Wer kennt das nicht aus der eigenen Volksschulzeit? Da wusste man in der Regel, wer das Hilfsarbeiterkind war, wer als Töchterchen in einem Anwaltshaushalt aufwuchs und dass die Eltern des blöden Schnösels eine Arztpraxis hatten. Doch viel mehr erfuhr man nicht, es interessierte ja auch nicht wirklich. Dabei prägt die Herkunft das ganze Leben – besonders, wenn Diskriminierung damit verbunden ist.
Nadire Biskin beschreibt das Glück, endlich Schlüsselkind zu sein. Der Schlüssel zur Wohnung, den sie stolz wie eine Medaille der Bundesjugendspiele trägt, macht aus dem Kind arbeitsloser türkischer Eltern ein Arbeiterkind in Berlin-Wedding. Trotzdem reicht die Festanstellung der Mutter als Putzfrau zum Leben nicht aus. Martin Becker erzählt von seinem malochenden Vater, Berg- und Metallarbeiter, der zum Überleben seinen Schnaps hatte, und dem nach dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit aber nur ein kaputtes Knie und der Krebs blieb.
Das neu erschienene Buch „Türschwellenkinder“ enthält 26 autobiographische Geschichten. In diesen berichten die aus dem im weitesten Sinne Kultur- und Literaturbetrieb stammenden Autor*innen über ihre (eigenen) Eltern – und deren Arbeit und Arbeitsbedingungen. Die Autor*innen umfassen, soweit erkennbar, nahezu eineinhalb Generationen: der älteste ist 1944 geboren, die jüngste 1987. Sie leben in Deutschland oder Österreich, einige sind auch in unterschiedlichen Lebensaltern eingewandert. Zu vielen finden sich biographische Angaben, zu anderen nur die bisher erschienenen literarischen Werke.
Vom Allgäu bis in den Wedding
Das Buch ist Teil der Veröffentlichungen, in denen sich neue und jüngere Stimmen eindrücklich und parteiisch mit sozialer Ungleichheit, ihrer eigenen Herkunft und vor allem den Diskriminierungen zuwenden, denen sie (und ihre Eltern und andere Verwandte) in ihrem Leben ausgesetzt waren – und immer noch sind.
Das Spektrum der Orte und beschriebenen Berufe ist ebenfalls relativ breit. Es reicht vom Bauernhof und Dorf über das (ostdeutsche) Pfarrhaus oder ein – bald wieder verkauftes – Hotel im Allgäu bis zum Arbeiterbezirk Wedding in Berlin. Am eindrücklichsten sind die Beschreibungen derjenigen, deren Eltern als Arbeiter*innen tätig, miesen Bedingungen ausgesetzt und trotzdem stolz sind: Doris Akrap beschreibt zum Beispiel sehr berührend, weshalb für sie als Kind „Baustelle ein schönes Wort“ war.
Kriegsfolgen und Geschlechterordnung
Vier berichten vom sehr frühen Tod des Vaters, bei anderen hingegen ist dieser bei ihrer Geburt schon (weit) über vierzig Jahre alt. Für viele, gerade die in den 1960ern geborenen Autor*innen, spielen im Rückblick die Kriegsfolgen und die Traumata der eigenen Eltern eine große Rolle.
Die Interpretationen, Perspektiven und rückblickenden Anknüpfungspunkte der heute Schreibenden sind sehr vielfältig, so dass es schwer fällt, diese zusammenzufassen. Jede/r Leser*in wird aufgrund seiner und ihrer Geschichte etwas anderes interessant finden, mit manchem nichts anfangen können. Viele der Texte berichten auch über Großeltern, Nachbar*innen und Geschwistern – und implizit auch immer über die geschlechtliche Ordnung. Mit Aussagen dazu, welche Bedeutung die Eltern – und deren Arbeit – für das eigene Leben haben, halten sich viele auffällig zurück. Dabei wäre es spannend gewesen, dazu noch mehr zu erfahren.
Text: Bernd Hüttner
Dinçer Güçyeter/Wolfgang Schiffer (Hrsg.): „Türschwellenkinder. Über die Arbeit der Eltern“. Eilf Verlag, Nettetal 2023, 248 Seiten, 24 Euro
Schreiben Sie einen Kommentar