
Für viele ist der frei zugängliche Seeuferweg Richtung Hörnle längst eine Selbstverständlichkeit. Doch das war nicht immer so. Der damalige Konstanzer SPD-Gemeinderat und DGB-Vorsitzende Erwin Reisacher (1924–1993) sorgte vor fünfzig Jahren mit dafür, dass das Seeufer der Bevölkerung mittlerweile ohne Unterbrechung durch eingezäunte Privatgrundstücke frei zur Verfügung steht. Ein Rückblick.
Der 1. Mai 1975 ging in die Konstanzer Geschichte ein und sorgte auch überregional für großes Aufsehen in den Medien. Rund 120 Menschen zogen nach der Maikundgebung mit roten Fahnen entlang der Seestraße Richtung Horn und sangen sozialistische Lieder. Aufgerufen dazu hatte Erwin Reisacher. Die DemonstrantInnen ignorierten die Absperrung am Yachthafen und marschierten teilweise durch die privaten Vorgärten. Ihr Schlachtruf war eindeutig: Für ein freies Seeufer! Da war Ärger programmiert.

„Das Bodenseeufer gehört allen“
So überschrieb Erwin Reisacher die Geschehnisse später in seinem lesenswerten Buch „Steinige Wege am See. Erinnerungen eines Gewerkschaftssekretärs und Kommunalpolitikers“. Lange schon hatte er immer wieder gefordert, „das Bodenseeufer für die Bevölkerung zu erschließen“ und berief sich dabei u.a. auf das Badische Wassergesetz von 1899, in dem es hieß, „dass an öffentlichen Gewässern die Nutzung durch private Seeanlieger ausgeschlossen (sei), soweit diese über den Allgemeingebrauch hinausgeht. Der Bodensee war ein solches öffentliches Gewässer, folglich dürfte den wenigen privaten Seeanliegern kein größeres Nutzungsrecht zustehen, als jedem anderen Bürger auch“.
Reisacher wusste natürlich genau, mit wem er sich anlegte: „Entlang der Konstanzer Bucht wohnten ja Familien mit klangvollen Namen und großem Einfluss wie Dr. Hans Constantin Paulssen, der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Arbeitgeberverbände (und während der NS-Zeit Wehrwirtschaftsführer, Anm. Red.), die Unternehmer Kautz, Tschischack und Veeser sowie die Nachkommen des sagenumwobenen Kommerzienrates Stiegeler. Auch die Familie des einflussreichen Stadtrats Ellegast hatte Privatbesitz an der Mozartstraße (…). Diese großen Namen wirkten wie ein Bollwerk gegen jede Veränderung“.

Wasserschlauch und Polizeieinsatz
Teil dieses Bollwerks war der Verleger Herbert Tschischack, auf dessen privatem Grundstück die Demonstrantenschar jäh und unfreundlich gestoppt wurde. Der Hausherr stürmte höchst erregt und tobend auf die Gruppe zu und bespritzte sie mit seinem Gartenschlauch. Ein Handgemenge entstand, bei dem Tschischack leicht am Kopf verletzt wurde, und kurz darauf war auch schon die Polizei zur Stelle. Reisacher erklärte sich verantwortlich für die Uferbegehung, was so auch ins polizeiliche Protokoll aufgenommen wurde. Danach ging es für die Demonstrierenden weiter Richtung Horn, teilweise auch auf öffentlichen Wegen, und endete schließlich im Garten der Gaststätte Waldhaus Jakob, wo, so Reisacher zurückblickend, „der Wirt Stark uns in Minutenschnelle mit Bier, Limonade und heißen Würstchen versorgte. Alle waren frohgemut und freuten sich über den gelungenen Tag“.
Prozess und Solidarität
Wegen „Hausfriedensbruch“, „Sachbeschädigung“ und „Körperverletzung“ musste sich Reisacher zusammen mit dem SPD-Stadtrat Egenolf Löhr einige Monate später vor Gericht verantworten. Erwin Reisacher wurde zu einer Geldstrafe von 1600 Mark verurteilt, Löhr erhielt einen Freispruch. Das Urteil schlug bundesweit und auch in der benachbarten Schweiz hohe Wellen. Aber an nur einem Tag trugen sich 2400 BürgerInnen in eine Solidaritätsliste ein, in der der Richterspruch als „politisch motiviertes Fehlurteil“ bezeichnet wurde.

Innerhalb kürzester Zeit sammelte die rasch gegründete „Bürgeraktion Seeuferweg“ über 3000 Mark. Auch das DGB-Ortskartell, der Kreisvorstand, der SPD-Ortsvorstand und andere Gruppierungen solidarisierten sich mit ihm, schrieb Reisacher in seinem Buch. Was ihn allerdings lange schmerzte: Aus seiner Konstanzer SPD-Fraktion verweigerten ihm Erich Hohwieler und Karl Wagner ihre Unterstützung für seine Aktion.
Der Popularität Reisachers hat das nicht geschadet. Bei den kurz darauf anstehenden Kommunalwahlen wurde er mit dem zweitbesten Stimmergebnis aller KandidatInnen wieder in das Konstanzer Stadtparlament gewählt.
Was lange währt

Der öffentliche Seeuferweg in der durchgehenden Länge wurde erst 1983 vom Gemeinderat beschlossen, gegen die Stimmen der Grünen, die das Seeufer vor angeblichen Schäden bewahren wollten. Auch um juristische und zeitraubende Auseinandersetzungen mit halsstarrigen Grundstücksbesitzern zu vermeiden, ließ die Stadt das Gelände vor deren Anwesen einfach aufschütten. Auch das hatten Reisacher und andere schon Jahre zuvor angeregt. 1985 dann waren die letzten Lücken zwischen Yachthafen und Horn geschlossen und so entstand der öffentliche Seeuferweg, wie wir ihn heute kennen und schätzen.
Erwin Reisacher starb unerwartet früh am 31. August 1993, kurz vor Erscheinen seines Buches. Zwei Jahre später lehnte es der Gemeinderat mit knapper Mehrheit ab, den Seeuferweg in „Erwin-Reisacher-Weg“ umzubenennen. Vor allem in konservativen Kreisen galt Reisacher spätestens seit dem Uferspaziergang als „Aufrührer“ und „Gesetzesbrecher“. Diese posthume Ehrung hätte der couragierte Sozialdemokrat aber allemal verdient.
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Die zitierten Passagen stammen aus Erwin Reisachers leider vergriffenem Buch „Steinige Wege am See“, erschienen 1994 in der Schriftenreihe des Arbeitskreises für Regionalgeschichte Bodensee e.V., Band 11. Dank an den Konstanzer Historiker Werner Trapp für seine zusätzlichen Informationen zum Thema.
Text: Holger Reile.
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