
Im ersten Teil seines Beitrags über die laufenden Koalitionsverhandlungen beschrieb Franz Segbers den enormen Druck, den viele Ökonom:innen derzeit auf die Politik ausüben. Ihr Credo: Die Armen müssen den Gürtel enger schnallen. Oder sollen etwa die Reichen die Aufrüstung finanzieren?
Für die staatliche Haushaltfinanzierung stehen grundsätzlich drei Wege zur Verfügung: Steuern erhöhen, Schulden anhäufen oder Ausgaben kürzen. Vergangene Woche hat sich die Politik für den Schuldenweg entschieden: Sie schuf ein Sondervermögen für Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro, nimmt künftig Militärausgaben oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von der Schuldenbremse aus – und ermöglichte damit eine grenzenlosen Aufrüstung.
Sondervermögen ist eigentlich das falsche Wort, denn es geht um Schulden. Aber belasten diese Schulden, wie behauptet wird, zukünftige Generationen, also die Kinder und Enkel? Das ist ökonomisch unzutreffend, ein Mythos. Denn die Verschuldung findet nicht auf Kosten zukünftiger Generationen statt. Staatsschulden führen nicht zur Umverteilung zwischen den Generationen, sondern innerhalb einer Generation und zwar zwischen der jetzt reichen, vermögenden Klasse und der Gesamtbevölkerung.
Staatsverschuldung bedeutet, dass die Vermögenden, denen der Staat zuvor die Steuern gesenkt hatte, dem Staat Geld leihen, indem sie Staatsanleihen kaufen und dafür Zinsen kassieren. Für sie sind die verliehenen Gelder sich vermehrendes Finanzkapital. Anders lässt sich ihr Vermögen nicht vermehren. Die Zinsen und der Darlehensbetrag stammen dabei aus dem Steueraufkommen, das von der breiten Masse der Steuerzahler:innen stammt.

Und es sind nicht etwa die Reichen, die am meisten Steuern zahlen: Zweidrittel des gesamten Steueraufkommens kommt von Bürger:innen mit einem Jahreseinkommen von bis zu 70.000 Euro. Die überreichen Haushalte mit Einkommen über 200.000 Euro tragen nur 5,7 Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei.
Schulden und Vermögen sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Beobachter gehen davon aus, dass sich der Schuldendienst des Bundes – also die Summe der Zinsen, die der Staat jährlich für die Kredite entrichten muss – auf über 50 Milliarden Euro erhöhen könnte, mithin auf zehn Prozent des Bundeshaushalts. Dieser Schuldendienst entspricht dem Haushalt der Ministerien für Verkehr, Gesundheit, Familie und Bildung. Verschuldung ist eine gigantische Umverteilung zu Gunsten der Vermögensklasse und zu Lasten der Gesamtgesellschaft.
Mit Keynes auf 99,25 Prozent
Ökonomisch gesehen können mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt werden, wenn sie politisch gewollt sind. Ein Sachzwang „Bomben oder Kitas“ besteht nur, wenn die Verteilungsverhältnisse nicht angetastet werden. Das ist aber genau der Elefant im Raum, der geflissentlich übersehen wird. Da der Staat keinen Konflikt mit den Vermögenden wagt, wird Druck auf den Sozialsektor ausgeübt, genauer auf die Bürgergeldbezieher:innen, auf Migranten und Flüchtlinge und alle, die ein sozial abgesichertes Leben führen wollen und dafür ihr Recht auf Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
Der wohl bekannteste ökonomische Beitrag zur Finanzierung von Rüstungsausgaben stammt von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Als sich die britische Regierung auf einen möglichen Angriff der Deutschen Wehrmacht vorbereitete, beantwortete er im Jahr 1940 in einer kleinen Schrift die Frage „How to Pay for the War?“ („wie für den Krieg zahlen?“). Seine Antwort: Damit die Finanzierung gerecht und fair erfolgen könne, ist eine drastische Steuererhöhung für Reiche unumgänglich. In der Tat wurde damals in Britannien ein Spitzensteuersatz von 99,25 Prozent eingeführt. Er verblieb bis in die späten 1970er Jahre bei etwa 95 Prozent.
Nötig wäre es, den Rat von John M. Keynes auch heute zu befolgen und die Einnahmeseite auf seine Weise zu verbessern. Wer eine Aufrüstung will, der muss auch bereit sein, die Vermögenssteuer wieder einzuführen, Erbschaften fair zu besteuern und andere Abgaben zu erheben.
Hin zum national-autoritären Sozialstaat?
Als Westdeutschland im Jahr 1957 die jetzige Form des umlagefinanzierten Rentensystems einführte, lagen die Rüstungsausgaben bei 4,1 Prozent des Bruttosozialprodukts. Der hohe Rüstungsetat und der Ausbau des Sozialstaats wurden bis zur neoliberalen Wende in den 80er Jahren durch eine Vermögenssteuer und einen Spitzensteuersatz in Höhe von 56 Prozent finanziert.
Da derzeit aber niemand auf den Rat von Keynes hören will, folgt der ausgerufenen militärpolitischen Zeitenwende zwangsläufig aber auch eine sozialpolitische Zeitenwende – bei der die sozialen Rechte der Menschen, aber auch Fragen der Klimagerechtigkeit auf der Strecke bleiben.

Die CDU glaubt, beim Bürgergeld 10 Milliarden Euro kürzen zu können. Völlig faktenfrei wird behauptet, dass etwa 100.000 Bürgergeldbezieher:innen nicht arbeitswillig seien und ihnen deshalb die Leistung entzogen werden sollten. Dabei stehen von den über 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld (das frühere Hartz IV) erhalten, knapp 4 Millionen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung: Weil sie zu jung sind (unter 15 Jahren), weil sie krank sind, weil sie Angehörige pflegen oder weil sie bereits arbeitsmarkt-politische Maßnahmen absolvieren.
Fast 800.000 Lohnabhängige verdienen außerdem so wenig, dass sie ergänzend Bürgergeld benötigen, um ihr Existenzminimum halbwegs zu sichern. Es gibt nur etwa 1400 Totalverweigerer. Das sind 0,4 Prozent aller Bürgergeldbezieher:innen und eine so kleine Gruppe, dass die Bundesanstalt für Arbeit für sie keine eigene Rubrik in der Statistik aufweist.
Verarmung per Gesetz
Wenn die CDU mit einer neuen Grundsicherung einen zweistelligen Milliardenbetrag „kürzen“ will, müsste die Zahl der Empfänger:innen rechnerisch um etwa 25 Prozent sinken, etwa 1,4 Millionen Personen. Die CDU diskutiert darüber, ob die Armen nicht doch vielleicht zu viel Geld im Bürgergeldsystem hätten und ob eine Totalsanktionierung zur Disziplinierung der Armen unumgänglich wäre.
Die CDU sollte sich in Fachdebatten kundig machen: Diakonie und der Paritätische Wohlfahrtsverband DPWV haben in Studien immer wieder dargelegt, dass nicht ein Absenkung der Regelsätze, sondern eine monatliche Erhöhung um bis zu 180 Euro armutspolitisch und auch verfassungsrechtlich geboten sind.
Die Leistungen für Asylbewerber:innen sinken seit Januar 2025. Anders als bei den Bürgergeld-Regelsätzen gibt es für die Asylbewerberleistungen keinen Bestandsschutz. Sie liegen derzeit um etwa 22 Prozent niedriger. Diese Leistungen garantieren nicht das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum. Sie sind Verarmung per Gesetz.
Noch eine Grundgesetzänderung?
Die neoliberalen Verächter des Sozialstaates verfolgen die Absicht, im Windschatten der Aufrüstung einen anderen Sozialstaat zu schaffen. Einen, der nur noch die unterstützt, die nützlich und produktiv sind. Indem Ressentiments gegen finanziell Arme und Schwache geschürt werden, soll ausgetestet werden, ob die Gesellschaft Kürzungen im Sozialsektor ohne Widerspruch hinnimmt.

Die Kürzungsmaßnahmen sollen den bisherigen Sozialstaat mit seinen Rechten für alle in einen national-autoritären Sozialstaat verwandeln. National ist der neue Sozialstaat, weil er Leistungen nicht für alle vorsieht, sondern nach ethnisch-nationalen Kriterien unterscheidet. Wer kein:e Deutsche:r ist, kann nicht mehr mit der vollen Solidarität rechnen. Autoritär ist der neue Sozialstaat, weil er seine Leistungen nicht nach Hilfebedürftigkeit zuteilt, sondern mit sanktionierender Bestrafung verknüpft.
Hier lautet die Prämisse: Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Sozialstaatliche Leistungen sind kein Recht mehr, sondern verlangen eine Gegenleistung. Da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur wenig Spielraum für eine flächendeckende und rechtssichere Leistungsabsenkung lässt, hat der Konstanzer Juraprofessor Daniel Thym in einem Gutachten für die CDU eine „klarstellende Grundgesetzänderung“ als einzigen Weg gesehen, um Leistungskürzungen für Geflüchtete, beim Bürgergeld und in der Kindergrundsicherung rechtssicher durchsetzen zu können.
Eine zivilisierte Gesellschaft kostet
Die Ausmaß dieses Angriffs auf den Sozialstaat wird ersichtlich, wenn die verfassungsrechtlich garantierten Grundprinzipien des Sozialstaats in Erinnerung gerufen werden: Der vom Grundgesetz her konzipierte Sozialstaat sorgt dafür, dass alle, auch die ohne Arbeit, Bürger und Bürgerin sein können. Ein Recht auf Existenzsicherung hat man, weil es ein Recht auf Leben gibt.
Deshalb ist der Sozialstaat Ausdruck des Menschenwürdeartikels des Grundgesetzes. Er sorgt dafür, dass Menschen sozial abgesichert leben können und er bekämpft die soziale Spaltung der Gesellschaft. Er ist ein Schlüssel für eine humane, friedliche und demokratische gesellschaftliche Entwicklung der Gesellschaft.
Sehr viele Menschen haben in den letzten Jahren Wohlstand und soziale Sicherheit verloren. Deshalb ist ein soziales Investitionsprogramm für den öffentlichen Wohnungsbau ebenso überfällig wie der Ausbau von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, eine bessere Alterssicherung von Geringverdienenden sowie die überfällige Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut, Langzeitarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit.
Der Sozialstaat ist ein Steuerstaat. Er hat nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1967 die Aufgabe, eine „gerechte Sozialordnung“ zu schaffen und „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen“. Die sozialen Rechte stehen deshalb nicht in einer Konkurrenz zu Kanonen und Bombern. Der Sozialstaat ist ein verfassungsrechtlich prioritäres Staatsziel, nicht aber die milliardenschwere Aufrüstung zu Lasten des Sozialsektors. Eine Aufrüstung ohne soziale Balance gefährdet die Demokratie.
Ein Konjunkturprogramm für die AfD?
Umfragen zeigen, dass die Demokratieverächter:innen in der AfD ihre Stimmen von Wähler:innen bekommen haben, die sich um ihren Lebensstandard, ihre soziale Sicherheit und die Zukunft sorgen. Und ihre Sorgen sind berechtigt. Damit die gigantische Verschuldung für die Hochrüstung nicht zu einem Konjunkturprogramm für die AfD wird, braucht es eine soziale Grundlegung. Die Vermögenden, die in der Vergangenheit so überreich geschont und privilegiert worden sind, müssen zurückerstatten.
Das Grundgesetz enthält mit dem Friedensgebot ein Verfassungsziel. Doch anders als das Rechts- und das Sozialstaatsgebot wurde es juristisch weder ausgestaltet noch konkretisiert. Das Friedensgebot setzt der Rüstungspolitik und militärischen Sicherheitspolitik klare verfassungsrechtliche Schranken und ist nach dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags „als Pflicht zur aktiven Friedenspolitik mit normativem Gehalt zu verstehen“.

Angesichts der neoliberalen Bedrohung der sozialen Rechte in Zeiten der Aufrüstung müssen die Gerechtigkeitsbewegung und die Friedensbewegung zusammenfinden. Es ist ein gemeinsamer Kampf für einen rechtebasierten Sozialstaat für alle und gegen die Militarisierung der Gesellschaft, gegen den Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes und für die Verteidigung der sozialen Rechte der Bürger:innen.
Verloren oder gewonnen wird dieser Kampf auf dem Feld der Sozialpolitik. Nicht nur Sicherheitspolitik, auch Sozialpolitik muss endlich zu einem Thema der Friedensbewegung werden. Deshalb kann das Motto nur lauten: Keine Bomben. Sondern: Brot für alle!
Text: Franz Segbers. Mehr Informationen zum Autor finden sich im ersten Teil des Beitrags.
Bilder: Mike Hansen, Andrew Khoroshavin, Frantisek Krecji, Igor Link und andere – allesamt auf Pixabay
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