Juergen Graesslin

„Zeitenwende der Zeitenwende“!

Ein Kommentar

Juergen Graesslin

Lasst uns die Zeitenwende der Zeitenwende herbeiführen – in Deutschland, in Europa, weltweit! So eine Forderung von Jürgen Grässlin zum Antikriegstag 1. September 2023, Marktplatz Freudenstadt, auf Einladung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der IG-Metall und des SPD Kreisverbandes Freudenstadt. Hier seine Rede im Wortlaut.

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit – historisch gesehen – in ihrer tiefsten existentiellen Krise.Ich nenne pars pro toto einige der dramatischen Fehlentwicklungen:

* Die Klimakatastrophe schreitet nahezu ungebremst voran. Zerstörerische Extremwetterlagen nehmen zu, Südeuropa erlebt in diesem Sommer eine nie gekannte Feuerbrunst, die Mittelmeerregion droht zu versteppen. Die Desertion von Trockensavannen und Halbwüsten zu Wüsten erreicht dramatische Ausmaße. Gletscher und Polkappen schmelzen, der Golfstrom wird seine Richtung verändern. Sukzessive wird ein irreversibler Klima-Kipppunkt nach dem anderen überschritten.

* Die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen zählte 2022 mehr als 108 Millionen Menschen. Sie fliehen vor den Folgen der voranschreitenden Klimakatastrophe und vor der todbringenden Gewalt von Kriegen und Bürgerkriegen. [1]

* Die Militärausgaben der Weltgemeinschaft stiegen 2022 auf unglaubliche 2,2 Billionen US-Dollar. [2] Allein in Deutschland werden unter der Ägide der Ampelkoalition von SPD, GRÜNEN und FDP mehr als 70 Milliarden Euro im Jahr ausgegeben für die weitere Aufrüstung und Militarisierung.

* Drei Tage nach der völkerrechtswidrigen Intervention Russlands in der Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 die sogenannte „Zeitenwende“. Gemeint ist vor allem die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro für die weitere Hochrüstung der Streitkräfte. Damit wird die Bundeswehr – nach den USA, China und Russland – zur viertstärksten Armee der Welt aufsteigen. Zugesagt ist auch die weitere Steigerung der deutschen Militärausgaben für die NATO auf 2% des Bruttoinlandprodukts.

* All das ist Geld aus dem einen Bundeshaushalt. Geld, das fehlt in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Erhalt des Sozialstaats. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Im vermeintlich reichen Deutschland ist jedes fünfte Kind von Armut bedroht.

* Anders als in den Jahrzehnten zuvor gehen von Deutschland viel zu wenig Impulse für den Erhalt und Ausbau des Sozialstaats und kaum noch Impulse für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Friedensverhandlungen aus.

* Stattdessen liefert die NATO mit Deutschland Kriegswaffen in dreistelliger Milliardenhöhe an die Militärs in Kiew. Dabei hat sich Deutschland zur Drehscheibe der Waffenlieferungen des Westens für die Ukraine entwickelt.

* Am bedrohlichsten aber ist die Lage im Bereich der Nuklearwaffen: Die „Doomsday Clock“ – sprich die Atomkriegsuhr – bildet seit 1947 die Minuten eines Tages bis Mitternacht ab. Gemeint ist der Zeitpunkt bis zum Ausbruch eines allesvernichtenden Atomkriegs. Noch nie zeigte die Doomsday Clock einen so eklatant kurzen Zeitraum vor Mitternacht an: gerademal noch 1,5 Minuten. Mit der weltweiten Modernisierung der Atomwaffenarsenale der USA, Russlands, Chinas, Großbritannien und Frankreichs, verbunden mit der russischen Drohung des Atomwaffeneinsatzes im Ukraine-Krieg, steuert die Menschheit zielstrebig auf die Apokalypse zu. [3]

Nein, so kann und darf es nicht weitergehen! Wir alle – in den Gewerkschaften, in den Kirchen, in der Friedensbewegung und in der demokratischen Gesellschaft – müssen diesen dramatischen Fehlsteuerungen mit aller Kraft entgegentreten.

Wir fordern: Diese selbstzerstörerische suizidale Entwicklung muss gestoppt werden! Was die Welt braucht, ist Frieden und Gerechtigkeit, die Wahrung der Menschenrechte, der Schutz und Erhalt der natürlichen Ressourcen – keinesfalls aber immer mehr Sozialabbau, immer mehr Waffen und immer mehr Militär!

Die Welt braucht Frieden!“

Das Motto unseres Antikriegstags in Freudenstadt und des DGB ist: „Die Welt braucht Frieden!“ Ja, die Welt braucht Frieden, schon deshalb, weil die Menschheit überleben will. Laut Angaben des Hamburger Friedensforschungsinstituts AKUF tobten im Jahr 2022 28 bewaffnete Konflikte und Kriege, vor allem in Afrika und Asien, zudem in Kolumbien in Südamerika und in der Ukraine in Europa. [4]

Dabei hilft Waffengewalt keinesfalls weiter. Um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands zu stoppen und die Besatzer aus dem Land zu jagen, haben die USA mit fast allen anderen Staaten der NATO Kriegswaffen in zuvor gekannten Volumen an das ukrainische Militär geliefert. Doch anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn ist die Ukraine dem Frieden nicht einen Schritt näher gekommen. Vielmehr verursacht der Abnutzungskrieg zwischen Russland und der Ukraine unermessliches Leid.

Schon jetzt sind weite Teile des Ostens und Süden des Landes zerstört, ist ein Drittel des Landes mit Landminen verseucht. Bereits nach einem Jahr waren rund 100.000 Tote auf beiden Seiten zu beklagen: jeweils rund 40.000 ukrainische und russische Soldaten, rund 20.000 Zivilistinnen und Zivilisten – mittlerweile sind es weitaus mehr.

Wir wollen, dass die Waffen schweigen! Dazu müssen nachhaltig wirkende Schritte zum Frieden eingeleitet werden!

* Zuallererst müssen wir Solidarität üben mit allen, die den Kriegsdienst verweigern. Bisher aber werden hierzulande russische Kriegsdienstverweigerer in Asylverfahren in der Regel abgelehnt. Wir fordern von Deutschland generellen Schutz und Asyl bei Kriegsdienstverweigerern aus Russland, aus Weißrussland und aus der Ukraine. Denn die Ukraine hat das Recht auf KDV mit Beginn des Krieges ausgesetzt.

* Die russischen Truppen müssen sich aus der Ukraine zurückziehen, die territoriale Integrität des Landes muss wieder hergestellt werden.

* Zu Recht erklärt der DGB in seiner Stellungnahme zum heutigen Antikriegstag: „Wir warnen aber eindringlich vor dem Irrglauben, immer mehr Waffen für die Ukraine würden zu einem schnelleren Ende des Krieges führen. Und wir warnen vor der einseitigen Fixierung der Debatte auf Waffenlieferungen und ein Denken in den Kategorien ‚Sieg‘ oder ‚Niederlage‘.“ Denn: „Mit Waffen lässt sich kein Frieden schaffen!“ [5] Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen für diese klare Stellungnahme!

* Wie also kann die Lösung aussehen? Die Ukraine und Russland sollten sich schnellstmöglich ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch setzen. Eingeladen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen auf neutralem Boden, in Genf oder Wien. Dort muss ein Modell der Neutralität der Ukraine mit Schutzgarantien der UN, der NATO und Russlands ausgehandelt werden.

Lasst uns noch weiterdenken:

* Die Menschenrechte müssen weltweit wieder geachtet und für alle Menschen umgesetzt werden.

* Eine neue Phase der Abrüstung und Entmilitarisierung muss eingeleitet werden, die an die Erfolge der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts anschließt. Für die kommenden Jahrzehnte müssen neue Friedensverträge im Bereich der konventionellen und atomaren Abrüstung geschlossen werden.

* Nie wieder darf sich die Menschheit auf Kriege und Bürgerkrieg einlassen. Aus der umfassenden unwiderlegten Studie „Why Civil Resistance Works“ der beiden US-Forscherinnen Erika Chenoweth und Maria Stephan lernen wir: Ziviler Widerstand ist wesentlich erfolgreicher als militärischer. „Gewaltfreie Revolutionen in Afrika, Asien, Amerika oder Europa waren bisher häufiger von Erfolg gekrönt als bewaffnete. Zudem starben beim Widerstand ohne Waffengewalt weit weniger Menschen, auch erlitten viel weniger Traumatisierungen.“ [6]

Wir fordern: Die Welt braucht Frieden! Schaffen wir diesen Frieden: in Europa, auf der ganzen Welt!

Für die Zeitenwende der Zeitenwende

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

um mich herum finden sich Menschen, die abgrundtief enttäuscht sind vom gnadenlosen Roll-Back in die Zeit der Blockkonfrontation, der Aufrüstung und Militarisierung. Nicht wenige von ihnen wollen sich abschotten, sich in die vermeintlich heile Welt des Privaten zurückziehen.

Aber jetzt ist nicht die Zeit, um sich still und leise ins Privatleben zurückzuziehen. Nicht die Zeit, um die nächste Urlaubsreise mit Flügen auf die Kanaren oder auf die Malediven zu planen. Nicht die Zeit, um in die virtuelle Welt der Computerspiele zu flüchten. Und auch nicht die Zeit, um gefrustet ins politische Nirwana abzutauchen.

Angesichts der dramatischen Lage in Deutschland, in Europa und in der Welt brauchen wir jede und jeden von Ihnen und euch, um diesen destruktiven Entwicklungen mutig und kraftvoll und lautstark entgegenzutreten. Jetzt ist die Zeit gekommen zum aktiven Handeln, zur vehementen Einmischung in die politischen Diskussionen auf allen Ebenen, zum gewaltfreien und kreativen Widerstand gegen die Zerstörung unseres Planeten.

Deshalb, liebe Freundinnen und Freunde: Lasst uns gemeinsam die Zeitenwende der Zeitenwende ausrufen!

Und damit die Abkehr von der militärischen hin zur zivilen und sozialen und damit gerechten Zeitenwende!

Ja, die Aufgabe, die vor uns liegt, ist gewaltig: In den kommenden Jahren und Jahrzehnten müssen wir uns selbst und auch unseren Kindern und Enkeln viel Engagement und Kraft abverlangen. Denn freiwillig werden Militär und Rüstungsindustrie und ihre politischen Protegés nicht von ihrer durchaus lukrativen und profitablen Kriegspolitik abwenden.

Allein in Deutschland muss die Politik monetäre Mittel im Umfang von mehreren hundert Milliarden Euro anders investieren. Geld, das zukunftsgerichtet und damit wesentlich sinnvoller eingesetzt wird für die Bekämpfung der Armut und des Hungers, für Frieden und Gerechtigkeit, für Soziales, Pflege und Bildung. Geld, das wir in einem harten Verteilungskampf dem Militär und der Rüstung entziehen müssen.

Zum Schluss, liebe Freundinnen und Freunde, will ich auf das so wichtige Szenario der Badischen Landeskirche – „Sicherheit neu denken“ – verweisen. Wir müssen dieses Konzept bundesweit bekannt machen und mit aller Kraft umsetzen. Dieses Szenario weist den Weg „von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“. Es zeigt in realistischen Schritten, „wie Deutschland analog dem Ausstieg aus der Atom- und Kohleenergie bis zum Jahr 2040 die militärische Aufrüstung überwinden könnte“. [7]

Damit wir all diese Ziele erreichen, müssen wir handeln – jetzt handeln! Denn wir wollen unseren Kindern und Kindeskindern eine friedlichere, gerechtere und damit bessere Welt hinterlassen!

Vielen Dank.

Quellen:

[1] Siehe https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen

[2] Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/

[3] Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/257221/umfrage/veraenderungen-der-atomkriegsuhr/

[4] Siehe www.akuf.de für 2022

[5] Aufruf des DGB: „Antikriegstag 2023: Die Welt braucht Frieden!“

[6] Grässlin, Jürgen: Einschüchtern zwecklos. Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann, München 2023, S. 336 und S. 365

[7] Siehe https://www.ekiba.de/infothek/arbeitsfelder-von-a-z/frieden-gerechtigkeit-2/kirche-des-gerechten-friedens/szenario-sicherheit-neu-denken/

Text: Jürgen Grässlin
Bild: Samantha Staudte. Grässlin ist in der Bildmitte zu sehen.

Jürgen Grässlin ist laut SPIEGEL (1/2023) der „bekannteste Pazifist und Rüstungsgegner des Landes“. Er ist Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Aktivist der Kritischen Aktionär*innen Daimler und Heckler & Koch sowie Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) mit dem GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller. Mit seinem aktuellen Buch „EINSCHÜCHTERN ZWECKLOS“ ist er derzeit und ab Herbst 2024 auf Lesereisen. Grässlin wurde mit bislang zehn Preisen für Frieden, Zivilcourage, Menschenrechte und Medienarbeit ausgezeichnet, u.a. mit dem Aachener Friedenspreis, dem Menschenrechtspreis von Amnesty International und dem Grimme-Medienpreis.

Ein Kommentar

  1. Petra Gutenthaler

    // am:

    Herr Grässlin hat Recht, die Welt braucht Frieden.

    Allerdings finde ich seine Vorschläge, wie es zu solch einem Frieden kommen soll zu unspezifisch. Ja teilweise sogar weltfremd.
    Auch mag ich seine populistische Art nicht.
    Schön hier zu sehen:

    „Damit wird die Bundeswehr – nach den USA, China und Russland – zur viertstärksten Armee der Welt aufsteigen.“

    Selbst mit dem einmaligen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, wird die Bundeswehr weder personell noch materiell zur viertstärksten Armee der Welt werden. Auch wird sie dadurch nicht zu einer Atommacht, wie die drei genannten Armeen.
    Diese Aussage werte ich als reinen Populismus!

    Gerne verweist er in seiner Argumentation auf die Studien von Frau Chenoweth. Allerdings basieren ihre Studien hauptsächlich auf Konflikten innerhalb von Staaten und weniger auf Kriegen zwischen Nationen.
    Die Geschichte zeigt vor allem eines, Kriege werden nicht durch Verhandlungen, sondern auf dem Schlachtfeld entschieden.
    Die allermeisten Kriege wurden militärisch entschieden. Verhandlungen kamen erst, nach dem eine militärische Entscheidung herbeigeführt wurde.
    Beispiele gibt es viele: Zweiter Weltkrieg – bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht
    Korea Krieg – militärische Patsituation, Verhandlungen führten zur Teilung des Landes und Spannungen bis heute.
    Vietnam Krieg – Sieg der Vietcong und Abzug der US Streitkräfte

    Nun konkret zu seinem Vorschlag, die Parteien sollen sich ohne Vorbedingungen auf neutralem Boden zusammensetzen.
    Halte ich für zu realitätsfern. Aktuell haben beide Seiten kein Interesse daran, da sie militärisch mehr erreichen können als durch Verhandlungen.
    Würde der Westen nun seine Waffenlieferungen einstellen, so wäre Russland in der Lage die Ukraine militärisch einzunehmen.
    Dann hätte Putin noch weniger Grund zu verhandeln, da er militärisch sein Maximalziel erreichen kann. Bei Verhandlungen hingegen müsste er Kompromisse und Zugeständnisse machen.
    Auch sehen wir, in Belarus, dass der gewaltlose Widerstand bisher absolut nichts bringt. Im Gegenteil der Einfluss Moskaus wird dort immer größer.

    Es gibt leider nun einmal Konflikte, welche sich nur mit Gewalt lösen lassen, so schlimm dies auch ist.
    Selbst Herr Grässlin musste in einem Spiegel Interview schon zugeben, dass die Anwendung von Gewalt hin und wieder nötig ist.
    So wurde er gefragt, ob er es in Ordnung fand, dass die niederländischen UN-Truppen das Massaker von Srebrenica nicht mit Waffengewalt verhindert haben.
    Hier musst er dann zugeben, dass man nicht einfach zuschauen soll, wenn Menschen einfach hingerichtet werden.
    Nichts anderes würde in einer von Russland besetzten Ukraine passieren. Wir sehen es in den vielen Berichten aus den aktuell besetzten Gebieten.

    Daher halte ich seine Vorschläge für nicht funktional.

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