
In der deutschen Orchesterlandschaft geht die Angst um, denn an der Kultur wird tatkräftig gespart, so dass manche Orchester in ihrer puren Existenz bedroht sind. Wie lassen sich nach Meinung von Gabriel Venzago mehr Menschen für einen Konzertbesuch begeistern und wie unterscheiden sich Konzertsaal und Opernhaus aus Sicht eines Dirigenten?
Teil 3/3, Teil 1 finden Sie hier, Teil 2 hier.
seemoz: Alle Jahrzehnte wieder erklingt in einer Finanzkrise der Mahnruf, die klassischen Orchester sollten endlich in die Mitte der Gesellschaft (wo auch immer die sei) rücken. Wie soll das gehen?
Venzago: Diesen Mahnruf höre ich nicht nur in den Krisen. Orchester müssen greifbarer Teil der ganzen Gesellschaft sein. Denn unsere Musik geht alle an! Diese Notwendigkeit müssen wir alle transportieren! Ich kann und will mich nicht einfach nur hinstellen und dirigieren. Unsere Arbeit und unsere Programme müssen vermittelt werden, denn sonst gehen sie Dich und mich nichts an.
Ich bin zum Beispiel Fan von Gesprächskonzerten. Hier kann ich ausführen, woher Beethoven oder Stockhausen kommen und was die Keimzelle ihrer Musik ist. Ich denke, dass es zu fast jedem Stück eine Art von ungeschriebenem Programm gibt. Man muss schauen, in welchem Lebensabschnitt das Stück entstanden ist, war der Komponist vielleicht frisch getrennt oder frisch verliebt, war es eine Zeit des politischen Umbruchs? Das alles lässt sich hör- und greifbar machen. Die ersten beiden Akkorde von Beethovens „Eroica“ – Baff!, Baff! –, die in den Raum gefetzt werden, sind eine Mikro-Einleitung zu einem musikalisch-politischen Diskurs. Diese Symphonie war ursprünglich Napoleon gewidmet, dessen Namen Beethoven wütend ausradierte, als Napoleon sich zum Kaiser krönte. Beethoven ging dabei so heftig vor, dass im Titelblatt Löcher zu sehen sind.
Diese Zusammenhänge aufzuzeigen, darüber zu spekulieren und zu diskutieren, warum es uns heute noch berührt, das triggert mich. Damit kann ich jüngere, ältere, klassikferne, klassiknahe, einfach alle Menschen ansprechen, weil diese Themen jeden etwas angehen. Mehr noch – sie berühren. Konzert ist nicht nur Abschalten und Sekt in der Pause! Obwohl das manchmal ja auch schön ist.
seemoz: Eine solche Vermittlung fehlt heute noch?
Venzago: Eine solche Vermittlung gibt es, sie ist nur zu wenig bekannt. Vor knapp zwei Jahren habe ich eine Gesprächskonzertreihe bei gleichzeitiger Kinderbetreuung eingeführt. In 45 Minuten habe ich zum Beispiel den „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss auseinandergenommen. Das Orchester hat die Themen vorgespielt und ich habe das Publikum aufgefordert, sie mal nachzusingen. Das ist schwierig, weil die Melodie des „Till Eulenspiegel“ nicht ins normale rhythmische Schema passt. Wie der Till ja auch nicht wirklich in die Gesellschaft passte. Wenn Du das nicht nur im Programmheft liest, sondern live vom Orchester vorgeführt bekommst, verstehst Du das Stück auf einmal ganz anders.

Dann wird auch erfahrbar, was für ein komplexer Organismus und was für ein gesellschaftliches Modell ein Orchester sein kann, in dem Menschen aus Dutzenden Nationen sitzen und verschiedene Kulturen zusammenarbeiten. Das war für viele Zuhörer eine tolle Erfahrung. Nun müssen wir diese Reihe einstampfen, weil wir die Eintrittspreise niedrig halten wollen und damit rote Zahlen geschrieben haben. Das ist bitter! Wir suchen nach modernen Vermittlungsformen, sollen deswegen auch die Verträge der Musiker:innen den neuen Anforderungen anpassen, dürfen aber aus finanziellen Gründen nicht ausprobieren, wie man unsere Kunstform Symphonik an den Mann bzw. die Frau bringen könnte? Das ist doch absurd!
seemoz: Vielleicht hättest Du das Format auch direkt an Schulen bringen sollen? Das Theater hat ja wahnsinnig viele Kooperationen.
Venzago: Nicht nur das Theater! Wir spielen jährlich für Tausende Kinder und Jugendliche. Wir haben zahlreiche Partner. Aber auch hier bekomme ich immer wieder zu hören, wieso macht ihr nichts für die Jugend? Aber hey, wir machen das doch bereits seit Jahrzehnten. Der Wunsch nach neuen Partnern und Vermittlung aller Art kommt direkt aus dem Orchester – von unseren Musikerinnen und Musikern.
seemoz: Dafür solltet ihr dann öfter auf dem Campus-Festival spielen und mehr Crossover wagen?
Venzago: Total gern. Das Campus-Festival war ein geniales Erlebnis. Doch selbstveranstaltetes Crossover können wir uns nicht mehr leisten, das Geld reicht dafür nicht. Aber wir können in unserem Kernrepertoire, der klassischen Musik, genauso brillieren und begeistern. Darin sind wir Profis, damit wollen wir glänzen und der Gesellschaft etwas zurückgeben.
seemoz: Der Elite?!
Venzago: Was für ein Wort! Zu unseren Konzerten kann jede:r kommen, ohne Ansehen von Hautfarbe, Kleidungsstil, sozialem Status, Religion, Einkommen usw. Manche haben mehr Spaß an einer klassischen Sinfonie, wenn sie etwas darüber wissen, deswegen gibt es unsere Einführungen. Manche wollen nur die Augen schließen und in eine andere Welt abtauchen. Hochgestochen oder elitär ist das allemal nicht. Wer ist denn in der heutigen Gesellschaft „die Elite“? Wir leben in einer hoch individualisierten Gesellschaft und können uns aussuchen, was wir wollen. Nachts um drei ziehe ich mir eine Serie bei Netflix oder ein Konzert vom anderen Ende der Welt rein. Aber durch die ständige Verfügbarkeit wirkt auch vieles austauschbar. Was zählt denn noch und hat Wert? Warum lebe ich in Konstanz und nicht in Friedrichshafen oder New York? Wer bin ich denn in dieser globalisierten und individualisierten Welt?

Ich denke, dass Orchester bei der Suche nach der eigenen Identität, der inneren Existenz, einen wichtigen Stellenwert haben. Das ist „mein“ Orchester, das da spielt, das da vorn ist „mein“ Cellist. Natürlich haben wir bisher oft nur einen kleinen Teil der Gesellschaft erreicht. Aber wir könnten diesen Anteil vergrößern. Simon Rattle hat das mit „Rhythm Is It!“ vorgemacht. Das, was in Berlin funktioniert, klappt auch bei uns. Wir haben mit der Jungen Bodensee Philharmonie [in welcher Schüler:innen der Musikschule unter Venzagos Leitung klassische Werke spielen, seemoz] gezeigt, dass wir breite Bevölkerungsschichten erreichen können. Das Konzil war komplett ausverkauft und das Publikum begeistert. Wir gehen mit unserem Exzellenz-Programm in die Stadt hinein und bekommen überwältigende Zustimmung, und zwar von allen Generationen! Es ist unsere Stärke, Menschen, die ansonsten keinen Kontakt hätten, zusammenzuführen, um gemeinsam Abende zu erleben. Bei schönsten Klängen kann man bei uns Herz, Kopf, Fantasie und Seele beflügeln.
Ich habe auch noch einen ganz persönlichen Wunsch. Bevor man sagt, Konstanz braucht die Philharmonie nicht, kommt doch mal vorbei, hört uns zu und redet mit uns. Danach könnt ihr gerne laut über uns reden!
seemoz: Worin liegt denn, wie man heute gern so falsch sagt, die DNA des Konstanzer Orchesters?
Venzago: Wir sind extrem flexibel und können alles spielen. Von Mozart über die Romantik bis hin zu Taylor Swift. Mein Ziel ist es, den Stil einer Zeit kompetent spielen zu können. Ich denke, dass die DNA dieses Orchesters in der deutschen Romantik liegen muss, und dass wir von dort aus zurück in die Klassik, aber auch voraus in die Moderne blicken. Damit können wir auch Gastdirigenten mit anderen Konzepten für uns gewinnen, auch wenn wir bei Weitem nicht das zahlen können, was andernorts geboten wird.
seemoz: An der hiesigen Musikschule lernen rund 2000 zumeist junge Schüler. Sie beschäftigen sich ein paar Jahre lang mit einem Instrument oder singen und lernen dabei die klassische und romantische Musik kennen, also Eure Musik.
Venzago: Die hiesige Musikschule gehört zur Philharmonie, wir sind ein einziger sogenannter Eigenbetrieb. Darum ist auch die Junge Bodensee Philharmonie möglich, ein Jugend-Sinfonieorchester aus eigenen Kräften. Und wer einmal im Orchester gespielt oder im Chor gesungen hat und diese Kraft des gemeinsamen Musizieren gespürt hat, hält das nie wieder für überflüssig …
seemoz: … oder kommt gar auf die Idee, die Philharmonie abzuschaffen. Man müsste ja nur das hochdefizitäre Bodenseeforum dichtmachen …

Venzago: Ich schätze die Geschäftsführerin Ruth Bader sehr. Sie macht einen ganz tollen Job. Wir müssen damit aufhören, uns gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Stadt und Gesellschaft verändern sich, und wir müssen darauf reagieren. Wir haben das riesige Glück, in einem Land zu leben, in dem fast jede größere Stadt ein eigenes Orchester besitzt. Über 120 Konzert-, Theater- und Rundfunkorchester sind das in Deutschland. Das ist weltweit einzigartig. Ich bin dankbar, dass wir bei uns nicht amerikanische Verhältnisse haben, wo es nur die private Finanzierung über Sponsoren und keine staatlichen Hilfen gibt. Darauf können wir stolz sein, aber das verpflichtet auch. Meine Aufgabe als heutiger Dirigent ist es nicht nur, den Taktstock zu schwingen, sondern auch Visionen zu entwickeln, wie wir der zahlenden Gesellschaft etwas zurückgeben können.
Dass wir heute schon wieder über eine Schließung der Philharmonie diskutieren, bricht mir das Herz und lässt mich an die Decke gehen! Eine Schließung würde fast alle Mitarbeiter:innen die Existenz kosten. Wer älter als vierzig ist, bekommt keine Orchester-Stelle mehr, Schluss, aus. Wie oft muss ich das eigentlich noch wiederholen? Schließungen sind zudem brutal teuer.
seemoz: Verlässt Du gerade das sinkende Schiff und wirst deswegen Generalmusikdirektor in Mainz?
Venzago: Na hör mal, ich gehe ja nicht morgen weg aus Konstanz! So einfach wirst Du mich nicht los! Aber mir fehlt die Oper. Ich bin ein Theatermensch und liebe die Arbeit mit Sänger:innen und mit der Bühne im Allgemeinen. Ich kann in Mainz ein anderes Repertoire einstudieren, ein neues Orchester kennenlernen und bin mir sicher, dass sich beide Stellen gut befruchten werden.
seemoz: Du hast für Deine 35 Jahre gegenüber gleichaltrigen Mitabsolvent:innen – wenn es in Deinem Studium überhaupt „schon“ Frauen gab – eine relativ erfolgreiche Karriere hingelegt.
Venzago: Ja, ich bin glücklich mit meinem Weg und ja, es gibt sehr wenige Frauen auf dem Pult. Seltsam, dass wir 2025 noch immer über Dirigentinnen oder Dirigenten reden. Müssten wir nicht längst bei der Gleichberechtigung sein? Beschämend. In unserem Berufsfeld ist es eigentlich ganz leicht: Es gibt gute und schlechte Dirigierende. Egal ob Mann, Frau oder divers.
seemoz: Zum Abschluss noch ein paar schnelle Fragen. Lieblingsdirigent:in?
Venzago: Mirga Gražinytė-Tyla, Sir Simon Rattle.
seemoz: Lieblingskomponist:in?

Venzago: Natürlich (See-)Mozart.
seemoz: Lieblingswerk?
Venzago: Das, was auf dem Tisch liegt.
seemoz: Hobbies?
Venzago: Mit Dir zu Abend zu essen.
seemoz: Verrätst Du mir zum Abschluss noch ein Geheimnis?
Venzago: Ich bin neulich Mitglied des FC Bayern geworden.
seemoz: Schockschwerenot! Beim FC Bayern?!?
Aber ich bin ein höflicher Mensch, daher danke ich Dir trotzdem für dieses Gespräch.
Das Gespräch führte Harald Borges.
Bilder: Privatbesitz
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