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Tobias Kröll schreibt einen offenen Brief an den möglichen künftigen Kanzler Friedrich Merz, an Christian Lindner und alle, „die ernsthaft an einer friedens- und zukunftsfähigen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interessiert sind“. Ein Notschrei an Politik und Gesellschaft.
Bundestagswahlkampf. Ein düsterer Schatten hat sich über unsere Gesellschaft gelegt. Darunter brodelt es, wie Oskar Negt schon lange vergeblich gewarnt hatte. Mit gewaltigen Ausbrüchen ist zu rechnen, wenn nun nicht systematisch, vernünftig und gemeinsam gehandelt wird. Es ist schon sehr spät! Menschen hören sich nicht (mehr?) zu und halten sich gegenseitig für Idioten, meint der Soziologe Hartmut Rosa (1).
„Wir brauchen einen handfesten Streit um die Zukunft unsere Gesellschaft“, sagte einst Ihr Parteikollege Lothar Späth bei einer Buchvorstellung am 13. März 2000 in Berlin, Herr Merz. Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten (wie zum Beispiel von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Pierre Bourdieu, Oskar Negt, Friederike Habermann Frigga und Wolfgang Fritz Haug) hat meines Wissens nie stattgefunden. Auch in ihrem Buch „Mehr Kapitalismus wagen“, werden Sie, Herr Merz, Ihrem Anspruch in keinster Weise gerecht, „einen Beitrag zur Versachlichung und Vertiefung unserer wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion zu leisten.“ (2)
Argumente der „linken“ Gegenseite finden sich in Ihrem Buch nicht, allenfalls ein paar Seitenhiebe auf die SPD. Mehr als klischeebehaftete Vorurteile habe ich nicht gefunden. Die fundierten Argumente der vermeintlichen Gegenseite kennen Sie offensichtlich gar nicht! SPD und Grüne haben unter Gerhard Schröder (und seinem damaligen Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier) zu einem guten Teil bereits das umgesetzt, was Sie, Herr Merz, und Herr Lindner wollen.
„Das untergräbt die Fundamente der Demokratie“
Auf welcher Seite stehen Sie im Ernstfall, Herr Merz, Herr Lindner, Herr Scholz, Frau Baerbock, Frau Wagenknecht, Herr Steinmeier? Ihren guten Willen will ich Ihnen ja gar nicht absprechen, aber haben Sie sich schon einmal ernsthaft mit den Arbeiten Oskar Negts zu Demokratie beschäftigt? Ich fürchte, das haben Sie nicht.
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Das kann uns jedoch sehr teuer zu stehen kommen. Denn die Wirtschaftstheorie, auf die Sie sich beziehen, Herr Merz, Herr Lindner (und all die anderen „Real-„ Politiker und -Politikerinnen, aber auch die Volkswirtin und „Ordoliberale“ Alice Weidel) widerspricht nicht nur in ihrem Kern dem Kodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu guter Wissenschaft. Es ist viel schlimmer: Diese Ihre „Wirtschaftspolitik“ untergräbt – in Kombination mit den wirtschaftlichen Dynamiken – die Fundamente der Demokratie!
Viele Menschen reden nicht mehr miteinander und halten alle mit anderer Meinung, also alle, die anders sind, für Idioten. Die jeweils anderen „sollen das Maul halten.“ (3) Wir müssen aber miteinander im Gespräch bleiben und auch ernst nehmen, was die anderen uns sagen wollen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Das ist das ethische Fundament unserer Gesellschaft. So respektiere ich Ihre Würde als Menschen, Herr Merz, Herr Lindner, Herr Habeck, Frau Wagenknecht und von wem auch immer in der Politik. Ich respektiere auch Ihre Würde als Mensch, Frau Weidel!
Wer andere Menschen nicht in ihrer Würde oder gar als Tiere betrachtet, ist nicht in der Lage, an einer konstruktiven und nachhaltigen Lösung für Probleme mitzuarbeiten. Denn wir Menschen haben ein Spektrum an Möglichkeiten in uns, sind aber im Grunde unseres Wesens gut. Und ich sage es bewusst: wer Adolf Hitler nicht als Mensch betrachtet, wird nicht in der Lage sein, solche Verbrechen zu verhindern, für die dieser verantwortlich war.
Der Psychologe Viktor Frankl, wohlgemerkt ein KZ-Überlebender, schrieb dazu: „Menschliche Güte kann man bei allen Menschen finden, sie findet sich also auch bei der Gruppe, deren pauschale Verurteilung doch gewiss sehr nahe liegt. Es überschneiden sich eben die Grenzen! So einfach dürfen wir es uns nicht machen, dass wir erklären: die einen sind Engel und die anderen sind Teufel.“ (4)
„Wir müssen im Gespräch bleiben“
Wir müssen im Gespräch bleiben, zumindest alle Menschen, denen die Menschenwürde, der Frieden und der Erhalt unserer Lebensgrundlagen am Herzen liegen. Auch wenn es Widersprüche gibt und Ängste und gegensätzliche Positionen. Anders geht es nicht. Eine „Brandmauer“ muss zuallererst in uns selbst als einzelnen Menschen stehen und unsere humanistischen Werte schützen. Und dann müssen wir versuchen, auf vernünftige Art und Weise mit unseren Ängsten und den Widersprüchen in der Gesellschaft umzugehen, sowie mit den strukturellen Grundproblemen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems inklusive der vorherrschenden Denkweise in Dualismen und Freund-Feind-Bildern.
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Das ist eine wirklich große und harte Aufgabe für die gesamte Gesellschaft! Das gilt für alle Parteien der sogenannten Mitte, auch für eher linke Parteien und auch für diejenigen, die von den etablierten Parteien enttäuscht sind, bis hin zu jenen, die sich aus Enttäuschung, Frust und Wut vielleicht gar der Alternative für Deutschland zugewandt haben.
Wichtig sind die Menschenwürde und der Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Wenn wir uns darin einig sind, dann können wir weiterreden und müssen im Gespräch bleiben! Dann können wir versuchen, mit den offenkundigen Widersprüchen – ohne plumpen Vereinfachungen und Schein-Lösungen und einfachen Sündenbock-Bildern – umzugehen und wirkliche Lösungen für strukturelle Probleme zu finden.
Gemeinsinn statt Konkurrenz
Ich bin überzeugt: Wir brauchen dafür eine Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur, die Gemeinsinn fördert und nicht Konkurrenz, Wettbewerb und Hass, wie es die Ökonomin und Historikerin Friederike Habermann anmahnt. Anders kann es auf Dauer nicht gutgehen. Das war auch den christlichen Sozialethikern der CDU bewusst, die im Sommer 1947 das Ahlener Programm veröffentlichten und Ihren Kapitalismus, Herr Merz, als eine wesentliche Ursache der historischen Katastrophen ausmachten.
Auch Helmut Schmidt ahnte das, zumindest als er anlässlich der „geistig-moralischen Wende“ Helmut Kohls 1982 vor dem „Weg in die Ellenbogengesellschaft“ warnte. Seitdem haben alle Regierungen den Weg weiter in diese Richtung gebaut und geebnet und die Basis für „Angst-Rohstoff“ geschaffen, der „politischen Schwarzmarktphantasien“ Tür und Tor öffnet (Oskar Negt).
Die Basis dafür ist eine vermeintlich exakte Wirtschaftstheorie, deren Modelle auf einem falschen und naiven Menschenbild aufbauen. Darauf wies der neoliberale Journalist Nikolaus Piper schon vor 30 Jahren hin. Diese Wirtschaftstheorie geht implizit davon aus, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt schon haben und somit im Grunde angstfrei sind und so vollkommen frei und unbefangen an den „freien Märkten“ teilnehmen und handeln können.
Wenn Menschen aber Angst haben um ihr Überleben, ihren Lebensunterhalt und ihre Zukunft, sieht das Bild ganz anders aus. Zudem betrachten die Modelle nur „kaufkräftige Nachfrage“ und nicht die wirkliche Nachfrage, etwa nach günstigem Wohnraum oder angstfreier Bildung. Die Grundlagen der „modernen Wirtschaftstheorie“ entbehren jeglicher Praxisrelevanz! Wer andere Menschen oder Menschengruppen verachtet, kann an konstruktiven Gesprächen um die Zukunft nicht teilnehmen. Die anderen müssen Widersprüche erst einmal anerkennen, sowie die eigenen Zukunftsängste. Dann können wir reden.
„Über Jahre hinweg aufgestaut“
Ich habe Ihnen zugehört, Herr Lindner. Ich gebe Ihnen vollkommen recht mit Ihrer Aussage auf der Landwirtschafts-Demonstration am 15.Januar 2024 in Berlin, als Sie sagten: „Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie wegen des Agrardiesels hier sind. Es hat sich doch über Jahre und Jahrzehnte etwas aufgestaut.“ Es hat sich in de Tat etwas aufgestaut, nicht nur bei den Menschen aus der Landwirtschaft. In dieser Gesellschaft brodelt es! Genau davor hat Oskar Negt seit Jahrzehnten gewarnt. Es brodelt gewaltig!
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„Demokratie“, so Oskar Negt, „ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein.“ (5) Oskar Negt hat sein Leben lang die Gesellschaft analysiert und sich für (politische) Bildung eingesetzt, um zu helfen, die Wiederholung historischer Katastrophen zu vermeiden.
Leider hat „unsere Politik“ die Probleme nicht gesehen und Oskar Negt nicht ernst genommen. Und die Mehrheit der Bevölkerung hat dies auch nicht, solange es gut lief … „Und sie sägten an den Ästen, auf denen sie saßen und schrieen sich ihre Erfahrungen zu, wie man besser sägen könne. Und fuhren mit Krachen in die Tiefe. Und die ihnen zusahen beim Sägen schüttelten die Köpfe und sägten kräftig weiter.“ (Bertolt Brecht).
Immer wieder hinterfragen
Wir brauchen eine wirkliche geistig-moralische Wende um 180 Grad! Eine Wende, bei der Geist und Moral mehr sind als Floskeln. Denen mit jeweils anderen Ansichten dürfen wir nicht per se bösen Willen unterstellen. Sie haben ihre Gründe dafür. Das müssen wir zunächst anerkennen. Doch auch die eigenen Ansichten müssen hin und wieder hinterfragt werden, das gilt auch für meine Ansichten in diesem offenen Brief.
Aber bitte auf sachlicher und wissenschaftlicher Ebene! Wichtig ist immer das ethisch-moralische Fundament, Artikel 1 des Grundgesetzes, dem ich noch die „Würde der Erde“ hinzufügen möchte. Denn ohne unseren blauen Planeten werden wir nicht überleben!
Welche ethischen und moralischen Grundlagen haben Sie, Herr Lindner, Herr Merz, Frau Weidel und all die anderen? Wollen Sie uns tatsächlich auf Basis einer Wirtschaftstheorie regieren, deren wichtigste Modelle theoretisch willkürlich mit ahistorischen und unrealistischen Annahmen so konstruiert wurden, dass das gewünschte Ergebnis durch diese Annahmen vorherbestimmt ist, Herr Merz? Ist das Wissenschaft? Ist es völlig belanglos, ob die Grundannahmen Ihrer Theorie der Realität entsprechen oder nicht, wie es Ihr ehemaliger Parteifreund Joachim Starbatty in einer Vorlesung einst meinte, Frau Weidel?
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Ist das belanglos, wenn solche willkürlichen Modelle der Politik als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ präsentiert werden (6), Herr Merz, Frau Weidel, Herr Lindner, liebe Wirtschafts-Lehrerinnen und -Lehrer an den Schulen und all die anderen?
Welche Ethik vertreten Sie alle? Die sozialdarwinistische Auslese-Ethik einer vermeintlich „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, die Lothar Späth in einem „handfesten Streit um die Zukunft unserer Gesellschaft“ verfechten und verteidigen wollte? Ist das der Kern Ihrer Politik auf Basis einer Theorie mit frei erfundenen Erkenntnissen? Ist das Ihre Interpretation von Artikel 1 des Grundgesetzes?
„Der Wettbewerb, jenes Prinzip von Vorstoß und Verfolgung, also die Jagd nach der möglichst besten und preiswerten Lösung, ist das Zentrum des marktwirtschaftlichen Leitbildes. Hartmut Rosa hält dem entgegen: „Demokratie funktioniert im Aggressionsmodus nicht.“
Wachen Sie auf und springen Sie über Ihre Schatten. Wir können nur gemeinsam überleben, oder gar nicht!
Text: Tobias Kröll
Fotos der im Wahlkampf zerfledderten Plakate: Pit Wuhrer
(1) Hartmut Rosa 2022: Demokratie braucht Religion, München: Kösel, S. 43ff
(2) Friedrich Merz 2008: Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft, S. 9
(3) Hartmut Rosa 2022: Demokratie braucht Religion.
(4) Viktor E. Frankl 2020 (Orig. 1977): Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Penguin 9. Auflage, S. 129
(5) Oskar Negt 2010: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, S. 13
(6) So in einem von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft unterstützten Buch der Bundeszentrale für politische Bildung durch Jürgen Bernardo Donges 2006: Freihandel ist ein kraftvoller Wohlstandsmotor. In: Michael Hüther (Hg.) 2008):Klassiker der Ökonomie. Von Adam Smith bis Amartya Sen, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 64-67
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