In „Konstanz literarisch“ ist Manfred Bosch der kulturellen Tradition der Stadt über fünf Jahrhunderte hinweg nachgegangen. Seemoz porträtiert in lockerer Folge einige der dort vorgestellten Personen. Im Vordergrund stehen freiheitliche, demokratische und antifaschistische Traditionslinien im 19. und 20. Jahrhundert. An die ins Exil getriebene Schriftstellerin Alice Berend erinnert nur noch das „Schreiberhäusle“.
Bei der Renovierung des Hauses Eichhornstraße 22 wurde 2011 über dem Eingangsbereich ein auffallender, von expressionistischen Farbfeldern gerahmter Schriftzug freigelegt, der lange unter Verputz gelegen hatte. Er lautet „Schreiberhäusle“ und verweist auf die Bauherrin Alice Berend (1875–1938), die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine der auflagenstärksten und populärsten Schriftstellerinnen war. Aufgrund der Kriegsereignisse musste sie 1915 Florenz verlassen und kehrte an ihren Geburtsort Berlin zurück. Als 1919 ihr Sohn Nils-Peter an Tuberkulose erkrankte, lernte sie auf einer Fahrt nach Arosa den Bodensee kennen und schätzen – quasi als Italienersatz. 1920 ließ sie sich zusammen mit ihrem Mann, dem schwedischen Autor John Jönsson, in Konstanz nieder. Ihre erste Adresse war die Gottlieberstraße 23 im Stadtteil Paradies. Im Sommer des Folgejahres reichte sie ein Gesuch für einen Neubau im Landhausstil ein; der Architekt war Joseph Picard. Nach Fertigstellung ließ sich Berend von dem befreundeten Meersburger Maler Waldemar Flaig den Eingangsbereich mit einem später übertünchten literarischen Motiv und dem erwähnten Schriftzug ausschmücken.
KünstlerInnen-Treffpunkt für kurze Zeit
Geboren war Alice Berend in Berlin, wo sie zusammen mit ihrer Schwester, der späteren Ehefrau des Malers Lovis Corinth, zwar begütert aufwuchs, jedoch unter dem unmusischen Klima ihres Elternhauses litt. Mit ersten Romanen wie Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel (1912), Frau Hempels Tochter (1913)oder Die Bräutigame der Babette Bomberling (1915) im renommierten Verlag S. Fischer hatte sie sich bis zum Ersten Weltkrieg den Rang einer anerkannten Autorin erschrieben, deren Stärke im Humoristischen lag. Alsbald wurde das „Schreiberhäusle” zu einem Treffpunkt von Künstlern und Schriftstellern, zu denen neben Waldemar Flaig die Künstlerin Kasia von Szadurska, der Konstanzer Heinrich Ernst Kromer, Willy Münch-Khe sowie der Maler Hans Breinlinger zählten. In diesen verliebte sich Berend, deren Ehe mit Jönsson damals in die Brüche ging. Zusammen mit ihm unternahm sie Reisen, die teilweise den Charakter einer Flucht vor Jönsson hatten; 1926 heirateten sie in London.
Im Bann des Bodensee
Wenn Berends Konstanzer Zeit auch nur knapp fünf Jahre (1920–1925) dauerte, wirkten der Bodensee und seine Atmosphäre doch dauerhaft nach. „Heut komm ich mit einer Bodenseeanfrage“, wandte sie sich im Frühjahr 1931 an den befreundeten Apotheker und Leiter des Konstanzer Rosgartenmuseums Bruno Leiner, „[k]önnen Sie mir Chronik, Kalender oder sonst Historisches senden, das mir dazu verhilft, das Jahr 1859 (zwischen Konstanz und Meersburg insbesondere) wieder lebendig zu machen? Ich schreibe eine romantische Sache, die in diesem Jahr 1859 spielt, ich bin in Gedanken also beständig am Bodensee“.
Die „romantische Sache“ erschien 1932 unter dem Titel Der Kapitän vom Bodensee und galt der Jugend des Grafen Zeppelin. Bereits 1927 war Die goldene Traube erschienen, ein Bodenseeroman aus dem Winzermilieu; und 1934 sollte noch die Jugenderzählung Zwei Kinder fahren den Rhein hinab folgen, die im Konstanzer Malhaus ihren Ausgang nimmt. Anfang 1933 hielt Berend im Maurischen Saal des Hotels Halm eine ihrer letzten Lesungen, bevor sie ins Exil gedrängt wurde. „Ihrem letzten Buch ‚Der Kapitän vom Bodensee‘“, war in der heimischen Presse zu lesen, „dankt der See und insbesondere Konstanz die jüngste und eine der schönsten dichterischen Verklärungen seiner Vergangenheit, seiner Romantik und landschaftlichen Schönheit. Nicht am See geboren, gehört sie ihm von Herzen und durch ein Auge zu, das das Wesen des deutschen Südens in sich aufgenommen und begriffen hat.” (1) In Berlin-Zehlendorf hatte Alice Berend um 1930 erneut gebaut, doch 1933 ging auch ihre Ehe mit Breinlinger zu Ende. Über die Gründe weiß man nichts; dass ihr Mann sich aus opportunistischen Gründen scheiden ließ, wie es gerne kolportiert wird, ist nicht belegt.
Konversion zum Katholizismus
Ihren Berliner Wohnsitz behielt Alice Berend, die evangelisch getauft war, nach den Rassegesetzen der Nazis jedoch als Jüdin galt, zunächst bei, wandte sich 1935 jedoch wieder nach Florenz, das sie in den zwanziger Jahren immer wieder einmal besucht hatte. Aus Schaffhausen, wo sie eine Zeitlang bei ihrer Tochter Carlotta weilte, erfuhr ihr „lieber Freund Leiner“ Anfang 1937 von „ein[em] große[n] Ereignis, dem einschneidendste[n] wohl meines Lebens: Ich habe also alles Vergangene weit hinter mir. […] Im Juli machte ich es endlich zur Wirklichkeit, ich trat in die heil. katholische Kirche ein! Nachdem ich schon sehr lange vorher von geistlicher Seite darauf vorbereitet gewesen. Ich erhielt allein für mich, bei für andere geschlossenen Türen, die heil. Taufe im Baptisterium in Florenz, Tage darauf die Firmelung [!] vom Bischof von Florenz. Dieses und die Busszeit vorher, bringt soweit an die letzten Dinge heran, dass man sich sehr weit entfernt von seinem früheren Ich und dessen Irrtümern. Sie müssen nicht etwa an Frömmelei denken, nur an höheren Glauben und dessen gewaltige Geistigkeit“. Und sie setzte hinzu: „[…] ganz neue Welten taten sich mir auf, in der Geschichte der Kirche, der Menschheit und in der Religionsphilosophie. Wie kurz ist das Leben für alles das. Man wird bang, und zugleich gefestigt, aber ich stehe durch alles in einer Krise meines Schaffens und da steht man allein für sich, und muss sich selbst wieder auf seinen Schaffensweg zurecht zu finden suchen.“(2)
Einsame Jahre in Florenz
Zu diesem Zeitpunkt waren die Lebenskräfte der mittlerweile 62-Jährigen längst angegriffen, auch stand es mit ihren finanziellen Verhältnissen nicht zum Besten. In Deutschland hatte Berend seit 1933 immer weniger veröffentlichen können, sodass sie fast ausschließlich auf Einkünfte von Schweizer Zeitungen angewiesen war. Erbetene Vorschüsse abzuarbeiten fiel ihr immer schwerer. Als die Basler National-Zeitung ihren Roman Spiessbürger zum Vorabdruck angenommen hatte, entschuldigte sie sich bei Redakteur Otto Kleiber für ihre Bitte um Vorabhonorierung: „Ich wollte abwarten, bis der Abdruck begonnen hat, aber mein Portemonnaie weiss nichts mehr von guten Manieren.“ Und im Oktober 1937 berichtete sie ihm von einer Infektionskrankheit, die sie sich in Forte dei Marmi eingefangen hatte und die ihre Lebensenergie „bis zum Äußersten erschöpfte. Erst seit ganz kurzem versucht meine Konstitution zu beweisen, dass sie Reserven hat, vielleicht sogar ausreichende, um mich am Leben zu erhalten.“(3)
Nur ein halbes Jahr später war Alice Berend tot. Dass sie verhungert sei, muss man wohl eher symbolisch verstehen; doch völlig verarmt war sie mit Sicherheit – und vergessen auch. Als sie nach ihrem Tod am 2. April 1938 auf dem Florentiner Cimitero degli allori beigesetzt wurde, nahm vom Ende dieser einstmals berühmten Dichterin kaum jemand Notiz. Im Jahr ihres Todes erschien noch die Buchausgabe ihres Romans Spiessbürger. Den Nachlass übergab Tochter Carlotta einer Freundin zur Aufbewahrung; die Koffer fanden sich nach Kriegsende auf einem Dachboden wieder, durch Dritte bis auf wenige Manuskripte ausgeraubt.
Anmerkungen
1. Konstanzer Zeitung vom 17. Januar 1933.
2. Brief vom 13. Januar 1937 im Nachlass Bruno Leiner, Stadtarchiv Konstanz.
3. Brief im Nachlass Otto Kleiber, Universitätsarchiv Basel.
Die Serie wird fortgesetzt. Zuletzt erschienen die Porträts
– Karl Hüetlin
– Joseph Fickler
– Ignaz Vanotti
– Karl Zogelmann
– Hans und Hermann Venedey
– Friedrich Munding
Text: Manfred Bosch, Abbildungen: Alice Berend, porträtiert von Emil Stumpp (1928), gemeinfrei auf Wikipedia; Foto Schreiberhäusle, © Ilse Friedrich
Weitere Informationen
Zum Autor
Manfred Bosch lebt als Schriftsteller, Literaturhistoriker und Herausgeber in Konstanz. Neben zahlreichen Darstellungen zur südwestdeutschen Zeit- und Literaturgeschichte widmet er sich in Darstellungen (u.a. Bohème am Bodensee. Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil 1997), Herausgaben und Anthologien der neueren Literaturgeschichte des Bodenseeraums.
Zum Buch
Manfred Bosch, Konstanz literarisch. Versuch einer Topografie, UVK Verlag 2019, 351 Seiten, €22,00.
Manfred Boschs literarischer Streifzug durch Konstanz vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht wie bei Darstellungen dieser Art üblich chronologisch oder nach sachbestimmten Aspekten angeordnet. Sein Stadtrundgang beginnt alphabetisch in der „Alfred Wachtel-Straße“ und endet „Zur Friedrichshöhe“. Er nimmt Straßen, Plätze und Gebäude in den Blick, erzählt welche LiteratInnen, PublizistInnen, VerlegerInnen, Kulturschaffende hier gelebt haben oder als Reisende – sei es als Gast oder auf dem Weg ins Exil – die Stadt passiert haben. Er beschreibt geschichtsträchtige Orte wie das ehemalige Dominikanerkloster (Inselhotel), den Kreuzlinger Zoll, die in den 1960er-Jahren gegründete Universität und bietet einen Überblick über Verlage, Bibliotheken, Lesegesellschaften, Theater und Pressewesen der Stadt. Über 600 Namen umfasst allein das Personenregister.
Erschienen ist das Buch in der von Jürgen Klöckler herausgegebenen „Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz“.
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