Gabriel Venzago © Privatbesitz

Klassik nur für Alte? Dass ich nicht lache! (II)

Was tut ein Dirigent eigentlich, wenn er nicht gerade ein Konzert dirigiert? Wie erlebt Gabriel Venzago „sein“ Orchester und wie entstehen jene Abende, an denen ein Klangkörper über sich hinauswächst und einfach alles stimmt?

Teil 2/3, Teil 1 finden Sie hier, Teil 3 hier.

seemoz: Als Dirigent hast Du ungewöhnlich viel Freiheit, vor allem künstlerisch?

Venzago: Freiheit bedeutet Verantwortung. Wenn ich künstlerisch etwas behaupte, dann muss es fundiert sein. Die Noten sind geschrieben und die Freiheit entsteht in den Details, die ich interpretieren darf. Daher verbringe ich viel Zeit am Schreibtisch mit Vorarbeiten. Es kommt selten vor, dass ich mir einen Tag freinehmen kann, um mein Leben einfach mal zu genießen.

seemoz: Fehlt Dir das?

Venzago: Manchmal geht’s mir an die Nieren. Ich hatte zwischen Anfang Dezember und Mitte Februar insgesamt 30 Konzerte zu dirigieren, dazu brauche ich Kondition und Organisation. Mein Beruf ist heftig. Ich bin einerseits Manager, der für viele und vieles da sein muss, andererseits und in erster Linie aber bin ich Künstler, dem oft die Zeit fehlt, um mal wieder frei und ohne Grenzen kreativ denken zu können. Freiheit kann im Konzert nur dann entstehen, wenn man gut geprobt hat und dadurch freier Raum zum Musizieren entsteht. Damit verschwindet plötzlich auch die Ermattung, die man im Körper mit sich trägt.

seemoz: Ist der Druck für alte Hasen geringer?

Venzago: Natürlich dirigiere ich als junger Dirigent die meisten Stücke zum ersten Mal im Leben. Mein Vater hat viele dieser Stücke schon dreißig- oder fünfzigmal oder öfter dirigiert und geht entspannter auf das Podium. Vielleicht ist bei ihm der Druck aber trotzdem noch höher, weil er sich fragt, wie er das Ergebnis vom letzten Mal noch toppen kann oder warum eine bestimmte Stelle noch nie wirklich perfekt funktioniert hat. Die eine große Frage bleibt wohl auch: Wird es dieses Mal wieder klappen?

seemoz: Wie bereitest Du Dich auf ein Konzert vor?

Venzago: Am Schreibtisch und Klavier. Dann höre ich mir das Werk an. Es folgt die Analyse: Welche Form hat das Stück? Wie sind die Phrasen aufgebaut? Welche Harmoniefolgen benutzt der Komponist? Gibt es außermusikalische Einflüsse? So wird jeder Takt untersucht. Das später mit dem Orchester umzusetzen, ist verdammt schwer. Denn jede:r Musiker:in hat eine eigene Vorstellung von den Stellen. Hier ist Überzeugungsarbeit gefragt!

seemoz: Das Konzert ist dann das Sahnehäubchen auf dem Eisbecher?

Venzago: Das hängt von den Proben und der Gunst der Stunde ab! Es macht Freude, wenn die eigene Idee zu hören ist und gut ankommt. Und wenn dieses gewisse Extra hinzutritt. Wenn Du spürst, heute gehen wir an die Grenzen. Du hast die Möglichkeit, die Musiker:innen dazu zu bringen, ein noch leiseres Piano als gestern zu spielen oder eine Phrase noch runder zu gestalten. Das ist Magie! Hier berührt man die Sterne! Meine Aufgabe da vorne ist es nicht nur, ein Orchester von A nach B zu bringen, sondern in Resonanz, in Schwingung, in Drive und Flow zu versetzen.

Schau‘ Dir einmal große Dirigenten an. Wer von denen dirigiert denn schulmäßig? Kaum einer. Aber was sie alle können, ist es, eine ganz andere Ebene zu öffnen. Es geht nicht mehr darum, 1, 2, 3, 4, also das Metrum zu vermitteln, sondern da öffnet sich plötzlich ein Tor … Ich weiß nicht, ob man das lernen kann. Ich denke aber, je besser man vorbereitet ist und je freier und sicherer man sich fühlt, desto leichter kann man schwingen und Resonanzen erzeugen.

seemoz: Kannst Du das rational erklären?

Venzago: Das ist definitiv eine andere Ebene. Eine energetische. Ich glaube, dass 60 oder 80 oder 100 Individualenergien von Musizierenden diese Ebene eher erreichen können als ein diktatorischer Maestro, der die Energie aus allen heraussaugt. Bei denen brodelt vielleicht einer. Aber wenn der Platz zum Musikmachen da ist, brennen auf einmal alle. Das überträgt sich dann auch aufs Publikum, im besten Fall bis in die letzte Reihe des leider so unattraktiven Konzils.

seemoz: Inwiefern muss der Raum mitspielen?

Venzago: Das Konzert soll nicht nur ein Ort sein, an dem man sich in der Pause auf ein Glas Sekt trifft und gesehen wird, sondern die gesamte Zeit soll ein Erlebnis werden. Unser wunderbares Orchester muss doch richtig gesehen und gehört werden. Wir haben seit dieser Saison eine Konzertreihe in der Tonhalle in Zürich. Dort haben wir fast jedes Mal Standing Ovations! Wir können dort viel einfacher die Sterne berühren als in dem spröden Konzil, das einfach kein Konzertsaal ist.

Es wird immer wieder beklagt, dass wir angeblich „nur“ alte Menschen ansprechen, dabei haben wir das vielleicht farbigste Saisonprogramm der Republik. Stell Dir vor, was wir für eine Ausstrahlung haben könnten, wenn wir einen Ort hätten, an dem wir uns ausleben können.

seemoz: Wenn ihr in Zürich in der Tonhalle spielt, seid ihr also ein anderes Orchester?

Venzago: Selbst in der Turnhalle in Frickingen klingen wir wie ein anderes Orchester. Anstatt über die Abschaffung der Bodensee Philharmonie zu diskutieren, sollte man über ein Konstanzer Kulturzentrum reden! Das würde zusätzlich ganz neue Kreise anziehen, was dem Haushalt unserer Stadt echt nützen könnte. Ein Kulturzentrum für jedermann, mit schönstem Blick über den See und einem integrierten leuchtenden Konzertsaal. So teuer ist das übrigens nicht. Wir reden ja nicht über ein Opernhaus.

seemoz: Das werdet Ihr in Konstanz, zumindest in den nächsten Jahrzehnten, nicht bekommen.

Venzago: Dahinter steckt die grundsätzliche Frage, welche Rolle Kultur im Allgemeinen und die klassische Musik und ihre Orchester im Speziellen spielen. Alle sagen mir, „nimm bloß nicht das Unwort ‚Konzertsaal‘ in den Mund“. Klar, im Moment muss die öffentliche Hand sparen, und so will man schnurstracks die 0,5 Prozent des Haushalts für das Orchester killen. Was gewinnt man dadurch? Man klopft sich auf die Schultern. „Schaut, wie mutig wir sind! Wir haben etwas getan!“ Man sollte sich aber einmal ernsthaft fragen, was man mit dieser Mini-Einsparung verliert und nie mehr zurückgewinnen kann. Sparen kann sehr teuer werden!

seemoz: Du begibst Dich hier gerade gewaltig aufs Glatteis!

Venzago: Ich bin, wie vorhin erwähnt, kein BWLer. Aber andere Städte haben es vorgemacht: Ein Sinfonieorchester kann mit einem neuen Konzertsaal neue Stadtteile erschließen, Generationen zusammenbringen und neben der Kunst unglaublich viel Soziales bewirken. Kann man hier nicht mal mehr Mut haben?

Konstanz ist eine Kulturstadt und könnte die Kulturhauptstadt der gesamten Bodensee-Region sein. Das wäre auch touristisch interessant. All die Menschen, die hier eine geistige Heimat fänden, müssten schließlich auch essen gehen und übernachten. So würden sie Geld zurück in die Haushaltskassen spülen.

seemoz: Du bist beruflich viel herumgekommen, hast Du einen Ort, an den Du immer wieder gern zurückkehrst?

Venzago: Na ich muss ja jetzt sagen: die Musik! Ich bin schon ein ganz schöner Nomade, aber Salzburg ist für mich dieser Rückzugsort geworden. Mir hat auch Hildesheim sehr gut gefallen, die Menschen sind sehr herzlich, und es ist unglaublich, was sie dort für Kirchen haben, die zum Teil sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Das vermutest Du in einer norddeutschen Stadt nicht. Ich habe aber noch in keiner anderen Stadt eine so krasse Schichtentrennung erlebt.

seemoz: Das heißt, ein paar Leute dort sind Patrizier aus alteingesessenen Familien, und der Rest malocht im VW-Werk in Hannover-Stöcken oder im Stahlwerk Salzgitter?

Venzago: So etwa. Auf der anderen Seite war Hildesheim aber auch das einzige Haus, wo Hartz IV-Empfänger:innen für 30 oder 50 Cent ins Theater gehen konnten.

seemoz: Wird Konstanz ein solcher Ort für Dich werden?

Venzago: Abwarten. Die Natur hier ist unbeschreiblich und es ist faszinierend, wie viel Kunst in einer Stadt dieser Größe entsteht. Außerdem haben wir die HSG. Auch das Bewusstsein für das Klima ist toll. Nur frage ich mich, warum der Strom für die E-Autos hier so teuer ist … Aber kann eine so wunderbare Stadt ein Sehnsuchtsort werden, wenn fast jedes Jahr über die Abschaffung der Philharmonie diskutiert wird?

Das Gespräch führte Harald Borges.
Bilder aus Privatbesitz, Agenturfoto: Nikolaj Lund

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