mehr alles so geht, wie man sich das früher mal vorgestellt hat. Heute sind viele der 70-jährigen, verglichen mit früher, noch immer sehr fit. Aber auch in dieser Altersgruppe sind schon die ersten dabei, die nicht mehr so gut laufen können. Das ist für uns ein Schwerpunktthema, und die Stadt ist dieses Thema ja dankenswerterweise mit ihrem Handlungsprogramm „Pflege & mehr“ offensiv angegangen.
Thomas Sturm: Wir werden in Zukunft wesentlich mehr 70-jährige haben, als es heute der Fall ist. Und es werden immer mehr Menschen in eine Krankheitssituation geraten, in der sie Hilfe brauchen. Darauf ist unsere Gesellschaft aber nicht vorbereitet. Die Zahl der Pflegeheime wird auf keinen Fall ausreichen. Wir haben inzwischen auch mit zwei Pflegeheimbetreibern gesprochen, die beide ganz klar sagen, dass sie in Zukunft keine neuen Pflegeheime mehr errichten werden.
seemoz: Warum?
Harry Fuchs: Das hat zwei Gründe. Erstens dauert das Planungs- und Genehmigungsverfahren mindestens zehn Jahre, und zweitens finden Pflegeheimbetreiber heute kein Personal mehr. Da sich die Gruppe derjenigen, die pflegebedürftig sind, ab den 2040er Jahren wieder vermindern wird, macht es aus Sicht der Betreiber überhaupt keinen Sinn, heute langfristig zu investieren. Für die kurze Zeit bis dahin ist das für sie nicht rentabel genug.
Eins zeichnet sich ganz klar ab: Wir müssen in Zukunft wieder auf das setzen, was früher in den Ortschaften das Quartier war. Wir müssen die Quartiersbildung und die Nachbarschaftsbindung wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Wir müssen uns einfach gegenseitig wesentlich mehr helfen und wieder mehr Gemeinsinn entwickeln. Wir werden nicht mehr damit auskommen, alles auf den Staat zu verlagern.
seemoz: Der Aufruf zu mehr Gemeinsinn könnte aber auch ein plumper Versuch der öffentlichen Hände sein, sich aus der Finanzierung sozialer Aufgaben davonzustehlen.
Harry Fuchs: Jein. Mit Geld allein können Sie diese Aufgaben angesichts der explodierenden Kosten nicht mehr schultern. Schon heute kann ein Heimplatz an die 5000 Euro pro Monat kosten, während die Pflegeversicherung nur 2000 Euro zahlt. Damit bleiben 3000 Euro bei jedem einzelnen Heimbewohner hängen. Nun kann man natürlich sagen, wir machen dafür ein Umlageverfahren wie bei den Schulen, die ja von der Allgemeinheit, also auch von den Menschen, die keine Kinder haben, finanziert werden. Aber selbst dann blieben immer noch hohe Beträge bei jedem Einzelnen hängen. Dazu kommt, dass mit dem demographischen Wandel auch die Altersarmut weiter zunimmt. Viele Leute können sich schlichtweg als Rentner 2000 Euro pro Monat für ihre Pflege nicht leisten und rutschen dann ganz schnell in die Sozialhilfe ab.
Thomas Sturm: Niemand sollte sich die Illusion machen, er könne sich später eine 24-Stunden-Pflege privat einkaufen oder gar im eigenen Umfeld organisieren. Das sind unmögliche Arbeitsbedingungen, niemand kann eine andere Person rund um die Uhr pflegen. Wir warnen die Menschen immer wieder, dass das mit der Unterstützung nicht von allein läuft. Ich wohne im dicht besiedelten Paradies und bin dort doch, wenn ich es richtig überlege, ziemlich allein. Wenn ich eines Tages Hilfe brauche, dann gibt es vielleicht eine Handvoll Menschen, die ab und zu mal etwas für mich zu tun bereit sind, und es ist nicht ganz einfach, das auch zu organisieren.
Harry Fuchs: Was passiert, wenn wir in ein paar Jahren nicht mehr alle Bedürftigen in Pflegeheimen unterbringen können? Ich habe es bei meinem Bruder geschafft, ihm den Hintern zu putzen, aber bei meiner Nachbarin könnte ich das nicht.
Das Gespräch führte Harald Borges, die Fotos stellte der Stadtseniorenrat zur Verfügung.
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