Die Klimaschützer:innen von der Gruppe Letzte Generation sind inzwischen auf klebstofffreie Protestformen umgestiegen. Wie das geht, zeigte die Blockade des Konstanzer Stephansplatzes am Freitag: Für einmal schaute der Staat nur zu. Das war nicht immer so.
Was bisher geschah: Die aus Konstanz angereiste Klimaaktivistin sitzt wegen einer Straßenaktion in Berlin in Haft, bekommt zwei Mitgefangene in die Zelle geschubst, und denkt an das, was ihr in der Schule über Sophie und Hans Scholl erzählt wurde, die beide 1943 von den Nazis hingerichtet wurden.
Ich muss an Gemeinschaftskunde in der achten oder neunten Klasse denken. Unsere Lehrerin hatte das Grundgesetz an alle ausgeteilt und gefragt, was wir empfinden, wenn wir es in den Händen halten. Damals war es für mich nur ein kleines gelbes Buch. Nichts, wozu ich wirklich eine Beziehung hatte und vom Inhalt her vieles scheinbar so selbstverständlich, dass ich ein bisschen überfordert war mit der Frage.
Heute weiß ich deutlich mehr zu schätzen, dass ich protestieren kann, ohne hingerichtet zu werden. Ohne Angst haben zu müssen, dass meine Angehörigen auch bestraft werden. Dass dort Dinge stehen wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ oder „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ oder das Bekenntnis zu den Menschenrechten.
Alles Dinge, die viele Leute vor uns unter großem Einsatz erkämpft haben. Dinge, die wir gerade im Begriff sind, einfach so wegzuwerfen.
Und warum? Weil wir uns nicht damit beschäftigen wollen, dass uns die Art, wie wir heute leben, unausweichlich in den Abgrund führen wird? Vielleicht auch, weil wir nicht wissen, wie wir das Problem optimal angehen können und deshalb lieber gar nichts machen? Weil uns unser Leben und der aktuelle Alltag wichtiger ist als die Zukunft und das, was mit anderen Lebewesen passiert? Oder was auch immer. Ist doch scheiße.
Es war wahrscheinlich selten so einfach, zu protestieren wie hier und heute.
Wer will das?
Ich setze mich anders hin, weil die harten Kanten der Bank mir auf irgendeinen Nerv drücken und mein Fuß schon wieder anfängt zu kribbeln, bevor ich frustriert weiter vor mich hindenke.
An der Faktenlage gibt es ja nicht viel zu rütteln:
Klimawandel = wenn wir so weitermachen, höchstwahrscheinlich Zusammenbruch unserer Zivilisation und Tod von einem Großteil der heute lebenden Menschen, Pflanzen und Tiere. Auch wenn Letztere gefühlt keinen zu interessieren scheinen. Menschen sind scheiße.
Artensterben = wenn wir so weitermachen, höchstwahrscheinlich Aussterben von den meisten heute auf der Erde lebenden Arten inklusive uns Menschen.
Diese Zukunft kann doch eigentlich keiner ernsthaft wollen. Oder?
Ich denke an unsere Politik. Die Gesellschaft. Die Justiz und die Polizei. Alles voll mit Leuten, die lieber uns beschimpfen, bekämpfen und bestrafen, anstatt gegen jene vorzugehen, die gerade unsere Lebensgrundlagen zerstören.
Das Schweigen der Masse
Ich denke an die ganze Scheiße, die gerade überall auf der Welt passiert, einfach, weil wir Menschen solche Idioten sind. Wir könnten es bestimmt sehr schön haben auf der Erde, wenn wir alle erwachsen und konstruktiv daran arbeiten würden, dass alle ein gutes Leben haben. Tun wir aber nicht. Stattdessen halten irgendwelche Idioten es für eine gute Idee, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, anderen Dinge wegzunehmen, um selber ein noch besseres Leben zu haben als ohnehin schon, und krude Ansichten und Theorien zu verbreiten, die mit Wahrheit immer weniger am Hut haben.
Das ist das wirklich Traurige. Es ist ja nicht so, als könnten wir das nicht ändern. Also prinzipiell. Praktisch scheitert es natürlich wieder an der Bereitschaft einzelner Personen und dem Schweigen der Masse. Warum müssen wir Menschen eigentlich immer alles kaputt machen?
Eine Träne tropft auf meine Hand. Ich habe gar nicht wirklich realisiert, dass ich wieder angefangen habe zu weinen. Elle setzt sich zu mir, legt eine Hand auf meine Schulter und es dauert nicht lange, bis auch sie anfängt zu weinen. Ich weiß nicht warum, aber im Grunde ist es auch nicht so wichtig. Ich lege ihr auch eine Hand auf die Schulter und für eine ganze Weile sitzen wir einfach so da.
Ein Haufen zerknitterter Kleider
Irgendwann ist es wieder besser und ich versuche, ein wenig Schlaf nachzuholen. Ich habe in den letzten drei Tagen zusammengenommen vielleicht sieben Stunden geschlafen, wenn es hoch kommt. Die Latten der Bänke sind aber so eckig, dass es unmöglich ist, eine bequeme Position zu finden. Irgendwo schneidet immer eine Kante in die Hüfte, die Arme, Rippen und Beine. Drückt mir das Blut ab oder quetscht irgendeinen Nerv. Ich kann mir eigentlich nur aussuchen, was mir zuerst einschläft und wo ich lieber rote Striemen von den Druckstellen haben will.
Ich kann absolut nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen ist, als auf einmal kehlige Schmerzensschreie aus dem Innenhof ertönen. Auf jeden Fall weit mehr als die Stunde, die uns von den Polizisten auf der Straße angekündigt worden war. Elle ist sofort auf den Beinen und versucht erfolglos, durch den schmalen Spalt im Fenster zu spähen. Der kehlige Schmerzensschrei bricht abrupt ab und wird bald darauf durch ein schrilles Kreischen abgelöst. Mehrere Polizisten brüllen sich in rauem Ton Befehle zu. Wieder ertönen Schmerzensschreie. Die Aktivist:innen von der Prenzlauer Allee sind da.
Es dauert nicht lange, bis die Tür zu unserer Zelle auffliegt und etwas dumpf auf den Boden fällt. Die Tür ist schon wieder zu, als ich realisiere, dass es sich bei dem Haufen zerknitterter Kleider um ein Mädchen handelt. Für einige Sekunden bleibt sie reglos liegen. Ich will schon aufstehen, um nach ihr zu sehen, als sie sich doch bewegt. Wie in Zeitlupe sieht sie sich um. Tastet mit den Händen ungezielt auf dem Boden herum. Mein Pflegekraftinstinkt meldet sich schon penetrant zu Wort, dass das kein wirklich gutes Zeichen ist, als sie plötzlich eine leicht verbogene Brille unter ihrem Bauch hervorzieht und sich sehr langsam aufsetzt.
Nudelsuppe und Knäckebrot
Sie blinzelt mich an und sieht sich im Raum um. „Alles in Ordnung?“ frage ich. Sie nickt, während sie vorsichtig aufsteht, die Hände an der Hose abklopft und leicht hinkend zwischen mir und Elle Platz nimmt. „Ich bin L. Tut mir leid, wenn ich gerade irgendjemanden getriggert haben sollte. Ich habe mich entschlossen, heute nicht zu kooperieren. Das heißt, dass ich, so lange ich hier bin, nichts essen und trinken werde und mich nicht freiwillig irgendwo hinbewege. Kann gut sein, dass ich noch ein paar mal Schmerzgriffe abbekomme, wenn die Polizei mich zur Haftrichterin bringen will.“ Sie holt tief Luft und sieht uns alle der Reihe nach an: „Wenn ich weine oder schreie, fühlt euch bitte nicht verantwortlich, dazwischen zu gehen. Das hat keinen Sinn.“
Wir nicken und schweigen uns weiter an. I. hat sich hingelegt und den Kopf mit ihrem Pulli zugedeckt. Die Zeit zieht sich. Ich versuche wieder zu schlafen. Ohne Erfolg. Ab und zu gibt es wieder Trubel auf dem Gang. Dazwischen Stille.
Irgendwann kommt ein hochgewachsener Polizist hinein und bietet uns kalte Nudelsuppe im Pappbecher und Knäckebrot an. Ich nehme eine kleine Tüte mit zwei Scheiben Knäckebrot. Es schmeckt besser als erwartet, besteht aber mehr aus Luft als sonst irgendwas. Ich versuche langsam zu essen, um möglichst lange etwas zu tun zu haben.
Die Tür fliegt auf und eine mürrische blonde Polizistin stapft herein und steckt L. ein Blatt Papier hin. „Das hast du jetzt davon“, sagt sie bissig, dreht sich resolut um und verschwindet sofort wieder durch die Tür nach draußen. L. überfliegt den Zettel kurz.
„Was ist das?“ frage ich sie. „Mir wird Teilnahme an einer Straßenblockade mit XR (die Gruppe „Extinction Rebellion“, d. Red.) vorgeworfen.“ Sie faltet den Zettel in der Mitte zusammen und beginnt ihn auseinanderzureißen.
Das Schiff und der Kranich
Elle schüttelt belustigt den Kopf. „Sag mal, die lesen schon Zeitung bei der Polizei, oder? LG ist seit Wochen in Berlin auf der Straße, aber alles, was denen einfällt ist XR?“ L. zuckt mit den Schultern. „Solange sie wenigstens verstanden haben, dass wir wegen dem Klima hier sind.“ Sie reißt die beiden Papierhälften noch einmal entzwei.
„Hier“, sagt sie und streckt sowohl Elle als auch mir ein Viertel hin. Etwas verwundet betrachte ich das Blatt. „Wartet mal ne Sekunde“, sagt L., steht auf und kriecht unter eine Bank am anderen Ende des Raumes. Elle und ich werfen uns einen verwirrten Blick zu, als L. breit grinsend wieder auftaucht. Sie hält zwei winzige Origamifiguren in der Hand. Ein Schiff und einen Kranich. „Die hab ich beim letzten Mal hier gemacht. Eigentlich reinigt die Polizei den Raum regelmäßig, aber mit der Zeit hab ich ein paar Orte gefunden, an denen sie nicht so oft nachschauen. Das ist meine Botschaft an mein späteres Ich und andere Aktivisten. Wenn es mir schlecht geht, dann weiß ich, ich bin nicht allein. Das Schiff steht für unsere Gemeinschaft und dafür, dass wir alle im selben Boot sitzen. Der weiße Kranich ist ein Symbol für die Hoffnung und unseren Traum von einer besseren Welt, in der wir alle in Frieden leben können. Damit wir nie vergessen, warum wir das alles tun.“
Ich blicke zum Fenster, das diesen Namen eigentlich nur so halb verdient, und stelle mir vor, wie ein kleiner Schwarm weißer Papiervögel hinausfliegt und unsere Botschaft in die Welt trägt. Der Gedanke gefällt mir.
Während L. mit geübten Fingern eine winzige Figur nach der anderen herstellt, laufe ich durch den Raum und suche nach Booten und Kranichen. Gemeinschaft und Hoffnung. Tatsächlich finde ich mehr als eine Handvoll davon, jetzt wo ich weiß, worauf ich achten muss.
Text: Eileen Blum von der seemoz-Klimablog-Redaktion
Fotos von der Blockade des Konstanzer Stephanplatzes am vergangenen Freitag: Pit Wuhrer
Die Reihe „Asphaltgeschichten“ wird fortgesetzt.
Bisher sind erschienen:
27.06.2023 | Asphaltgeschichten (1). Die Anreise
03.07.2023 | Asphaltgeschichten (2). Auf der falschen Blockade
10.07.2023 | Asphaltgeschichten (3). „Verknacken Sie diese Arschgeigen!“
31.07.2023 | Asphaltgeschichten (4). „Nicht ganz so allein, wie man sich manchmal fühlt“
03.08.2023 | Asphaltgeschichten (5). „Hoffnung ist Handarbeit“
06.09.2023 | Asphaltgeschichten (6): Das „Weiter so“ bringt uns um
14.09.2023 | Asphaltgeschichten (7): Der Blick in die Augen
30.10.2023 | Asphaltgeschichten (8): Die ungestellte Frage
07.11.2023 | Asphaltgeschichten (9): Im Transporter
10.11.2023 | Asphaltgeschichten (10): Vorgeführt und eingeschlossen
12.04.2024 | Asphaltgeschichten (11): Knastgedanken
Schreiben Sie einen Kommentar