In Deutschland erstarkt die Forderung nach einer atomaren Bewaffnung der EU. Einem Plädoyer des in Berlin recht einflussreichen Publizisten Herfried Münkler, „Europa“ müsse „atomare Fähigkeiten aufbauen“, hat sich jetzt auch der ehemalige deutsche Außenminister Josef Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) angeschlossen: „Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung“, behauptet Fischer.
Begründet wird die Forderung, die von auflagenstarken deutschen Medien verbreitet wird, mit der Einschätzung, im Falle eines Sieges von Donald Trump bei der US-Präsidentenwahl im November sei der „nukleare Schutzschirm“ der Vereinigten Staaten über Europa nicht mehr gesichert; die EU müsse über eine Alternative verfügen. Kontext ist die Aufrüstung gegen Russland, die von der Bundesregierung energisch vorangetrieben wird; zur konventionellen Aufrüstung und zur Propagierung von „Kriegstüchtigkeit“ kommt nun auch das Streben nach einer nuklearen Bewaffnung hinzu. Frankreichs Force de frappe reiche nicht aus, weil man nicht sicher sein könne, ob Paris im Kriegsfalle wirklich dazu bereit sei, „Litauen oder Polen zu schützen“, erklärt Münkler.
Trump und die NATO
Hintergrund der neuen Debatte über die Beschaffung von Atomwaffen sind, so heißt es, Überlegungen, wie sich die US-Politik gegenüber Europa verändern könnte, sollte Donald Trump im November kommenden Jahres erneut zum US-Präsidenten gewählt werden. Dabei wird auf Berichte verwiesen, denen zufolge Trump vorhabe, gegenüber der NATO auf Distanz zu gehen bzw. sie „auf Stand-by“ zu setzen. [1] Aus Trumps politischem Umfeld sind Pläne bekannt, die NATO „schlafen“ zu lassen, das US-Heer aus Europa abzuziehen und das Bündnis allenfalls noch in einem „großen Krieg“ wiederzuerwecken. Für das zentrale US-Interesse, den Machtkampf gegen China zu gewinnen – notfalls auch militärisch –, sei das transatlantische Bündnis nicht wirklich relevant, heißt es ergänzend. Das werde Trump in der Abkehr von der NATO, mit der er schon während seiner ersten Amtszeit geliebäugelt habe, vermutlich noch bestärken. Komme es zu einem militärischen Rückzug der USA aus Europa und womöglich sogar aus der NATO, dann seien die Staaten Europas nicht nur gezwungen, ihre konventionelle Rüstung deutlich in die Höhe zu fahren. Sie müssten außerdem über eine neue atomare Bewaffnung entscheiden, weil der US-Nuklearschirm dann wohl kaum noch greifen werde.
„Atom-Supermacht Europa“
Ein Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der all diese Überlegungen skizziert, weist darauf hin, dass eine vergleichbare Lage bereits nach Trumps Wahlsieg im November 2016 entstand. [2] In diesem Zusammenhang müsse, so heißt es, ein Vorstoß der grauen Eminenz der damaligen polnischen Regierung, Jarosław Kaczyński, vom Februar 2017 gesehen werden. Kaczyński erklärte damals, er würde die Etablierung einer „Atom-Supermacht Europa begrüßen“. [3] Bereits zuvor war in Deutschland über die nukleare Bewaffnung der EU oder auch der Bundesrepublik diskutiert worden (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die Debatte ebbte bald wieder ab; wie es jetzt heißt, waren vor allem NATO-Funktionäre bemüht, sie abzuwürgen, um Trump keinerlei Anlass zum Abzug von US-Truppen aus Europa zu bieten [5] oder auch nur zum Abzug der US-Atombomben, die im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe in mehreren europäischen Staaten stationiert sind, darunter die Bundesrepublik. Die Debatte flammt jetzt allerdings mit Blick auf die Möglichkeit, dass Trump die nächste US-Wahl erneut gewinnt, wieder auf. Wie damals wird sie auch heute wieder vor allem in Deutschland medial befeuert.
„Gemeinsamer Koffer mit rotem Knopf“
Bereits am 14. November äußerte sich in diesem Sinne in einer populären Fernseh-Talkshow ein Kolumnist der Berliner Morgenpost, Hajo Schumacher. Schumacher erklärte, in der Diskussion über den Konflikt mit Russland habe man bislang „das heikelste Thema noch gar nicht angesprochen“: „Wir werden uns fragen müssen: Brauchen wir in Deutschland eigene Atomraketen?“ [6] Ähnlich äußerte sich Ende November der Politikwissenschaftler und einflussreiche Polit-Publizist Herfried Münkler. Münkler verlangte in einem Presseinterview: „Europa muss atomare Fähigkeiten aufbauen“. [7] Zwar besitze Großbritannien „Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe“; doch sei keineswegs garantiert, dass eines der beiden Länder oder gar beide sie einsetzen würden, um etwa „Litauen oder Polen zu schützen“. Münkler forderte explizit: „Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.“
„Atomare Abschreckung“ der EU
Aktuell hat der frühere deutsche Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) nachgelegt. Fischer erklärte am vergangenen Wochenende in einem Interview: „Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen“. Das sei unumgänglich, wenngleich es ihm „überhaupt nicht“ gefalle, erklärte Fischer und zog zur Begründung den Konflikt mit Russland heran: „Solange wir einen Nachbarn Russland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Russland abzuschrecken.“ [8] Außer einer umfassenden konventionellen Aufrüstung, die allerdings „nicht mit Schuldenbremse und ausgeglichenem Haushalten“ möglich sei, sei dabei auch eine nukleare Bewaffnung notwendig. Fischer wurde unter anderem gefragt, ob die Bundesrepublik sich auf nationaler Ebene nuklear bewaffnen solle. „Das ist in der Tat die schwierigste Frage“, erklärte Fischer: „Soll die Bundesrepublik Atomwaffen besitzen? Nein. Europa? Ja.“ „Die EU“, sagte der Grünen-Politiker, „braucht eine eigene atomare Abschreckung.“
Zum Erstschlag bereit
Die neue Atomwaffendebatte führt zu neuen Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris. Hintergrund ist, dass Frankreich als einziger EU-Staat Atomwaffen besitzt. Präsident Emmanuel Macron dringt darauf, das geplante europäische Flugabwehrsystem (European Sky Shield Initiative, ESSI) um eine nukleare Abschreckungskomponente zu erweitern. Da diese nach Lage der Dinge von Frankreich gestellt würde und Paris einen herausragenden Einfluss erlangen würde, lehnt die Bundesregierung die Pläne ab. [9] Französische Politiker betonen unterdessen, man sei im Grundsatz auch bereit, als erster Atomwaffen einzusetzen. „Frankreich sagt nicht, dass es nur einen Zweitschlag in Erwägung zieht“, erklärt Thomas Gassilloud, Vorsitzender im Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung. Gassilloud wurde kürzlich mit der Aussage zitiert, Paris behalte es sich vor, „auch auf konventionelle Angriffe mit einem Erstschlag zu reagieren“. [10]
[1], [2] Thomas Gutschker, Johannes Leithäuser, Michaela Wiegel, Matthias Wyssuwa: Was macht Europa, wenn Trump gewinnt? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 03.12.2023.
[3] Konrad Schuller: „Es gilt, dass Frau Merkel für uns das Beste wäre“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.02.2017.
[4] S. dazu Der Schock als Chance und Griff nach der Bombe.
[5] Thomas Gutschker, Johannes Leithäuser, Michaela Wiegel, Matthias Wyssuwa: Was macht Europa, wenn Trump gewinnt? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 03.12.2023.
[6] Marlen Schubert: Putin: Jetzt wird in Deutschland sogar über dieses Tabu gesprochen. derwesten.de 21.11.2023.
[7] Politologe Herfried Münkler rät Europa zur atomaren Aufrüstung. spiegel.de 29.11.2023.
[8] Joschka Fischer fordert neue Atomwaffen in Europa. spiegel.de 03.12.2023.
[9] S. dazu Die deutsch-französische „Freundschaft“.
[10] Neuer Kurs in Paris. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2023.
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