Spring Und Cousins 1943 In La Cure An Der Grenze © Familienarchiv Joseph Spring

Ausgeliefert und zurückgekehrt

Spring Und Cousins 1943 In La Cure An Der Grenze © Familienarchiv Joseph Spring
Joseph Spring und seine zwei Cousins 1943 in La Cure kurz vor dem Grenzübertritt

Vor knapp drei Wochen starb in Australien Joseph Spring im Alter von 97 Jahren. Der gebürtige Berliner war 1943 aus Frankreich in die Schweiz geflüchtet, wurde an der Grenze gefasst und an Nazideutschland ausgeliefert, das ihn nach Auschwitz deportierte. Viele Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück und verklagte die Eidgenossenschaft.

Es ist 25 Jahre her, seit Joseph Spring in Lausanne vor dem Bundesgericht stand, am 21. Januar 2000, kurz nach seinem 73. Geburtstag, 55 Jahre und drei Tage nachdem er aus dem Vernichtungslager Auschwitz gejagt und auf einen Todesmarsch nach Gleiwitz geschickt worden war. Damals hatte er bereits die Kanonen der Roten Armee gehört, er sah den Widerschein der Artillerie am Himmel. Doch die SS-Leute trieben die Gefangenen über die deutsche Grenze zurück ins „Dritte Reich“. Wer müde war oder stürzte, wurde am Strassenrand erschossen.

Von Gleiwitz ließen die Nazis einen Teil der Gefangenen auf offenen Güterwagen bei tiefen Minustemperaturen nach Mauthausen in Österreich transportieren, von dort wieder zurück in ein Außenlager des KZ Mittelbau-Dora im Harz, wo Spring gegen Kriegsende als Sklavenarbeiter unterirdische Stollen für Rüstungsbetriebe grub. Auf einem zweiten Todesmarsch gelang es ihm, sich zu befreien, indem er nachts unter einen Kartoffelhaufen kroch. Am nächsten Morgen kamen die Amerikaner. Es war der 12. April 1945 in der Ortschaft Biere bei Magdeburg. Wir haben das Dorf viele Jahre später zusammen besucht.

Die Auslieferung

Joseph Spring ist am 8. Januar in Melbourne gestorben, beinahe 98 Jahre alt. Mit der Schweiz verband ihn, dass er am 23. November 1943 im Waadtländer Jura von Schweizer Grenzwächtern der Gestapo übergeben wurde. Er war damals 16 Jahre alt, hatte perfekt gefälschte „arische“ Papiere und kam mit zwei Cousins über die Grenze, Sylver und Henri Henenberg, die weniger perfekte Papiere besassen. Sylver war 14, Henri 22 und tuberkulosekrank. 

Bei den Schweizer Grenzwächtern wiesen sich die drei Burschen als Juden aus in der Meinung, sie seien nun gerettet. Doch die Schweizer jagten sie zurück, und als sie wiederkamen, übergab man sie der Gestapo – in Handschellen und zusammen mit ihren echten Papieren, die sie als Juden bezeichneten. Im Spätherbst 1943 wussten Schweizer Behörden recht genau, was mit Jüdinnen und Juden im deutschen Einflussbereich geschah. In Bern kannten sie sogar die Verbrennungskapazitäten der Krematorien von Auschwitz.

Joseph Spring hiess damals noch Sprung. Den Namen hat er erst nach dem Krieg geändert. Mit der Schweiz verband Joseph Spring viele Jahre später auch jener Prozess vor dem Bundesgericht vom Januar 2000, in dem er eine Wiedergutmachung forderte und verlor. Ferner verbanden ihn Freundschaften mit Leuten in der Schweiz, die ihm bei seiner Klage halfen. Mit dem St. Galler Politiker Paul Rechsteiner, der ihn als Anwalt beriet und vertrat. Mit mir, der als Historiker wissenschaftliche Beweise für seine Geschichte fand.

Schier unerträgliche Geschichten

Damals im November 1943 waren die drei der Gestapo ausgelieferten Burschen ins Sammellager Drancy bei Paris gebracht worden, von dort weiter nach Auschwitz. Die zwei Cousins, der minderjährige Sylver und der tuberkulosekranke Henri, starben gleich nach der Ankunft in der Gaskammer. Joseph Spring überlebte wie durch ein Wunder. 

Er kam ins Lager Auschwitz-Monowitz, wo die I. G. Farben mit Zwangsarbeitern eine chemische Fabrik aufbaute. Ein älterer Häftling, der als Schreiber im Büro arbeitete, liess den jungen Joseph das Handwerk des Schweißens lernen, damit er für die SS etwas nützlicher wurde. Er gab ihm Tipps für ein unauffälliges Verhalten und sorgte dafür, dass der Junge regelmässig zusätzliches Essen bekam. In langen Interviews hat mir Joseph Spring diese Zeit im Lager Auschwitz-Monowitz, auch „Buna“ genannt, minutiös und mit fast unerträglicher Intensität beschrieben.

Die Rückkehr

1946 wanderte Joseph Spring, der 1927 in Berlin geboren und dort mit Mutter und Bruder aufgewachsen war, nach Australien aus. Er lernte den Beruf eines Edelsteinsetzers. In den fünfziger Jahren ging er auf eine Weltreise, traf in Israel eine Frau, Ava Eisenberg, und machte ihr nach einer Woche einen Heiratsantrag. Sie bauten ein Haus in Melbourne, zogen zwei Söhne auf, die heute längst Väter sind. 

Später gründete Ava mit Joe zusammen ein kleines, sehr exklusives Reisebüro, das florierte. Den Söhnen erzählte Spring zunächst nur wenig von Auschwitz. Er fand, das sei für sie nicht interessant. Inzwischen hatte er auch aufgehört, im Schlaf zu schreien. Er fing damit, wie Ava Spring erzählte, erst wieder an, als er mir die Interviews über seine Geschichte gab.

Dass wir uns kennenlernten, hatte mit einem anderen Wiedergutmachungsfall zu tun. 1997 musste sich die Regierung von Basel-Stadt beim ehemaligen jüdischen Flüchtling Eli Carmel entschuldigen und ihn symbolisch entschädigen, weil dieser 1939 illegal der Gestapo übergeben worden war: Carmel überlebte das KZ Sachsenhausen und eine jahrelange Flucht mit seinen Eltern quer durch das besetzte Europa. 1996 las er in Israel von der Rehabilitation des St. Galler Flüchtlingshelfers Paul Grüninger und wandte sich an Paul Rechsteiner, den Anwalt von Grüningers Nachkommen.

Dass Carmel im Sommer 1997 als erster jüdischer Flüchtling von der Schweiz für seine Ausschaffung eine Genugtuung bekam, ging durch die Medien. Spring, von einem Freund auf den Fall hingewiesen, schrieb ebenfalls nach St. Gallen, und sein Dossier landete – wie zuvor jenes von Carmel – zur historischen Abklärung auf meinem Pult in der WOZ-Redaktion.

Die Unabhängige Expertenkommission

Springs Prozess vor dem Bundesgericht war ein Regierungsbeschluss vorausgegangen, die geforderte Genugtuung von symbolischen 100.000 Franken abzulehnen. Die Regierung entschied darüber im Juni 1998 denkbar knapp mit vier zu drei Stimmen. Ein paar Monate zuvor hatte der Bundesrat [die eidgenössische Regierung, d. Red.] eine ähnliche Forderung des ehemaligen Flüchtlings Charles Sonabend zurückgewiesen, der 1942 mit seiner Familie ebenfalls zu den Nazis abgeschoben worden war; die Eltern starben in Auschwitz, Charles und seine Schwester Sabine überlebten versteckt in Frankreich.

1998 befand sich die Schweiz mitten in der Krise um die sogenannten nachrichtenlosen Vermögen, einer historischen Kontroverse um Guthaben von Shoah-Opfern, die von Schweizer Banken nach dem Krieg einfach einbehalten worden waren. Aus den Ansprüchen der überlebenden Nachkommen entstand eine allgemeine Debatte zur Rolle der Schweiz im Nationalsozialismus. Schliesslich setzte das Parlament eine „Unabhängige Expertenkommission Schweiz–Zweiter Weltkrieg“ ein – nach ihrem Präsidenten Jean-François Bergier meist als „Bergier-Kommission“ bezeichnet –, mit dem Auftrag, die Epoche noch einmal zu untersuchen. 

Auch vor dem Hintergrund dieser breit angelegten Vergangenheitsdebatte erregten die Geschichten von Eli Carmel, den Geschwistern Sonabend und Joseph Spring weit über die Landesgrenzen hinaus große Aufmerksamkeit.

Rechsteiners Plädoyer

Das Bundesgericht tagte im Januar 2000 öffentlich. Wie in einer Theateraufführung sassen vier Richter und eine Richterin auf ihrem hohen Podest in einem düsteren, klassizistisch verzierten Saal. Der Kläger, seine Familie, sein Anwalt, die Rechtsvertreterin des Bundes sowie ein großes Publikum schauten zu ihnen hinauf. Anwalt Rechsteiner plädierte. Er sagte, in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaats seit 1848 hätten die Schweizer Behörden nie einer Person grösseres Unrecht zugefügt. Joseph Spring habe seine Auslieferung nicht wegen, sondern trotz der Schweizer Beamten überlebt. Die Frage sei nun, ob ihm als altem Mann doch noch Gerechtigkeit widerfahre. Das Urteil werde auf jeden Fall in die Geschichte eingehen.

Rechsteiner zitierte den im Dezember 1999 erschienenen Teilbericht der Bergier-Kommission, der unter dem Titel „Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945“ erstmals konsequent versuchte, die antisemitisch motivierte Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen während der Nazizeit aus der Sicht der Opfer, der Flüchtenden selbst, darzustellen. Damit setzte der Bericht auch wissenschaftlich eine Wegmarke. 

Rechsteiner zitierte den israelischen Historiker Saul Friedländer, Mitglied der Bergier-Kommission, der von „Komplizenschaft“ der Schweiz mit den Nazis gesprochen hatte, weil die Schweizer Beamten ja wussten, was mit jemandem wie Joseph Spring geschehen würde. Die Auslieferung von Spring, sagte der Anwalt, erfülle „den Tatbestand der Beihilfe zum Völkermord“.

Nur ihre Pflicht erfüllt?

Nun plädierte die Vertreterin des Finanzdepartements und wies den Vorwurf der (unverjährbaren) Beihilfe zum Völkermord zurück, wobei sie den Begriff etwas veränderte: „Die Schweiz war – im Gegensatz zum Naziregime – keine Kriegspartei und konnte daher kein Kriegsverbrechen begehen.“ Sie warnte, dass bei einem Urteil zugunsten Joseph Springs demnächst Strafverfahren „gegen alte Grenzwächter und Soldaten“ eröffnet werden müssten, die nichts anderes getan hätten, „als ihre Pflicht zu erfüllen“.

Joseph Spring selber erhielt die Gelegenheit zu einer persönlichen Erklärung, in der er den Fall der drei Jungen noch einmal schilderte und sagte: „Die Frage, die ich mir stelle, ist die: In welcher Art haben wir drei den Schweizer Staat durch unsere Grenzüberquerung im November 1943 bedroht? Warum war es für die Schweizer Beamten notwendig, uns zum Tod zu verurteilen?“ Dafür erwarte er Gerechtigkeit: „Gerechtigkeit heisst in meinem Fall, dass es anerkannt wird, dass an mir ein Verbrechen begangen worden ist.“

Die juristischen Argumente beider Seiten waren den Richtern und der Richterin aus den Akten bekannt, das Urteil womöglich schon gemacht. Trotzdem fand eine mehrstündige öffentliche Urteilsberatung statt. Ein Richter aus Uri, der den Prozess als Referent vorbereitet hatte, plädierte auf Ablehnung der Klage. Er bekannte sich dazu, dass er den massgeblichen Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission nicht gelesen hatte, und bezog sich, was die historische Forschung betraf, auf Texte aus den fünfziger Jahren. Die Auslieferung Springs sei legal gewesen, sagte der Richter. Spring sei als Jude, so repetierte der Bundesrichter die Auffassung der Fremdenpolizei von 1942, gar kein „politischer Flüchtling“ gewesen. Spring wurde aber einzig verfolgt, weil er Jude war.

Das Urteil

Nach weiteren Voten entschied das Gericht, dass mit der Übergabe von drei jungen Juden an die Gestapo keine Beihilfe zum Völkermord geleistet worden sei, dass die Frist für andere Rechtsverletzungen abgelaufen sei und die Klagen damit verwirkt seien. Nur der Präsident stimmte für Spring – und wie um das schlechte Gewissen zu dokumentieren, wurden Joseph Spring die von ihm geforderten 100.000 Franken zugesprochen: als Parteientschädigung.

Spring hatte verloren. Das Verbrechen wurde von der Schweiz nicht anerkannt. Nach dem Prozess kehrte er nach Australien zurück, baute dort weiter an dem Haus, das er als geschickter Handwerker für seinen älteren Sohn renovierte. Lebte in Melbourne als freundlicher, sehr witziger und schlagfertiger Herr mit einer eintätowierten Auschwitznummer am Unterarm. 

Mit seiner Frau Ava verkehrte er in einem Milieu, in dem es zahlreiche Leute mit solchen Nummern gab, die sich im warmen Klima auf der anderen Seite der Erde wenigstens ein heiteres Alter gönnten. Drei Wochen nach dem Prozess sass ich bei ihm auf dem Sofa. Wir begannen unsere Interviews und Gespräche noch einmal von vorn, um ein Buch über Joseph Springs Geschichte zu schreiben.

Text: Stefan Keller
Bilder: Josef Spring mit seinen zwei Cousins 1943 kurz vor dem versuchten Grenzübertritt in die Schweiz © Familienarchiv Joseph Spring / Vernichtungslager Auschwitz: Selektion an der Rampe © Wikimedia commons / Joseph Spring in höherem Alter: Website Paul Recdhsteiner.

Stefan Keller war viele Jahre Redakteur der Schweizer Wochenzeitung WOZ (die diesen Beitrag zuerst veröffentlichte) und publizierte 2003 das Buch «Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte“ im Rotpunktverlag, Zürich.

Ein weiterer Nachruf auf Spring steht auf der Website von Paul Rechsteiner.

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