Demokratierzersetzend, brandgefährlich und erbärmlich verläuft die neue Migrationsdebatte. MIt Pauken und Trompeten nähert sich die politische Mitte der AfD und dem rechten Rand an – nicht nur sprachlich.
Keine deutsche Debatte wiederholt sich so oft und in einer so simplen, aber perfiden Boshaftigkeit, wie die über die Migration. Politische Missstände jeglicher Art werden Migrant:innen zugeschrieben und in einen Topf geworfen. In diesem Topf brodelt nichts Gutes: Ein Rekurs rechter Narrative, die die „das Boot ist voll“-Metapher der 1990er Jahre neu beleben. Dumm nur, dass es nicht mehr die Polemik rechter Pöbler:innen der AfD ist, sondern insbesondere die Parteien der Mitte ins selbe Horn stossen. Begriffe wie „Asylpaket“, „endlich im großen Stil abschieben“, „Massenmigration“, „Flüchtlingsströme“, „zugewanderter Antisemitismus“, „illegale und irreguläre Zuwanderung“ dominieren den Diskurs und die Politik.
Der Deutschlandpakt zur Modernisierung des Landes ist zwar nicht zu verwechseln mit dem „Deutschlandpakt“ von 2005, einer Partei-Fusion der extremen Rechten, der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) und der Deutschen Volksunion (DVU). Eine sprachliche und teils inhaltliche Anlehnung ist dennoch auszumachen, wenn Christian Lindner (FDP) eine totale Streichung von Asylleistungen, Olaf Scholz (SPD) im großen Stil Abschiebungen und Jens Spahn (CDU) mehr physische Gewalt an den Außengrenzen fordert.
Viel Ordnung, wenig Humanität
Das 17-seitige Beschlusspapier (PDF-Download) der Besprechung des Bundeskanzlers mit Regierungschef:innen der Länder vom 6. November 2023 ist Teil des Deutschlandpakts Migration und trägt die Überschrift „Flüchtlingspolitik – Humanität und Ordnung.“ Das Wort „Menschenrecht“ kommt darin nicht vor, „Humanität“ nur in der Überschrift, und Geflüchtete werden fast höhnisch als „irregulär Einreisende“ bezeichnet. Das klingt, als würden Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten mal eben aus Langeweile versuchen, ein bisschen in die Europäische Union einzureisen.
Scholz bezeichnet die Beschlüsse als „historischen Kurswechsel“ in der Migrationspolitik. Der CDU gehen sie nicht weit genug, es sei nicht genug Abschreckung, nicht genug Abschiebung, nicht genug freie Wahl darüber, welche Migranten hier erwünscht seien. Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen hingegen mahnen an, dass inhumane Abschreckungen für Geflüchtete weder Fluchtursachen bekämpfen noch die Flucht von Menschen in Not unterbinden werden.
Neben finanzieller Entlastung der Kommunen durch den Bund sehen die Beschlüsse vor allem Abschreckungs- und Abschottungsmaßnahmen an den außereuropäischen Grenzen vor: „Zuzug“ soll begrenzt werden, Asylverfahren sollen abgekürzt, Rückführungen durch Anreize für die Herkunftsländer gestärkt, Familiennachzug und subsidiärer Schutz gestrichen, Abschiebungen schneller vollzogen und Schleuserkriminalität stärker bekämpft werden. Ergänzend wird besprochen, ob Seenotretter:innen wie Schleuser geahndet und noch stärker kriminalisiert werden sollen. Ferner wollen die Regierenden an den Grenzen mehr kontrollieren und die Arbeit von Frontex ausbauen.
Die Pushbacks der CDU
Finanzielle Entlastungen zeichnen sich durch diese Maßnahmen kaum ab: Flüchtlingsdeals mit autokratischen (und selber Flucht verursachenden) Staaten wie der Türkei sind teuer, ebenso die intensiveren Kontrollen, die Mauern und Zäune – und Frontex sowieso, von immateriellen Schäden ganz abgesehen. So beträgt das Jahresbudget der Grenzagentur Frontex aktuell 845 Millionen Euro, im Gründungsjahr 2005 waren es noch 6 Millionen Euro.
Die europäische Agentur Frontex „für die Grenz- und Küstenwache“ ist auch dafür bekannt, dass sie an den Außengrenzen Menschen illegal und gewaltsam zurückweist, so genannte Pushbacks vollzieht. Sie setzt seit Jahren um, was die CDU (wie zuvor schon die AfD) jetzt als legale Praxis einfordert.
Neben dem bereits praktizierten Outsourcing beim „Schutz“ europäischer Grenzen durch eine pseudomilitärische Agentur sollen künftig auch juristische Asylverfahren ausgelagert werden. Die große Deutschlandpakt-Koalition lässt prüfen, ob eine Verlagerung der Asylanträge in Dritt- und Transitstaaten im Rahmen der Flüchtlingskonvention möglich sei. Eine Praxis, wie sie etwa Großbritannien plante: Die konservative britische Regierung wollte alle Fluchtsuchenden nach Ruanda abschieben, wo sie ein Asylverfahren für Großbritannien durchlaufen sollten – was aber vergangene Woche vom Obersten Gerichtshof untersagt wurde.
Wie Asylverfahren tatsächlich funktionieren, wie viel Abschreckung und Outsourcing bereits besteht, ist allerdings nicht Thema öffentlicher Diskurse. Beispielsweise finden Anhörungen, die über eine Ablehnung entscheiden, nicht etwa vor einem Gericht statt, sondern werden von Mitarbeitenden des allgemeinen, nicht technischen Verwaltungsdienstes des Bundesamts für Migration geführt, den so genannten Entscheider:innen. Die dafür benötigte Qualifikation ist lediglich ein beliebiger Bachelorabschluss, juristische oder psychologische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Un- und Halbwahrheiten
Die geplanten Asylverschärfungen sind ein humanistisches Horrorszenario. Dazu passt die aktuelle Sprachverschärfung – Sachlichkeit, Fakten, Empathie und moralische Verantwortung kommen hingegen nicht zu Wort.
Die CDU markiert ihre Ziele klar und deutlich mit einer zur Volksverhetzung neigenden Rhetorik. Jens Spahn erklärte am 9. November – dem Jahrestag der Reichspogromnacht – in der Talk Show bei Markus Lanz, arabische Menschen trügen in ihrer kulturellen DNA einen tief verankerten Antisemitismus, ferner seien sie homophob und gefährden so unsere offene, pluralistische Gesellschaft (sic!) und Demokratie. Zudem seien es migrantische Menschen, die in ihrer großen Zahl die deutschen Wähler:innen in die Arme der AfD drängten und die Spaltung unserer Gesellschaft zu verantworten hätten. Eigentlich gedenken am 9. November auch Talk Shows den Pogromen gegen jüdische Menschen, hier im Land der Shoah und des rassifizierenden Nationalsozialismus. Spahn hingegen instrumentalisiert die Gelegenheit, um Minderheiten gegeneinander auszuspielen.
Wenn Sprache sprachlos macht
Während CDU, FDP, und zunehmend die SPD längst im populistischen Fahrwasser der AfD schwimmen, gibt es bei den Grünen noch sprachliche Irritationen und das Bedürfnis, die richtigen Worte zu finden. Zumindest bei den baden-württembergischen Grünen: „Es gab an die Pressestelle der Fraktion den Wunsch von einzelnen Abgeordneten, bei diesem Thema ein Wording-Papier zu erhalten. Dem ist die Pressestelle nachgekommen, das Wording ging an die Fraktion zur Orientierung. Die Abgeordneten können darauf zurückgreifen oder auch nicht.“ So eine Stellungnahme der grünen Landtagsabgeordneten Nese Erikli am 10. November auf Anfrage von seemoz.
Mitte Oktober erhielten Landtagsabgeordnete der Grünen per Newsletter einen Formulierungsratgeber mit dem Titel „Eilt: Wording Migration / TV-Interviews“. Das Papier umfasst fünfzig vorformulierte Sätze von grundsätzlichen Positionen der Grünen bis zu Antwortbeispielen auf Fragen wie: „Wie wollen Sie Flüchtlinge schneller abschieben?“
An Allgemeinplätzen mangelt es darin nicht. So steht da beispielsweise als Antwortvorschlag: „Die EU muss handlungsfähiger werden! Durch Steuerung, Ordnung und Regulierung.“ Das grüne Wording liefert auch Wörter wie „Überlastung“, „Flüchtlingsstrom“, „irreguläre Migration“; die Begriffe Menschenrechte und humanitär erwähnt es dagegen kaum. Ob Landtagsabgeordnete der Grünen ein vorgegebenes Wording benötigen, um die richtigen Worte zu finden, oder ob sie es brauchen, um das eigene Denken zu entlasten, ist nicht bekannt.
Brandgefährlich und demokratiezersetzend
Über einen derart unsolidarischen, migrationsfeindlichen und sachverhaltsfremden Diskurs kann sich die AfD nur freuen. Mit ihm verpesten nicht nur Rechtsextreme die Stimmung, entmenschlichen Geflüchtete, normalisieren und legalisieren Gewalt gegen sie und greifen alle migrantischen Menschen in Deutschland an. Bereits im ersten Halbjahr dieses Jahres gab es 80 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und 704 registrierte Angriffe außerhalb ihrer Unterkünfte, das sind vier pro Tag.
Auswirkungen haben solche populistischen Polemiken übrigens auch auf die erwünschte Migration von dringend benötigten Fachkräften – sie führen eher zur Ab- als zur Zuwanderung. Empathielose, rassistische Grundstimmungen einer Gesellschaft und Übergriffe auf nicht deutsch aussehende Menschen sind in der Regel keine Anreize für eine Wahlheimat.
Text und Foto: Abla Chaya
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